Gantlik, Anita

Freundin von Gesine Cresspahl seit den Schultagen in Gneez. Lebt in Berlin. Die Freundinnen stehen in regelmäßigem Kontakt per Brief oder Telefon. Anita hilft mit ausgeliehenen Pässen Leuten bei der Flucht aus der DDR in den Westen. – Sie stammt aus Ostpreußen, aus dem Memelland; auf der Flucht 1945 kommen ihre Mutter und ihre Geschwister um; sie wird als elfjähriges Kind von drei Rotarmisten vergewaltigt; ihr Vater, Friedrich Gantlik, lässt sie bei einem Bauern in Wehrlich in der Nähe von Jerichow zurück, bei dem sie hart arbeiten muss; der Kommandant von Gneez, Jenudkidse, und die Kommandanten von Jerichow, die Herren Wendennych, für die sie Übersetzungen aus dem Russischen anfertigt, verhelfen ihr zu einer Wohnung in Gneez und zur Behandlung einer Eileiterentzündung, Folge der Vergewaltigungen. Holt ihre Tante aus dem Ruhrgebiet nach Gneez, um der Vormundschaft ihres gleichgültigen Vaters zu entgehen. Nach dem Abitur an der Fritz Reuter-Oberschule in Gneez 1952 geht sie in den Westen, studiert Slawistik, später offenbar Archäologie (vgl. 833) und promoviert in Orientalischer Archäologie (vgl. 449); verhilft Gesine 1953 zu einer Zuzugsgenehmigung für Westberlin. Seit dem Bau der Mauer (1961) organisiert sie Fluchthilfen für DDR-Flüchtlinge, heiratet »den Alten«, einen Mann aus Karelien. Macht im Mai 1968 einen »Ausflug« nach Mecklenburg.

89 »Anita mit der Kneipe«: Von einer Kneipe am Henriettenplatz in Westberlin aus organisiert Anita ihre Fluchthilfeaktionen; dass sie selbst Wirtin der Kneipe ist, streitet sie allerdings ab (vgl. 1623).

187-190 Brief von Gesine Cresspahl an »Anita Rotekreuz« (18. Oktober 1967): Es geht um die Fluchthilfe für einen jungen Juden aus der DDR. Gesine hilft ihr dabei mit dem belgischen Pass von Henri R. Faure. – »Zur Feier deines Doktorexamens« lädt Gesine die Freundin »mit Teilkosten« nach New York ein.

449-453 Brief von Gesine Cresspahl an »Anita Rotes Haar« (14. Dezember 1967): Die Fluchthilfe für den jungen Juden aus der DDR ist geglückt. Anita hat ihre Wohnung verloren. Gesine »mochte an ihr, daß sie drei Ausgänge hatte, getreu der Vorschrift des Dichters« (vgl. Bertolt Brecht: »Herr K. in einer fremden Behausung«). – Anita kann Gesines Einladung nach New York nicht folgen.

833 Anita hat das historische Jericho in Jordanien »ausgraben helfen, damit sie ein Doktor wird«.

988-992 Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke (11.4.1968) und den darauffolgenden Demonstrationen in Berlin ruft Gesine Anita in Berlin an (14. April 1968): Anita wurde von einem Wasserwerfer getroffen. Gespräch über die Studentenbewegung und »unsere Kinderwünsche. – Sozialismus etcetera.« Anita über ihren Mann, den »Alten«, und über ihre bürgerliche Tarnung für das »Geschäft« der Fluchthilfe: »Wer käme wohl auf die Idee, daß Leute wie wir ein Reisebüro ohne Rückfahrkarten unterhalten?«

1541-1549 Brief von Gesine Cresspahl an »Anita Rodet Stütz« (13. Juli 1968) über ihre Beziehung zu D.E., der Anita zwei Tage zuvor in Berlin besucht hatte »mit Bartastern in der Hand, ganz wie wir ihm auftrugen«. D.E. habe über Anita »verlauten lassen: Mit der stehl ich noch das eine Pferd, oder das andere.«

1590-1595 Bedankbrief von Marie Cresspahl für Anitas Geburtstagsgeschenk. »Es gehört wohl zu deinem Beruf, daß du so genau nachdenkst über andere Leute.«

1604 Gesine erzählt, wie Anita 1949 Taufpatin für Alexander Brüshaver wurde.

1605-1618 »Auftritt Anita«: Gesine erzählt Marie Anitas Lebensgeschichte. Aus Ostpreußen gebürtig. 1945 Flucht mit ihrem Vater nach Mecklenburg. Tagelöhnerei bei einem Bauern in Wehrlich bei Jerichow, »ohne eine Mutter, mit einem Vater, der sie zurückließ in der bäuerlichen Knechtschaft und seinen Sold von der Polizei in Jerichow für sich behielt, als wünsche er dieser Tochter ein Verkommen und Verrecken«. – Gilt in der Klasse als »Russenliebchen«, weil die »Herren Stadtkommandanten« von Jerichow, die Zwillinge Wendennych, denen sie mit Übersetzungen hilft, ihr zu einem schwedischen Fahrrad und zu einer Wohnung in Gneez verhelfen. Dass es die Wohnung der verhafteten Lehrerin Frau Dr. Weidling ist, wird der Fünfzehnjährigen übel genommen. – Die als Russisch-Lehrerin eingesetzte Freifrau von Mikolaitis nimmt bei Anita Nachhilfe-Unterricht in Russisch. – Anita wird auch von dem russischen Stadtkommandanten von Gneez, Herrn Jenudkidse, als Dolmetscherin in Anspruch genommen.

