Leinsdorf, Graf

Seine Erlaucht, ein reichsunmittelbarer Graf (24., 98) mit Besitzungen im Böhmischen (107., 514), ist der Erfinder und die »wahrhaft treibende Kraft der großen patriotischen Aktion«, der »Parallelaktion«, mit der das 70jährige Thronjubiläum gefeiert und »gegenüber einem bloß 30jährigen« (in Deutschland) zur Geltung gebracht werden soll (21., 87).

Der Graf lässt ein Rundschreiben ergehen, das für das Jubiläumsjahr die Punkte »Friedenskaiser, europäischer Markstein, wahres Österreich und Besitz und Bildung« als hervorzuhebende darstellt (87). Graf Leinsdorf ist etwa 60 Jahre alt, mittelgroß, mit einem Knebelbart (90). »Ein hohes Zimmer stand um ihn, und dieses war wieder von den großen leeren Räumen des Vorzimmers und der Bibliothek umgeben, um welche, Schale über Schale, weitere Räume, Stille, Devotion, Feierlichkeit und der Kranz zweier geschwungener Steintreppen sich legten.« (90).

Graf Leinsdorf ist ein geistiger ›Busenfreund‹ von Tuzzis Frau Diotima (24., 98). Seine Einladung an viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, sich an der Großen vaterländischen Aktion zu beteiligen, ruft vielfach Ratlosigkeit hervor. Man könne sich, meint einer, dem ebensowenig entziehen, als wenn es hieße, »jeder solle sich melden, der das Gute will« (36., 137).

Der Graf hat bisher von Ulrich nur gehört, denn er ist ein Freund seines Vaters, und wünscht ihn nun herbei (37., 138). Die Polizei hilft dabei, indem sie Ulrich wegen eines Vorfalls auf der Straße verhaftet. Er erscheint dann zusammen mit Ulrich bei der ersten Sitzung der Aktion in Diotimas Haus. Auf der Fahrt dorthin mit Kutsche und zwei Pferden fragt er Ulrich plötzlich: »Der Stallburg hat mir erzählt, daß Sie sich für einen Menschen verwenden?« (43., 176) und stellt eine weitere Untersuchung Moosbruggers in Aussicht.

Zu Beginn der Sitzung hält Graf Leinsdorf eine Rede, in der er darlegt, dass die Aktion, die aus der Mitte des Volkes kommen solle, von oben geleitet werden müsse (42., 168, 171). Nach weiteren Reden wird den Anwesenden, unter denen keine offiziellen Vertreter sind, klar, dass sie ein großes Ereignis zu erfinden haben (173).

Leinsdorf hat – inzwischen ist Winter – die beschlossenen Ausschüsse gründen lassen. Von allen möglichen Seiten und Interessengruppen treffen Vorschläge zur Ausgestaltung des Jubiläums ein. »Ein Apparat war da, und weil er da war, mußte er arbeiten« (56., 224). Ulrich ist ehrenamtlicher Sekretär und muss dreimal wöchentlich bei Sr. Erlaucht erscheinen. Er berichtet dann über die eingegangenen Vorschläge, von denen viele ein »Zurück zu« (Gotik, Barock usw.) wünschen. Ulrich: »Ich fürchte, man muß sagen, daß der Mensch im besonderen und mit sich gerade noch zufrieden ist, aber im allgemeinen ist ihm aus irgendeinem universalen Grund in seiner Haut nicht wohl, und es scheint, daß die Parallelaktion dazu bestimmt ist, das an den Tag zu bringen«. Der Graf: »Ich fürchte, in der Geschichte der Menschheit gibt es kein freiwilliges Zurück« (58., 233). Ulrich bemerkt gegenüber Diotima, dass sie aber auch »kein brauchbares Vorwärts« hätten (66., 272). Er erzählt ihr von den Eingaben, die entweder ein »Los von...« (z. B. »Los von Rom«) oder ein »Vorwärts zu...«  (z.B. zur Gemüsekultur) propagierten (66., 271).

