Pagenkopf, Robert (Pius, Röbbertin, Rœbbing)

Schüler der Fritz Reuter-Oberschule in Gneez. Freund von Gesine Cresspahl. Geht ein Jahr vor dem Abitur von der Schule ab zum »Aero-Club« der »Bewaffneten Volkspolizei«, der späteren Luftwaffe der Nationalen Volksarmee. Stirbt als Testpilot für die sowjetische Luftwaffe im Dezember 1964 in der UdSSR.

419 Gesine fährt im Traum mit ihrem toten Jugendfreund Pius durch Mecklenburg; »als der lebte, war er General der sowjetischen Luftwaffe und fuhr einen alten Studebaker aus dem Pacht- und Leihabkommen mit den U.S.A.« Dann sitzt sie (im Traum) in einem sowjetischen Flugzeug, das vom Flugplatz Newark abhebt, da »beugt einer sich vor zu mir, und während ich ihn erkenne, sagt er: Gesine, tu doch nicht so. Tu nicht so fremd. Du bist genau wie wir zum Absturz verurteilt.«

1557-1559 Mitschüler Gesines in der Neun A Zwei der Fritz Reuter-Oberschule in Gneez, in die Gesine im Herbst 1948 von der Brückenschule umgeschult wird. »Pius Pagenkopf, ein Langer, Dunkler, der Älteste der Klasse«, verliebt sich wie viele Mitschüler in Gesines Banknachbarin Lise Wollenberg. Gesine überlässt ihm ein Passbild von Lise, das er eines Tages vor deren Augen zerreißt. – Alle wollen Pius zum Klassensprecher, aber nach einer Bemerkung Lise Wollenbergs zieht er seine Kandidatur zurück.

1573 In der »Neuen Schule« werden die Kinder nach ihrer Herkunft beurteilt: »Wie die Schülerin Cresspahl die Tochter eines Handwerkers war, so hing Pius Pagenkopf ein Vater an mit leitender Funktion in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und hohem Amt in der mecklenburgischen Landesregierung. Rückständiger Mittelstand und Fortschrittliche Intelligenz, wie konnten die an einem Tisch sitzen, vom Januar 1949 bis zum Abitur?«

1573 »Pius ... bei der Deklination dieses Adjektivs war er einmal stecken geblieben; ihm mußte das als Übername lieber sein als eine hochdeutsche Übersetzung seines Nachnamens (Pferdehaupt). Zudem war er in unserer Klasse der einzige Katholik.« – Gesines Erinnerung an Pius' Äußeres ist lückenhaft, stützt sich vor allem auf ein Foto: »Da waren wir neunzehn und achtzehn [...]. Da steht ein schmaler langer Junge mit hartem Kopf [...]. Und das Foto will mir einreden, Pius sei immer so fertig gewesen im Gesicht. [...] Dabei sehen wir aus wie ein eingespieltes Ehepaar, und kannten einander weit gründlicher als unsere Väter wahrnehmen wollten.«

1576-1578 Pius setzt sich mitten im ersten Schuljahr an der Fritz Reuter-Oberschule von Dagobert Haase weg, Gesine ihrerseits von Lise Wollenberg, beide setzen sich an einen Tisch in der hintersten Ecke des Klassenraums. »So begann die erste Arbeitsgemeinschaft in der Fritz Reuter-Oberschule zu Gneez, zwei Jahre vor der amtlichen Einführung, und es war ein Skandal.« Aber Direktor Kliefoth akzeptiert den Platzwechsel. – Sie gelten bald als ein Liebespaar. Sie machen nachmittags gemeinsam Schularbeiten bei Pagenkopfs, er holt sie morgens oft vom Bahnhof zur Schule ab.

1585 Zarah Leanders Schlager »Kann denn Liebe Sünde sein?« wird in der Neun A Zwei von Januar 1949 an »getrommelt und gepfiffen auf die Tochter Cresspahls und Pius Pagenkopf. Wir waren Das Paar.« Die gekränkte Lise Wollenberg bemerkt gehässig, »bei so einem Vater sei die Cresspahl ja klug beraten, sich an die neue Herrschaft zu hängen«.

1585-1590 Über Pius' und Gesines Gemeinschaft. Er tritt ihrem Schwimmverein S.V. Forelle bei, sie seiner FDJ und der »Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft«. Er wird zu Beginn der 10. Klasse (1949/50) Vorsitzender der FDJ-Klassengruppe, Gesine sein Stellvertreter. – Gemeinsames Schwimmen im Gneezer Stadtsee: Sie sind »die, die trockneten sich an einem Handtuch ab, das Paar«. – Beide melden sich im Frühjahr 1950 auf Betreiben von Herrn Pagenkopf zu Aufräumarbeiten auf dem Bahnhof Gneez. – »Er hatte mir vom Typhustod seiner älteren Schwester erzählt, ich ihm von Alexandra Paepcke. Wir haben gewiß sagen dürfen: Wir wissen etwas von einander.« – Gemeinsame Ausflüge und Ferien. Aber »Das Paar« vermeidet Berührungen: In einem Zwiegespräch zwischen Gesine und dem toten Pius sagt er: »Aus Spaß, Gesine, das wäre mir zu wenig.« Sie: »Wo keine Liebe wächst, gedeiht die Sünde schlecht.« Pius: »Sag ihren Namen nicht, Gesine.« Sie: »Frag mich nicht nach Jakob

1652-1653 Bei Gesines ›Badeanzug-Streit‹ mit Bettina Selbich vermasselt Gesine ihm »das mannhafte Beschützen«.