Gesine erinnert sich an ihre Erscheinung: »Keine ›kleine Anna‹; ein groß gewachsenes Mädchen, kräftig in den Schultern  wie ein Junge, athletisch nahezu« (1605). Sie hatte »langes schwarzbraunes Haar«, das sie »in geflochtenen Windungen um den Kopf trug«, eine »breite, gedrungene Stirn, hinter der es ängstlich zuging in diesem Herbst« (1607 f.). War in Dieter Lockenvitz verliebt, der sie aber nicht wahrnahm.

Imaginiertes oder erinnertes Zwiegespräch zwischen Gesine und Anita, nicht für Maries Ohren bestimmt: Ihren Vornamen verdanke sie einem »Film mit spanischer Szene« und dem Schlager »Juanita«, den ihre Mutter 1933 gehört habe. Ihr Nachname sei nur der »Stummel« eines ursprünglich polnischen Namens: »Wir saßen an der Memel, aber wo sie auch Njemen heißt, mit gutem polnischem Namen, davon ist Gantlik der Stummel. Kommen die Deutschen und bieten uns den blauen Ausweis an […] wegen eines Großvaters aus Westfalen.« Ihr »Schwachkopf von einem Vater« sei sogleich in die NSDAP eingetreten, »weil ihm das gefällt, wie deutsche Panzer ein polnisches Dorf flach legen«. Er wurde für den zerstörten Hof entschädigt durch einen Hof bei Elbing. »Als die Rote Armee uns einholte im Januar 1945, konnten wir schriftlich vorzeigen, daß wir Deutsche waren. Meine Mutter, meine Geschwister, auf freiem Feld haben wir sie beerdigt.« Anita, damals elf Jahre alt, wurde von drei Russen vergewaltigt. »Mein Vater, der Deutsche, er konnte für kein elfjähriges Kind einstehen.«

Gesine erzählt weiter: »Ihres Vaters entledigte sich die Schülerin Gantlik, indem sie über das Rote Kreuz eine Schwester ihrer Mutter aufspüren ließ«. Die Tante, eine Witwe mit zwei Kindern, siedelt aus dem Ruhrgebiet nach Gneez um und wird »auf dem Papier« als ihr Haushaltsvorstand geführt. – Anita weigert sich, in den Konfirmandenunterricht des Gneezer Dompfarrers zu gehen, weil der den Bischof Dibelius als Kriegshetzer bezeichnet hat; stattdessen besucht sie Brüshavers Konfirmandenunterricht in Jerichow. – Im Sommer 1949 wird sie »Anita die Rote« genannt, weil ihr Haar vom Schwimmen in der Sonne »einen Stich ins Rötliche durchscheinen ließ«. Aber der Spitzname wird auch anders verstanden: »›Anita die Rote‹, das blieb ihr. Denn nach wie vor ging sie dem Obersten Jenudkidse helfen mit der deutschen Sprache«.

Als Spätfolge der Vergewaltigung durch drei Rotarmisten wird sie krank, muß die ganzen Sommerferien 1949 im Bett liegen und wird aus dem Krankenhaus entlassen mit der Diagnose: »Pyosalpinx, heilbar, und Sterilität, auf ewig«. Das Penicillin besorgt Emil Knoop, dem sie die die Kosten abzahlen muss »bei einem Kurs von sechs bis acht Ostmark für eine einzige des ›Westens‹ (– umsonst ist der Tod: sprach Emil Knoop in seiner gemütlichen Art; dem entging ihr Zusammenzucken bei dem Wort).« Er gibt ihr Arbeit »in seinem Schriftverkehr mit der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, wo Jenudkidses Beihilfe versagte«. Von angespartem Geld kauft sie sich gute Stoffe und lässt sich schicke Kleider bei Rawehn schneidern.

»›De rode Stütz‹« (roter Bürzel) wurde sie genannt, seit sie sich die Haare zu einem ›kurzen, dicht anliegenden Gefieder‹ hatte schneiden lassen und Fiete Semmelweis jr. ihr dabei im Nacken »zwei winzige gegenläufige Strähnen« stehen gelassen hatte, »die kamen verblüffend rötlich hervor unter dem äußeren Braun«.