Graf Leinsdorf muss möglichst geschickt mit den verschiedenen Nationen umgehen, die unter dem Dach der österreichisch-ungarischen Monarchie existieren (98., 451). Ein »kakanisches Staatsvolk« musste zu dem existierenden k. und k.-Staat erst erfunden werden (452), denn die »unter Kakaniens Krone vereinigten Völker« nennen sich »unerlöste Nationen« (108., 518). In der nicht minder schwierigen Beziehung zum deutschen »Brudervolk«, das oft als Sündenbock herhalten muss, macht Se. Erlaucht einen Fehler, als er den früheren Minister Baron Wisnieczky, einen Polen, an die Spitze des Propagandakomitees beruft; das wird als anti-deutsch aufgefasst. (516).

Im Spätwinter (Januar/Februar 1914) drängt der Graf in Diotimas »Konzilssitzung« auf einen Entschluss, zu irgend etwas (116., 584). General Stumm, der eigentlich nicht in den Kreis gehört, schlägt vor, das Militär zu stärken. Daraus entwickeln sich Anekdoten über dessen Unzulänglichkeit und das Gegeneinanderarbeiten der verschiedenen Ressorts. Man fragt den Grafen: »Erlaucht haben einen Beschluß gefaßt?« (590). »›Es ist mir nichts eingefallen‹, erwiderte er schlicht, ›aber es muß etwas geschehn!‹« Ulrich denkt nach und schlägt ein »Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele« vor (597). Am Ende fragt der Graf: »Also worauf haben wir uns nun schließlich geeinigt? [...] Na, wir werden es ja schließlich noch sehn!« (600).

Während der Kundgebung gegen die Parallelaktion (Kap. 120), die Hans Sepp zuvor angekündigt hatte, ist Ulrich bei Graf Leinsdorf in dessen Palais, und der Graf sieht sich nur mäßig erregt an, was draußen geschieht. Die Menge ruft und droht, aber man versteht oben nichts.

Nach dem Tod seines Vaters findet Ulrich sich wieder bei Graf Leinsdorf ein, der ihn hindern möchte, seine Stelle bei ihm aufzugeben. Vorher gibt er einen tour d’horizon der österreichischen Politik, der auf Ulrich sehr komisch wirkt. Die zitierten »kuralen Satzschlangen« beißen sich in den Schwanz (III, 20., 842), und Erlaucht peroriert über die Juden, die besser hebräisch sprechen sollten (844 f.), und die Sozialisten, die er allmählich für staatstragend hält (849), alles in seinem treuherzig-aristokratischen Ton. Wir müssen unsere Pflicht tun, erklärt er. Welche? »Eben unsere Pflicht zu tun!« (850).

Nachdem der Graf Ulrichs Schwester Agathe kennengelernt hat, lobt er die Lebensweise der Geschwister, im Kontrast zu den »grauslige(n) Leidenschaften«, die das Burgtheater immer spiele (III, 27., 935).

Bei Diotimas großer Abendgesellschaft, wo die widersprüchlichsten Thesen und Glaubenssätze verkündet werden, kommt er zu dem Schluss, Klugheit gebe es nur im einzelnen, die Gesamtheit sei unzurechnungsfähig bzw. verrückt (III, 37., 1017).

General Stumm berichtet Ulrich im Sommer, die Parallelgesellschaft habe ein Ziel bzw. ein Ende gefunden; man werde im Herbst den Weltfriedenskongress in Wien ausrichten (1118 f.). Der pazifistische Beschluss auf Diotimas letztem »Konzil« habe den Kriegsminister gezwungen, das Haus »fluchtartig« zu verlassen (1147). Dann sei Graf Leinsdorf in einer Provinzstadt unter Demonstranten geraten, die ihn erkannt und beschimpft hätten. Leinsdorfs inoffizieller Einfluss sei unter Ministern gefürchtet; nun hat man ihm »die Parallelaktion unter dem Sattel weggeschossen«, wie Ulrich bemerkt (1155). Leinsdorf müsse, so Stumm weiter, abgelenkt werden, weshalb Stumm ministeriellen Auftrag habe, sich ihm »an den Hals [zu] setzen wie eine Zecke«, d.h. er solle viel mit ihm reden. Stumm, dem man das »Referat D« (Diotima) abgenommen hat, betreut nun sozusagen das »Referat L.« (1155), das man aus dem Militärbildungswesen herausgenommen und der Spionageabteilung (dem »Evidenzbüro«) angegliedert habe (1152).