Kollmorgen, Avenarius

Dr. iur., Rechtsanwalt in Jerichow, Junggeselle, ausgiebigem Weingenuss zugetan. Anfang der dreißiger Jahre ist er etwa siebzig Jahre alt (vgl. 891). Anwalt von Albert Papenbrock und Baron Rammin.

243-244 März 1933: »Avenarius Kollmorgen, zugelassener Rechtsanwalt, ein bißchen kurz, dafür sehr stämmig, wandelte mit ausfahrenden Ellenbogen über den Markt und machte sein Gesicht mit spreizigen Lippen und zwinkernden Augen noch breiter und zog den Hut vor Cresspahl und quäkte mit seiner eingeklemmten Stimme: Gut bei Sach, Herr Cresspahl? Gut bei Sach? und ruderte weiter und sah sich nicht um und hatte auf eine Antwort nicht gewartet. Gut bei Sach, Cresspahl?«

305-306 Lebt allein, versorgt von seiner Haushälterin Ilse Grossjohann. »Im Inneren wünschte er allein gelassen zu werden.« Er hat »es geschafft, sich von innen zu sehen nicht als jenen ›Avi‹ in der wismarer Stadtschule, nicht als jenen ›Arius‹ in Erlangen, wahrhaftig als den echten und geheimen Avenarius Kollmorgen, der sich Keinem mehr auf die Nase band. Diesen Avenarius kannte er als ein sanftes, verletzliches Wesen.«

»Allerdings, er lebte allein. Welcher Frau denn hätte er sich ausdeuten können? Die Kinder, die ihm Sprüche nachschrien, die Jerichower, die seinen Gang und seine Redensarten erheiternd fanden, mochten ihn für verschlagen halten, für hochmütig, für schrullig überhaupt. Das war eine so schlechte Tarnung nicht.«

Den Lübecker Hof betritt er selten, weil ihm missfällt, »was der Pächter mit den Weinen anstellte. Der kaufte zweifelhafte Lagen. Der lagerte über dies Flaschen auf der Sonnenseite des Kellers. Dergleichen war in der Familie Kollmorgen nicht aufgetragen worden. Und er konnte mit Leuten in Mengen wenig anfangen. Er hatte nicht viel zu reden, weil er so viele Geheimnisse wußte, daß ihm die Grenze zur offenen Tatsache gelegentlich verschwamm. Nein, was er brauchte, waren einzelne Personen, denen er in seiner eigenen Wohnung einen Stuhl und seine Regeln anweisen konnte, die sich nicht zu wehren vermochten dagegen, daß Avenarius K. sie in aller Ruhe betrachtete, auseinanderdachte und erkannte.«

306-310 An einem Märzabend 1933, zwei Wochen nach Gesines Geburt, kommen Albert Papenbrock und Heinrich Cresspahl zu ihm, um die »merkwürdige Schenkung an ein vierzehn Tage altes Kind« (Papenbrocks Überschreibung des Hauses am Ziegeleiweg auf die Enkelin Gesine) zu besprechen. Er beobachtet mit größtem Vergnügen, wie Cresspahl sich gegen die Zumutungen des von Papenbrock gewünschten Schenkungsvertrags verwahrt. »Avenarius Kollmorgen schritt noch lange nach Mitternacht durch seine drei Zimmer, weniger aufrecht, und manchmal krümmte er sich ein bißchen vor Vergnügen. [...] Er hatte Papenbrock bei einer Niederlage beobachtet. [...] Es war ein schöner Abend für Avenarius K. gewesen.« Seine heimliche Sehnsucht, sich einmal darstellen zu können »als das weise und doch tief fühlende Wesen, das er in Wirklichkeit war«.

360-362 Vertritt Baron von Rammin im Prozess gegen Ossi Rahn. Vor Übergriffen von Rahns S.A.-Kumpanen schützt ihn seine Haushälterin Ilse Grossjohann durch ihre Verwandtschaft mit dem Polizisten Ete Helms. Nachdem Kollmorgen mit »seinen Freunden aus dem Justizministerium in Schwerin« gesprochen und »unter ihnen die Weisheit des Weintrinkens verbreitet« hat, bekommt er eine Audienz beim »Reichsstatthalter« Hildebrandt, den er über Ossi Rahns kriminelle Machschaften aufklärt und so eine Distanzierung der Nazis von Ossi Rahn erwirkt. In dem Prozess bekommt Ossi Rahn zweieinhalb Jahre Gefängnis. »Oberes und unteres Bürgertum atmeten auf, weil der Gerichtsbeschluß versprach, daß die S.A. eben doch nicht alles sich herausnehmen durfte.«

473 Löst 1935 seine Praxis auf »und zeigte sich selten außer Hauses und fragte nur noch ganz wenige Leute, ob sie gut bei Sach seien«.

546-547 Bemüht sich um Hilfe für Dr. Semig, der sich aber weiterhin gegen eine Emigration wehrt.

578 Versucht Lisbeth Cresspahl im Herbst 1937 dazu zu bewegen, im Prozess gegen Hagemeister und Warning die Zeugenaussage zu verweigern.

625-626 Hält den Semigs vor deren Ausreise eine Abschiedsrede, die »auf das entschiedenste in die Büsche« geht. »Das war das letzte Plädoyer, das Dr. jur. Avenarius Kollmorgen hielt.«

853 Nach Lisbeth Cresspahls Tod berät er Heinrich Cresspahl bei der Auswahl einer Haushälterin.

889-891 Nimmt sich im Juni 1942, im Alter von fast achtzig Jahren, das Leben. Er wurde seit der Schließung seiner Praxis 1935 nur noch selten gesehen, und wer ihn ansprach, »war auf einen peinlich gestörten Menschen getroffen, der ungeduldig hin trat und her, auf das Ende der Unterhaltung aus«. – Über seine sorgfältig vorbereiteten Verfügungen von Todes wegen. – »Schriftstücke persönlicher Art hatte Dr. Kollmorgen beseitigt; von sich wollte er nichts hinterlassen als das Geheimnis Avenarius. [...] Am Ende war ihm doch nicht recht gewesen, daß die Stadt ihm das Bedürfnis nach Alleinsein erfüllt hatte. [...] Es war Avenarius' Sache gewesen, allein zu leben und zu sterben.«

1863 Am Tag ihrer Mündigkeit, am 3. März 1954, bekommt Gesine Cresspahl im Auftrag von Rechtsanwalt Jansen in Gneez ein versiegeltes Päckchen zugesandt, in dem sich »ein Paar goldener Ringe« befindet, die Avenarius Kollmorgen ihr vermacht hat: »›Zu Ihrer Mündigkeit, sehr verehrtes Fräulein Cresspahl, Ihnen zu Füßen zu legen erlaubt sich.‹ ›Da ich selbst, infolge Begegnens widriger Umstände.‹ ›Zu jedweder ehelicher Verbindung, sie sei nur gewählt, Sie meiner Ergebung.‹ Mit Kollmorgen ist eine Art zu sprechen ausgestorben.«

Vgl. auch 318. 402. 418. 505-506. 544. 559. 562. 569-570. 572. 578. 591. 607. 650. 652. 869. 1067. 1103. Anhang XIII.