1619-1625 Ihr Leben nach dem Abitur (1952). Ihre Sorge für das Patenkind Alexander Brüshaver. – Anita geht nach Berlin (West), wohnt dort »in einem schmutzigen Haus zwei Blocks von der Karl Marx-Straße in Neukölln, an einem Hinterhof bei Frau Machate«. – Doktorandin der Slawistik (1621). – 1956 hat sie »schon einen Paß der französischen Republik«. – 1960 oder 1961 heiratet sie einen »Emigranten aus karelischen Landen«. Der Freund »will lediglich ›der Alte‹ heißen«. – Über ihre Arbeit als Fluchthelferin: Nach dem Mauerbau »soll Anita am Henriettenplatz eine Kneipe benutzt haben als ein Büro, das half Leuten über die Grenzen jenes fremden Deutschland. Sie streitet es ab.«

1632-1633 Anitas argloser Vorschlag, zur Weihnachtsfeier 1949 an der Fritz Reuter-Oberschule in Gneez Fritz Reuters »Ut mine Stromtid« szenisch zu erzählen, führt mit zu Kliefoths vorzeitiger Entlassung: Eine Verfügung ließ winterliche Schulfeste nur für den Generalissimus Stalin zu, der damals siebzig Jahre alt wurde.

1671-1672, 1679 Ihr Verhalten im Zusammenhang mit der Flugblattaktion in Gneez nach Pfingsten 1950. Bei den Verhören der Staatssicherheit spielt sie Gesine einen Zettel zu mit der Information, dass die Stasi sie verdächtigt, an der Flugblattaktion beteiligt zu sein. »Das war geschickt, Anita. Sollst bedankt sein abermalen.« 

1695-1696, 1701-1704 Anitas Beiträge zur Interpretation von Fontanes »Schach von Wuthenow« im Deutschunterricht von Mathias Weserich. – »Anita konnte beim Sprechen so allein vor sich hin denken wie sie war«.

1723 Überlässt Dieter Lockenvitz ihr schwedisches Fahrrad.

1739-1740 Gesine hat den Anwalt Mr. Josephberg beauftragt, ihr Testament zu ändern: Im Falle ihres Todes soll das Erziehungsrecht für Marie an Anita (statt an Mrs. Blumenroth) übertragen werden. »Wie konnte ich ahnen, daß Anita bereit ist, für Marie zu verzichten auf Reisen!«

1743-1744 Anita ruft Gesine Cresspahl in der Bank an, nachdem sie von D.E.'s Tod in Finnland erfahren hat: »Sag was ich tun kann.«

1748-1749 Anita, in Sorgen um Gesine, ruft sie erneut in New York an. Beide wollen sich in Prag treffen.

1755 Erneuter Anruf von Anita.

1765 »Mit ihrer Sorte von Dokumenten« fährt sie im Dezember 1964 zur Beerdigung von Pius Pagenkopf nach Gneez.

1766 Fingiert Telegramme von D.E. aus Finnland, einen »Unfall« andeutend, um Marie Cresspahl auf die Nachricht von D.E.'s Tod vorzubereiten. »Das ist die Handschrift Anitas. Genosse Schriftsteller, daß du sie ja korrekt bewertest!«

1770-1776 Im Mai 1968 macht Anita einen »Ausflug« nach Mecklenburg, besucht Jerichow und Gneez.

1799-1800 Wie Gesine Cresspahl wird auch Anita am 2. Januar 1952 im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Dieter Lockenvitz für zehn Tage verhaftet.

1821-1822 Nach dem Schulausflug zum Barlach-Haus am Inselsee von Güstrow im September 1951 begründen Anita und Gesine »auf dem Kamm des Heidberges« ihre Freundschaft.

1822-1824 Bringt sich beinahe um das Abitur, weil sie einem Beschluss des FDJ-Parlaments vom Mai 1952, der alle Mitglieder zum Dienst in der Kasernierten Volkspolizei verpflichtet, nicht zustimmen will. Gesine rettet sie, indem sie sie aus der Sitzung der FDJ-Klassengruppe entlässt. – Der Beschluss ist ein wichtiger Grund für Anitas Umzug nach Westberlin gleich nach dem Abitur.

1850-1855 Gesines und Anitas Treffen in Berlin bis zum 17. Juni 1953. Anitas Hilfe bei der Erlangung einer Zuzugsgenehmigung für Gesine für Westberlin.

1879 »Dann kam Anita mit ihren ungesetzlichen Anträgen«: Als Gesine ihre Arbeit für die deutsche Bank in New York verliert (Dezember 1961), unternimmt sie für Anitas Fluchthilfeorganisation Reisen (vgl. auch 1453). »Anita zahlte die Spesen.«

1888-1891 Anita macht es möglich, daß Kliefoth nach Dänemark reisen kann, wo er am 20. August 1968 in einem Badehotel an der Küste Gesine und Marie Cresspahl auf deren Weg nach Prag trifft.

Vgl. auch 464. 1019. 1643. 1656. 1658-1659. 1682. 1684. 1689. 1725. 1735. 1782-1783. 1816 f. 1826. – Sämtliche Stellennachweise gibt der Jahrestage-Kommentar.