Clarisse

Clarisse ist das »genialste Werk« ihres Vaters, des bekannten Malers und Ausstatters van Helmond (70., 291). Mit 22 Jahren (drei Jahre vor Beginn der Erzählung) hat sie Ulrichs Jugendfreund Walter geheiratet. Ulrich besucht das Paar öfter, ihre Ehe hat einen dramatischen Charakter. Walter beobachtet Clarisse und Ulrich eifersüchtig und erklärt, Ulrich sei doch nur ein Mann ohne Eigenschaften: »Nichts ist für ihn fest« (17., 64 f.). »So ein Mensch ist doch kein Mensch!«. Darauf Clarisse: »Das sagt er doch selbst.« (65)

»Clarisse und ihre Dämonen« ist das Kapitel 38 überschrieben, in dem Walter und Clarisse entfesselt zusammen Klavier spielen. Clarisse schlägt in einem Brief an Graf Leinsdorf vor, ein Nietzschejahr zum österreichischen Jubiläum zu veranstalten und etwas für den Mörder Moosbrugger zu tun, weil er mit Nietzsche die Geisteskrankheit gemeinsam habe (56., 226).

Später kommt Clarisse zu Ulrich, »um ihm eine Geschichte zu erzählen« (Kap. 70): Als sie 15 Jahre alt war, hatte sich ihr Vater in ihre Freundin Lucy Pachthofen verliebt. Nach der Trennung von Lucy war er eines Nachts zu ihr gekommen; sie konnte ihn verstehen, wusste aber den drohenden sexuellen Übergriff des Vaters zu verhindern (70., S. 291 f.).

Ulrich macht Clarisse Vorwürfe wegen ihres Briefes an Graf Leinsdorf. Sie treibt die Absurdität auf die Spitze, indem sie ein »Ulrich-Jahr« vorschlägt. Sie redet wie in Trance, »sie war abwesend und anwesend« (82., 354 f.); weil Ulrich ihrem Mann im Weg ist, habe sie ihm geraten, Ulrich zu töten.

Clarisse scheint sich zunehmend zu verwirren, doch wird ihr Innenleben aus ihrer eigenen Sicht geschildert. Sie erinnert sich an kleine sexuelle Übergriffe in der Kindheit, an ihr Muttermal in der Leistenbeuge, bei dem der Vater Halt machte. Muttermal und Mutter verbinden sich, und sie meint, dass sie vielleicht »Gottesmutter« werden solle (97., 444).

Später spielt sich »eines jener ›fürchterlichen‹ Erlebnisse ab, an denen diese Ehe so reich war« (606). Clarisse will Nietzsche lesen, Walter an einer Kundgebung gegen die vaterländische Aktion teilnehmen. Die Diskussion darüber, wer gehen oder bleiben soll, wird zu einem Streit über Walters Wunsch nach einem Kind und Clarisses vehemente Ablehnung. »›Sie ist wahnsinnig!‹ fühlte Walter« (614). Nach einigem Wagner-Klavierspiel kommt er zu den Schluss, dass sie beide in einem unzurechnungsfähigen Zustand gewesen seien (613).

Am Abend desselben für ihn ereignisreichen Tages findet Ulrich Clarisse in seinem Haus vor. Sie weiß, dass Walter sie für verrückt hält, »sobald sie etwas von ihrer höheren Einsicht in ihrer beider Zustand merken ließ« (123., 656). Nun will sie das Kind von Ulrich und erklärt, Walter würde sie durch ein Kind beherrschen wollen (657). Sie zitiert Ulrich, der gesagt habe, der Zustand, in dem wir leben, habe »Risse, aus denen ein unmöglicher Zustand hervorschaut« (659). Niemand könne sein Leben in Ordnung halten, aber sie sagt sich, man müsse durch diesen Riss, dieses Loch hinaus! »Und ich kann das!« (659). Dann rückt sie ihm auf den Leib, weil sie von ihm, dem ›Barbaren‹, den Erlöser der Welt empfangen werde (660). Wieder droht sie, ihn zu ermorden. Aber er widersteht ihrer Verführung und erklärt: »Ich will nicht, Clarisse!« (661). Und sie geht.

Ulrich besucht sie und Walter nach der Rückkehr aus seiner Heimatstadt und findet dort den Dichter und »Propheten« Meingast, einen Jugendfreund von Clarisse, vor. Gegen Abend beobachten alle vier durchs Fenster einen Exhibitionisten, der immer wieder aus dem Schatten tritt, um Frauen oder Mädchen zu erschrecken, was ihm aber lange nicht gelingt. Außer dem Dichter betrachten alle den schmächtigen, blassen Mann als Kranken (III, 14., 786 ff.), und der Erzähler nimmt zeitweise seine Perspektive ein.

Während Siegmund, Clarisses Bruder, und Walter den Garten auf das Frühjahr vorbereiten, redet Clarisse ekstatisch auf Meingast ein, über die »Sündengestalt« und die »Lichtgestalt« des Menschen (III, 26., 923); er ist erschrocken über sie und flieht zu seiner Arbeit. Der nüchterne Arzt Siegmund erklärt schließlich sowohl Clarisse als auch Walter für »verrückt«, wenn auch nicht im klinischen Sinn (928). Clarisse will unbedingt Moosbrugger sehen und ihn retten. Sie würde den Mörder gern durch fortdauerndes Klavierspiel erlösen (III, 19., 836).

Es gelingt ihr endlich, zusammen mit ihrem Bruder, Ulrich und General Stumm das »Irrenhaus« besichtigen zu dürfen, in dem Moosbrugger untergebracht ist. Ein Dr. Friedenthal führt sie wie ein »Spielleiter« oder »Zauberer« (III, 33., 986, 989) durch das Haus, in überlegter Abstufung von harmlosen bis zu schreckenerregenden Fällen. Clarisse ist zufrieden, obwohl es aus Zeitmangel nicht mehr zum Besuch bei Moosbrugger kommt (992).