Rahel (Mami)

Die »süßäugige Rahel« (IV, 148) ist die jüngere der beiden Töchter Labans, Schwester Leas, Mutter Josephs und Benjamins und – dies vor allem – Jaakobs »Rechte und Liebste, seines Auges Wonne, seines Herzens Schwelgerei, seiner Sinne Labsal« (IV, 165). Der Erzähler sieht sie ganz mit Jaakobs Augen, den Augen des Liebenden ohne Maß. Gleich zu Beginn, als Jaakob »seines Herzens Schicksal« zum ersten Mal sieht (IV, 226), ist es um beide – um Jaakob wie um seinen Erzähler – geschehen. Da ist sie zwölf Jahre alt und treibt die Schafe ihres Vaters zum Brunnen: Jaakob sieht eine zierliche Gestalt in einem lose herabhängenden Kleid herankommen, das die »rührende Schmalheit und Feinheit« ihrer Schultern ahnen lässt. Ihr schwarzes, »eher verwirrt als lockig« sitzendes Haar ist »fast kurzgeschnitten, jedenfalls kürzer, als Jaakob es zu Hause bei Frauen je gesehen« (IV, 227). Ihr im Näherkommen erkennbar werdendes Gesicht entlockt dem Erzähler begeisterte Ausrufe und Fragen: »Was für ein liebliches Gesicht! Wer beschriebe seinen Zauber? Wer legte das Zusammenspiel süßer und glücklicher Fügungen auseinander, aus denen das Leben, da- und dorthin ins Erbe greifend und unter Zutat des Einmaligen, die Huld eines Menschenantlitzes schafft [...]?« Hübsch und schön sei sie, und dies auf »zugleich pfiffige und sanfte Weise, von der Seele her, man sah – und auch Jaakob sah es, denn ihn sah sie an –, daß Geist und Wille, ins Weibliche gewendete Klugheit und Tapferkeit hinter dieser Lieblichkeit wirkten und ihre Quelle waren: so voller Ausdruck war sie und schauender Lebensbereitschaft« (IV, 228). Am meisten aber hat es beiden ihr Blick angetan, der »durch Kurzsichtigkeit eigentümlich verklärte und versüßte Blick ihrer schwarzen […] Augen«, in den die Natur – »ohne Übertreibung gesagt«, versteht sich – »allen Liebreiz gelegt hatte, den sie einem Menschenblick nur irgend verleihen mag, – eine tiefe, fließende, redende, schmelzende, freundliche Nacht, voller Ernst und Spott« (IV, 228). Dass Rahel diese Augen von ihrem Vater geerbt hat und also Labans, »dieses Unterweltsteufels« Augen in den Augen seines Kindes »lieblich geworden waren« (IV, 267), erkennt Jaakob mit »gemischten Gefühlen« (IV, 234). Dass Josephs Augen ganz die seiner Mutter sind, stellt er wieder und wieder mit Rührung fest. Beim Wiedersehen mit dem verloren geglaubten Sohn sind es Rahels Augen, an denen er ihn wiedererkennt (vgl. V, 1740). Josephs Sohn Ephraim erbt die »Rahelsaugen« von seinem Vater (V, 1780).

Nicht nur Jaakob, auch Rahel weiß von der ersten Begegnung an, dass sie einander zugehören (vgl. IV, 254), und die lange Wartezeit von sieben Jahren, die Laban ihnen auferlegt, treibt ihr oft »Tränen der Ungeduld« (IV, 308) in die Augen, die Jaakob ihr von den Lidern küsst (vgl. IV, 277 u.ö.). Sie schmerzt das Warten mehr als ihn, »denn die Zeit war ihr länger und kam ihrer Seele härter an, da sie nicht hundertundsechs Jahre alt werden sollte, sondern nur einundvierzig, so daß sieben Jahre mehr als doppelt so viel waren vor ihrem Leben wie vor seinem« (IV, 276).

Dass Jaakob dann dank Labans Betrug in der Hochzeitsnacht nicht nur sie, sondern auch und sogar zuerst Lea zur Frau bekommt, ist für Rahel – ganz anders als für ihn – durchaus selbstverständlich, denn dass er beide heiraten würde, war in Labans Familie von Anfang an »stillschweigend-allgemeine Auffassung« (IV, 255). Konkurrenz mit der älteren Schwester entsteht eher bei der Frage, »wer von ihnen dem Vetter-Gatten die bessere, tüchtigere, fruchtbarere und geliebtere Frau sein werde« (ebd.), und die Antwort fällt geteilt aus: Jaakobs Liebe gehört in ihrer »zügellos-einseitig[en]« Ausschließlichkeit (IV, 287) von Anfang an allein Rahel, Lea aber erweist sich als die weitaus gebärtüchtigere von beiden, bekommt einen Sohn nach dem anderen, während Rahel zu ihrem Kummer lange warten muss, ehe sie schwanger wird. Auf Labans Betreiben muss ihre Magd Bilha, der Landessitte gemäß, als ›Ersatz‹ für sie eintreten und bringt Dan und Naphtali zur Welt. Danach kann sie, »notdürftig zu dem Ihren gekommen«, ihre Eifersucht auf Bilha nicht mehr unterdrücken und duldet keinen weiteren Umgang mehr zwischen ihr und Jaakob (IV, 326). »So hatte Rahel in Gottes Namen zwei Söhne.« (IV, 324) Aber sie hat sie nur nach den »Ehrenannahmen der Sitte«, die »wenig auszurichten vermögen gegen das dunkle und schweigende Ehrgewissen der Tiefe, das sich nicht betrügen läßt von den hellen Fiktionen des Tages« (IV, 844). Erst »im dreizehnten Ehejahr oder im zwanzigsten Charranjahr« (IV, 246), mit 32 Jahren (vgl. IV, 377), bringt sie ihr erstes eigenes Kind zur Welt, Joseph, »Dumuzi, den echten Sohn« (IV, 345). Es ist eine überaus schwere Geburt, die sie fast das Leben kostet (vgl. IV, 346 f.).

