Jerichow

Kleinstadt in Mecklenburg. Nicht zu verwechseln mit »dem anderen Jerichow«, dem »großen, bei Magdeburg« (833).

30-32 »Jerichow zu Anfang der dreißiger Jahre war eine der kleinsten Städte in Mecklenburg-Schwerin, ein Marktort mit zweitausendeinhunderteinundfünfzig Einwohnern, einwärts der Ostsee zwischen Lübeck und Wismar gelegen, ein Nest aus niedrigen Ziegelbauten entlang einer Straße aus Kopfsteinen, ausgespannt zwischen einem zweistöckigen Rathaus mit falschen Klassikrillen und einer Kirche aus der romanischen Zeit, deren Turm mit einer Bischofsmütze verglichen wird [...].

Um den Marktplatz im Norden, zur See hin, standen ein Hotel, die Bürgermeisterei, eine Bank, die Raiffeisenkasse, Wollenbergs Eisenwarenlager, Papenbrocks Haus und Handlung, die alte Stadt, hier gingen Nebenstraßen ab, Kattrepel, Kurze Straße, die Bäk, Schulstraße, Bahnhofstraße«. Im südlichen Teil der Stadt, der 1732 abbrannte und erst im 19. Jahrhundert wieder bebaut wurde, »steht heute das Postamt, das Kosumkaufhaus, die Ziegelei hinter dem Friedhof, die Ziegeleivilla«. In Jerichow »wohnten Ackerbürger, Kaufleute, Handwerker«.

»Jerichow war keine Stadt. Es hatte ein Stadtrecht von 1240, es hatte einen Gemeinderat, es bezog Elektrizität vom Kraftwerk Herrenwyk, es hatte ein Telefonnetz mit Selbstanschluß, einen Bahnhof, aber Jerichow gehörte der Ritterschaft, deren Güter es umgaben. [...] In diesem Winkel regierte der Adel, Arbeitgeber, Bürgermeister, Gerichtsherr über seine Tagelöhner«.

»Wo ein Hafen für Jerichow hätte sein können, saß das Fischerdorf Rande, schon am Anfang des Jahrhunderts reich genug für Grand Hotels, Erbgroßherzog, Stadt Hamburg. Jerichow war eine Station geblieben auf dem Weg nach Rande [...]. Der Handel kam nicht über die schmalen Chausseen, die großen Straßen zogen tief im Süden an ihm vorbei. Der Ritterschaft war Jerichow so recht, als ein Kontor, ein Lagerplatz, ein Handelsort, eine Verladestelle für den Weizen und die Zuckerrüben. Die Ritterschaft brauchte keine Stadt. Jerichow bekam seine Bahnlinie nach Gneez, zur Hauptstrecke zwischen Hamburg und Stettin, weil die Ritterschaft das Transportmittel brauchte.«

Was der Stadt fehlt, ob Kanalisation oder Kino, fehlt nach Gesines bzw. des Erzählers Überzeugung, weil die Ritterschaft es nicht brauchte, und was sie hat, entspricht den Bedürfnissen der Ritterschaft: Ziegelei, Handel für Ersatzteile von Landmaschinen, Verwaltung, Polizei, Rechtsanwälte, Papenbrocks Speicher, »aber ihre großen Geschäfte machte sie in Lübeck ab«. – »In der Erntezeit, wenn der Weg nach Ratzeburg oder Schwerin zu weit war, fuhren die Herren abends zum Lübecker Hof und spielten Karten an ihrem eigenen Tisch, gewichtige, leutselige, dröhnende Männer, die sich in ihrem Plattdeutsch suhlten.«

33 Die Stadt hat keine eigene Zeitung. Im Gneezer Tageblatt gibt es eine Seite für »Jerichow und Umgebung«.

34 Jerichow ist »umgeben von Weizenfeldern, im Süden hinter dem Bruch ist der Gräfinnenwald, dann fassen übermannshohe Hecken Wiesen ein. Das Wetter ist das der See.«

87 Die Bahnhofswirtschaft ist schon 1931 »Lokal der Nazis«.

385 »Manchmal sagt Marie von Schwester Magdalena: ›I wish she were in Jericho!‹ Es fällt ihr gar nicht auf, so nachdrücklich denkt die hiesige Sprache für sie, daß Jericho ein sehr entfernter Ort ist, und nicht ein angenehmer. Wer im Englischen nach Jericho gehen soll, wird auf den Weg zum Teufel geschickt, und wird Einer nach Jericho bloß gewünscht, so soll er bleiben, wo der Pfeffer wächst«.