1658-1662 Fährt im Sommer 1950 mit zum Pfingsttreffen der FDJ in Berlin, in der Tasche eine bei Horst Stellmann in Jerichow geliehene Kamera, mit der er Bettina Selbich vor einem Schaufenster in Berlin-West fotografiert, so daß sie keinem der heimlich in die Westsektoren gefahrenen Schüler »friedensverräterisches« Verhalten vorwerfen kann. Stellmann entwickelt das Foto, ohne Bettina zu erkennen. »Dabei beließ die Arbeitsgemeinschaft Pagenkopf/Cresspahl den Stand der Kampagne gegen Bettina Selbich«. Marie fragt Gesine, ob sie »so gemein« gewesen wären, das Foto gegen die Lehrerin einzusetzen. Gesine: »In einem Notfall, gewiß.«

1716 Spielt Gesine ein Exemplar des inkriminierten Flugblattes zu, das an der Schule nach Pfingsten 1950 verteilt wurde (vgl. 1669-1680). Gesine: »Nachdem ich zu Ende gelesen hatte, hing zwischen uns ein Blick, solchen kriegst du im Leben, wenn es hoch kommt und gut gegangen ist, vielleicht drei Mal. [...] Seit dem Augenblick hatte ich noch einen Bruder.« Marie protestiert: »An einem Handtuch trocknet ihr euch ab! Wand an Wand schlaft ihr! Aber vertrauen tut ihr einander erst, wenn du ihn ins Zuchthaus bringen könntest.«

1758-1759 Meldet sich im Frühjahr 1951, ein Jahr vor dem Abitur, »zur Bewaffneten Volkspolizei, zum Aero-Club in Cottbus. [...] Da wir eben bloß taten wie ein Ehepaar, hatte er dies für sich allein entschieden.« – In einer imaginierten Zwiesprache mit dem toten Pius werden Gründe genannt: Er habe allein sein und dem verlogenen Leben an der Schule, »alln dissn Schiet und Friedenskrampf«, entkommen wollen. Gesine muss das letzte Schuljahr in der Zwölf A Zwei allein an einem Tisch absitzen.

1761 In den letzten gemeinsamen Schulwochen: »Schale um Schale fiel seine Zugehörigkeit zu uns von ihm ab.« Er verbringt ohne Wissen seiner Mutter Abende im Dänschenhagen (einem anrüchigen Viertel von Gneez) und ist Gast in »Lokalen der Eisenbahner von Gneez, auch im Lindenkrug, wo die Schaffnerinnen schon mal auf den Tischen tanzten«. – Am Ende des Schuljahres 1950/51 schlägt Gabriel Manfras der FDJ-Schulgruppe vor, sie möge Pius Pagenkopf »zum Dienst bei der bewaffneten Polizei delegieren; Pius betrachtete ihn aufmerksam so lange, bis Manfras, dem der Mumm zu solchem Dienst abging, ein Mal doch rot wurde im Gesicht. Pius wurde von den Schülern und der Lehrerschaft verabschiedet

1761-1765 Über sein Leben als Flieger und seinen bis zu seinem Tod 1964 aufrechterhaltenen Briefwechsel mit Gesine, der seit Gesines Wechsel in den Westen (1953) über Pius' Mutter geht. 1954 wird er Berufsoffizier, 1956 werden die Aero-Clubs der »Bewaffneten Volkspolizei« in die NVA integriert. Im selben Jahr wird er Testflieger für die sowjetische Luftwaffe, »ein Testpilot, wertvolles Material, als Kader gehütet. Ärztliche Untersuchung alle vier Wochen, Kuren in den Sanatorien, die reserviert sind für Leute vom Minister aufwärts. Und unerreichbar.« – Nach der Ermordung John F. Kennedys »schrieb Pius einen Brief, der sollte eine Gesine in New York City trösten. Der Form halber, abschätzig, erwähnte er ›meinen Lieben‹ eine kurze Ehe mit einer Masha, einer Marie. Der war endgültig allein.«

1765-1766 Über seinen Tod und seine Beerdigung im Dezember 1964. »Und weil er den Sowjets lieb geworden war mit seinen Verdiensten um das Verbessern ihrer fliegenden Waffenträger, schickten sie im Dezember 1964, statt ihn an Ort und Stelle zu begraben, einen zugeschweißten Sarg nach Gneez, Mecklenburg. Der wäre nur mit industriellem Gerät zu öffnen gewesen. Fast dreiunddreißig Jahre alt ist Pius geworden.«

Vgl. auch 1610. 1615. 1671. 1675. 1682. 1694. 1705. 1722. 1730. 1752. 1760. 1780. 1784-1785. 1800-1801. 1816. 1830. 1831. 1855.