Da das Kind im Zeichen der Jungfrau geboren wird, versteift Jaakob sich darauf, in Rahel »eine himmlische Jungfrau und Muttergöttin zu sehen, eine Hathor und Eset mit dem Kind an der Brust – in dem Kinde aber einen Wunderknaben und Gesalbten, mit dessen Auftreten der Anbruch gelächtervoller Segenszeit verbunden war« (IV, 349). Der kleine Joseph nennt seine Mutter »Mami«, das ist der »irdisch-trauliche Name« der babylonischen Muttergöttin Ischtar (IV, 103).

Bei der Flucht aus Naharina stiehlt Rahel »in lieblicher Einfalt und Durchtriebenheit« die Teraphim ihres Vaters, »damit sie ihm nicht Auskunft gäben über die Pfade der Flüchtigen« (IV, 362 f.). Denn in Glaubensdingen sieht es »in ihrem Köpfchen […] verworren aus«: Aus Liebe zu ihrem Mann dessen ›höchst-einzigen‹ Gott zugetan, ist sie doch »im geheimen Herzen« immer noch »götzendienerisch und dachte zum mindesten: Sicher ist sicher« (IV, 363). Als Laban die Flüchtigen einholt und ihr Lager nach seinen Götzenbildchen zu durchsuchen beginnt, versteckt sie ihr Diebesgut unter der Streu ihres Kamels, setzt sich darauf, gibt ihrem Vater zu wissen, dass sie nicht aufstehen könne, weil sie »unmustern« sei, und schaut ihm bei seiner schweißtreibenden Suche zu, ohne mit der Wimper zu zucken (vgl. IV, 372 f.).

Kurz vor der »Schekemer Schreckenstat« der Lea-Söhne (IV, 380) und der anschließenden Flucht von Schekem nach Hebron wird die nun 41-jährige Rahel erneut schwanger (IV, 377). Sie ist »froh bereit, alles auszustehen, was sie damals ausgestanden, um der Mehrung und ihrer weiblichen Ehre willen« (IV, 378). Aber die »Tragödie Rahels, der Rechten und Liebsten, ist die Tragödie der nicht-angenommenen Tapferkeit« (IV, 376): Sie kommt noch auf der Reise nach Hebron, am Wegesrand zwischen Beth-el und Bethlehem, nieder, bringt unter Qualen Benjamin zu Welt und stirbt. Jaakob hatte trotz seiner Sorge um die Hochschwangere über Gebühr lange in Beth-el, der Stätte seiner »Haupterhebung«, verweilt, statt auf direktem Wege nach Hebron zu ziehen, »das bei stetiger Reise in vier oder fünf Tagen zu erreichen gewesen wäre; und wäre wirklich Rahel auch dort gestorben, so wäre es wenigstens nicht so hilflos und arm am Wegesrande geschehen« (IV, 381). Sie möchte das Kind Ben-oni nennen, »Sohn des Todes«, doch Jaakob besteht weinend auf dem Namen Ben-Jamin, »Sohn der einzig Rechten« (IV, 387).

Seine im Angesicht der sterbenden Rahel an den Himmel gerichtete Frage »Herr, was tust du?« weiß der Erzähler zweifelsfrei zu beantworten: Rahels »dunkles Los« sei die Antwort Gottes auf Jaakobs »Abgötterei«, auf sein »zügellose[s] Gefühl« für Rahel, eine »Eifersucht reinsten Wassers […] auf die Gegenstände des abgöttischen Gefühls, in welchen es rächend getroffen wurde« (IV, 320). Jaakob aber lässt sich durch Rahels Verlust »sein teures Gefühl, diese selbstherrliche Vorliebe durchaus nicht entreißen«, sondern überträgt sie, »als wollte er dem Waltenden beweisen, daß er durch Grausamkeit nichts gewönne, in ihrem ganzen üppigen Eigensinn auf Rahels Erstgeborenen, den neunjährigen, bildschönen Joseph« (IV, 377). Der siebzehnjährige Joseph weiß davon und erklärt seinem kleinen Bruder: »Aber ich weiß, daß es Mami ist, die er liebt in mir, weil ich lebe, sie aber tot ist, – da lebt sie ihm nun in anderer Beschaffenheit. Ich und die Mutter sind eins. Jaakob aber meint Rahel, wenn er auf mich blickt, wie die Leute des Landes die Nana meinen, wenn sie den Tammuz Herrin heißen.« (IV, 458) Später wird er verstehen, dass auch sein Leiden »– was immer sonst noch Weittragendes damit bezweckt sein mochte – die Strafe gewesen war für Jaakobs stolzes Gefühl, die Nachahmung einer majestätischen Erwählungslust, die nicht geduldet worden war, – eine höchste Eifersuchtshandlung, die sich gegen den armen Alten gerichtet hatte. Insofern galt Josephs Heimsuchung nur dem Vater und war nichts als die Fortsetzung derjenigen Rahels, die allzusehr zu lieben Jaakob nicht aufgehört hatte, nämlich im Sohne.« (V, 1135 f.)

Vorbild für die Gestaltung der Figur, für ihre tiefschwarzen Augen zumal, war unverkennbar Katia Mann.

Letzte Änderung: 13.10.2015  |  Seitenanfang / Lexikon   |  pfeil Zurück