Riverside Drive

Straße entlang des Hudson River an der Upper West Side Manhattans in New York. Im Haus Nr. 243 an der Ecke 96. Straße, dem »Cliff Dwelling«, Apartment No. 204, wohnt Gesine Cresspahl mit ihrer Tochter Marie. 

13 »Sie wohnt am Riverside Drive in drei Zimmern, unterhalb der Baumspitzen. Das Innenlicht ist grün gestochen. Im Norden sieht sie neben dichten Blattwolken die Laternen auf der Brücke, dahinter die Lichter auf der Schnellstraße. Die Dämmerung schärft die Lichter. Das Motorengeräusch läuft ineinander in der Entfernung und schlägt in ebenmäßigen Wellen ins Fenster, Meeresbrandung vergleichbar. Von Jerichow zum Strand war es eine Stunde zu gehen, am Bruch entlang und dann zwischen den Feldern.«

26 »Wäre sie hier geblieben, wenn nicht in der Wohnung an der Straße am Fluß? Sie wäre kaum geblieben, hätte sie nicht, ohne noch zu suchen, die schmale Anzeige gefunden, die drei Zimmer am Riverside Drive versprach, ›alle mit Blick auf den Hudson‹, zu haben auf ein Jahr für 124 Dollar im Monat.« Der Riverside Drive ist »ein Unikum in Manhattan, eine Veranstaltung von Gartenkunst, eine Straße mit Aussicht auf Bäume, auf Wasser, auf Landschaft«.

27 »Hinter den fülligen Blattwolken hielt sich das blaugraue Bild des jenseitigen Ufers, des meilenbreiten Flusses. Sie standen eine Weile gegenüber dem Haus aus gelben Steinen, um dessen Fuß ein Band exotischer Stiermuster geschlungen war. Zu wohnen an dieser Stelle schien so weit vom Griff, Gesine begann Teile ihres Geldes in Bestechungssummen aufzuteilen«.

28 Beschreibung der Wohnung: Großes Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer, Küche, Bad. Alle Fenster gehen zum Park und zum Hudson. »Im Winter ist durch das kahle Geäst das Steilufer New Jerseys zu sehen«.

52 »Die Häuser an dieser Straße, kaum eines unter zehn Stockwerken, wurden gebaut für die neue Aristokratie des neunzehnten Jahrhunderts, für das junge Geld, Eisenbahngeld, Minengeld, Erdgasgeld, Ölgeld, Spekulationsgeld, das Geld der industriellen Explosion. Riverside Drive, die Straße am Fluß, sollte die Fifth Avenue als Wohngegend übertreffen, mit seinen herrschaftlichen Eingängen, feierlichen Foyers, den Achtzimmerfluchten, den Dienstbotenkammern, versteckten Lieferantenfluren, den Angestellten in der Uniform, mit der reservierten Aussicht auf den Fluß, die wüsten Wolken Wald auf dem jenseitigen Steilufer, auf Natur. Am ganzen Riverside Drive gibt es nicht ein Geschäft, keinen Laden, nur zwei, drei Hotels, allerdings Residenzen für Dauergäste. Wo der Kommerz wohnte, wollte er von Adel sein. [...] Zu ihnen stießen nach dem ersten Weltkrieg jene Juden aus Harlem, denen die ehemals exklusiven Quartiere nicht mehr standesgemäß schienen, und die Immigranten von der unteren Ostseite der Stadt, deren Einnahmen inzwischen ausreichten für das Prestige dieser Adresse, Emigranten, die es geschafft hatten. In den dreißiger Jahren kamen die Juden aus Deutschland, anfangs mit dem Haushalt in Kisten, dann ohne Gepäck, dann aus den von Deutschland besetzten Ländern Europas, und nach dem Krieg kamen die Überlebenden der Konzentrationslager und schließlich die Bürger des Staates Israel«.