468-469 Die Jerichower Handwerker profitieren seit 1936 vom Bau des Militärflugplatzes Jerichow Nord.

495 »Mein Krieg war gut versteckt. Sogar der Name der Stadt Jerichow war entlegen in Deutschland. Die Badegäste, die sie im Auto auf dem Weg zum Seebad Rande passierten, was sahen sie? Vierhundert Meter grober Pflastersteine, die die Wagen zu holprigen Knicksen brachten. Scheunen, Höfe. Die rote Ostfront der Ziegelei [...]. Kühle Grabsteine im Schatten. Eine niedrig umbaute Straße, dörflich schmal, zweistöckige Häuser, vorn ältlich verputzt, seitlich Fachwerkbalken. Darüber ein Ungetüm von einer Kirche mit Bischofsmütze, bis zum Ansatz der Schildgiebel von Baumkronen umwölkt. Viele Läden mit Auslagen, die einst Wohnzimmerfenster gewesen waren. Karstadts bunkerähnlicher Kasten, ein Landkaufhaus. Oder sie kamen mit dem Bus vom Bahnhof und begannen mit dem Marktplatz mit seinen fast herrschaftlichen Gebäuden. Papenbrocks Haus wie der Lübecker Hof unbescheidener als das Rathaus. Pferdefuhrwerke auf dem Weg zur Stadtwaage. Kaum einheimische Autos. Ferienstille. [...] Was da im Westen vergessen zurückblieb, war der Militärflugplatz Jerichow Nord. 1936.«

1031 Am Ende des Krieges ist die Bevölkerung von Jerichow durch Flüchtlinge auf »dreieinhalbtausend geschätzte Personen« angestiegen.

1125 Zur geografischen Lage von Jerichow.

1192 Nachdem Frau Abs mit Sohn Jakob im letzten Kriegswinter in Jerichow gestrandet ist, macht sie sich Sorgen, wie ihr Mann sie wiederfinden soll, wenn er aus dem Krieg zurückkommt: »In der kleinen Stadt, versteckt an der See, versteckt im Weizen, konnte der Mann sie nicht finden.«

1240-1243 Ein Kapitel im Irrealis: »Wenn Jerichow zum Westen gekommen wäre«.

1772-1774 Bei ihrem »Ausflug« von Berlin (West) nach Mecklenburg im Mai 1968 besucht Anita Gantlik auch Jerichow. »Karstadts Landkaufhaus nun ein ›Magnet‹ [...]. Vor dem Schaufenster von Schlachter Klein stand eine Schlange, als sei sie eingerichtet auf ein Ausharren bis zum Ladenschluß. Es gibt keine Ansichtenpostkarten von Jerichow. [...] Das Dach der Petrikirche zur Hälfte abgetragen, zur anderen mit neuen Ziegeln belegt in beißendem Rot, das wird sich geben im Wind vom Meer her.«

Zu dem mutmaßlichen realen Vorbild für Jerichow vgl. Jahrestage-Kommentar zu 7,17: Die Lage der Stadt »entspricht etwa der von Klütz im nordwestlichen Mecklenburg, dem Klützer Winkel. Einige Details des fiktiven Jerichow, so die Lage am Meer, die Kirche und die Bahnverbindung nach Grevesmühlen, entsprechen dem realen Klütz.« Auch das Denkmal für die Opfer des Untergangs der Cap Arcona auf dem Alten Friedhof von Jerichow (1116) verweist auf Klütz, auf dessen Friedhof ein Gedenkstein für 16 Opfer errichtet wurde.