53 »Der Riverside Drive hat die Fifth Avenue nicht überflügelt als Residenz, hier wohnt nicht die Witwe des Präsidenten Kennedy. Hier wohnen die Pensionäre, die Leute mittleren Einkommens, die angestellte Klasse, Studentengemeinschaften. Hier wohnt die Gräfin Seydlitz. Hier wohnt der Schriftsteller Ellison. [...] Die meisten Häuser sind sich noch zu fein für dunkelhäutige Bürger als Mieter; Neger dürfen sie verwalten, in Stand halten, den Lift führen, das Messing putzen.«

548 »Noch im Frühjahr 1961 hatte Gesine Cresspahl eine Wohnung gefunden in New York, drei Zimmer und fünf Fenster gegen den Riverside Park, den Hudsonfluß, sie war so erleichtert, sie hielt sich für untergebracht, zur Ruhe gekommen. [...] und tat sich etwas zugute darauf, daß sie wider ihr verwegenstes Erwarten eine Wohnung zu halten vermochte an einer der berühmten Straßen der Welt, dem Riverside Drive, in den Reiseführern nicht nur vermerkt wegen alten Baumbestandes und Aussicht auf die Steilküste von New Jersey, auch mit Baulichkeiten und Denkmälern, vom Hause des ehrenwerten Charles M. Schwab, der seinem Carnegie die Regierung mit schadhaften Panzerplatten betrügen half, bis zur Gruft des achtzehnten Präsidenten der Vereinigten Staaten, Ulysses Grant, der jämmerlich dahinstarb über der Beschreibung seiner Siege im Bürgerkrieg. Es war ihr recht, daß dieser Straße die Zähne des Reichtums allmählich ausfielen, anders als den Wohlstandsburgen von Central Park West und der West End Avenue, wo die Mieter obendrein geschützt waren mit Baldachinen vor den Portalen und durch livrierte Türsteher, die nach Taxis pfeifen.«

548-549 »Um das lederfarben gelbe Haus am Riverside Drive oberhalb der 96. Straße verläuft tief unten, um das dritte von zwölf Stockwerken, ein Fries aus immer noch weißem Sandstein mit Schlangen und Tiergestein. So wenig genau hatte sie hingesehen, sie hielt es bis in den späten Sommer für Ägyptisches, und hatte ihre Fenster unter und sogar in diesem Fries, und sah oft genug zu ihnen hinauf, ob sie denn noch da wären, und nicht einmal eingeschlagen. Jetzt hatte das Land sie auch eingeholt mit dem Haus, in dem sie wohnte. Denn das Haus heißt nicht nur nach seiner Nummer, 243, es hat den Namen Cliff Apartment House, nach Arizonas Felsenbewohnern, und die Berglöwen, die Klapperschlangen, die Büffelschädel sind gemeint als ein Andenken an die Vorfahren des Pueblostammes, an das Volk der Indianer, denen ihr Land weggenommen war, ein Denkmal wie für Tote.«

1664-1668 Der Einbruch in Gesine Cresspahls Wohnung am 29. Juli 1968.

1886 Gesine Cresspahl am Tag ihrer Abreise nach Prag zu Mr. Robinson, der besorgt fragt, ob sie die Wohnung aufgeben will: »Am Klingeln des Telefons können sie hören, daß wir ein Lebensrecht behalten möchten am Riverside Drive.«

Vgl. auch 106. 145. 173. 386. 452. 574-576. 1189-1190.

Vgl. die vollständige Auflistung der Fundstellen im Register des Jahrestage-Kommentars. – Gesine und Marie Cresspahls Wohnung am Riverside Drive ist dieselbe, die Uwe Johnson selbst während seiner Tätigkeit als Lektor für den Verlag Harcourt, Brace & World (1966/67) und des gleich anschließenden, von der Rockefeller Foundation unterstützten Aufenthalts in New York 1967/68 bewohnte; vgl. dazu »Begleitumstände« (1980), S. 410 f. – Der Fries und die ihm zu verdankende Bezeichnung des 1914 von Herman Lee Meader (1874-1930) gebauten Hauses (Cliff Dwelling Apartment House) gemahnen an die prähistorischen Höhlenbauten der Pueblo-Indianer, die Cliff Dwellings, im Südwesten Nordamerikas. Zu den bekanntesten zählen die Gila Cliff Dwellings aus dem 13. bis 14. Jahrhundert, heute ein National Monument in New Mexico.