Atum-Rê-Horachte (Atum, Rê, Horachte, Atum-Rê, Rê-Horachte, Rê-Horachte-Atôn, Harmachis-Chepere-Atum-Rê)

Der große Sonnengott, dessen Heiligtum in On (Heliopolis), der »Stadt des Blinzelns«, steht, ist »Chepre am Morgen [...], Rê an seinem Mittag und Atum am Abend, der die Augen öffnet, und es entsteht das Licht, der die Augen schließt, und es entsteht das Dunkel«. Seine »lebendige Wiederholung« ist Merwer, der heilige Stier im Sonnentempel zu On (IV, 732).

Wie sein zusammengesetzter Name andeutet, ist Atum-Rê-Horachte eine »Zusammenschau und Sternbildfigur ursprünglich eigener Numina«, denn aus »mehrerem eins zu machen« war schon immer das »Vorzugsbetreiben« der Sonnenpriester im tausendjährigen On (IV, 735). Die zahlreichen Varianten der Namenszusammensetzungen, die im Roman verwendet werden, beziehen sich denn auch sämtlich auf den Sonnengott, wie ihn die Sonnenpriester von On in ihrer ›Theologie der Zusammenschau‹ verstehen (s.u.). – Die Namen jener ›ursprünglich eigenen Numina‹ begegnen auch alleinstehend und nehmen dabei unterschiedliche Bedeutungen an (vgl. dazu die Zusatzinformationen am Ende dieses Artikels).

Nach Überzeugung der (vom »vielen In-die-Sonne-Sehen«) triefäugigen Priester von On gibt es »nur zwei große Götter: einen der Lebenden, das war Hor im Lichtberge, Atum-Rê; und einen Totenherrn, Usir, das thronende Auge«. Bei »zugespitztem Denken« aber, so die Sonnenpriester, könne man sogar sagen, dass Usir letztlich auch nur eine Erscheinungsform des Atum-Rê sei, seine nächtliche Erscheinungsform nämlich, insofern Usir der »Herr der Nachtbarke« sei, in die »Rê nach Untergang umstieg, um von Westen nach Osten zu fahren und den Unteren zu leuchten. Mit anderen Worten: auch diese beiden großen Götter waren genaugenommen ein und derselbe« (ebd.).

Die ›Theologie der Zusammenschau‹, die die Priester des Atum-Rê zu On pflegen, ist eine Form des Monotheismus, die das Kunststück fertigbringt, »niemanden dabei zu kränken und ungeachtet ihres identifizierenden Betreibens die tatsächliche Vielheit der Götter Ägyptens unangetastet zu lassen« (IV, 725). Das gelingt durch die »Wissenschaft vom Dreieck«, die die ›Triefäugigen‹ jedermann gern erklären, so auch dem alten Midianiter und seinem Jungsklaven Joseph, die sie auf dem Marktplatz vor den Toren des Tempels treffen (IV, 734): Die »Spannseite« des Dreiecks habe man sich dabei als die Ebene zu denken, die die vielen Götter Ägyptens repräsentiere; die »zusammenstrebenden Schenkelseiten« aber versinnbildlichten die »Zusammenschau« als einen Denkvorgang, bei dem die Vielheit der Götter sukzessive zusammengeführt und schließlich in dem einen »Schluß- und Schnittpunkt« an der »Spitze des Dreiecks« vereinigt werde, ohne sie zu vernichten: sie bleibe in dem von den drei Seiten umschlossenen Raum erhalten. Die »Spitze des Dreiecks« aber und die letzte und höchste Einheit der Vielheit, so erklären die »Spiegelköpfe«, sei »der Herr ihres Tempels, sei Atum-Rê« (IV, 735).

Und genau genommen umfasse die »Spannseite« des Dreiecks nicht nur die ägyptischen, sondern alle Götter aller Völker, die ihrerseits in der Einheit der Vielheit im Spitzenpunkt des Dreiecks, Atum-Rê-Horachte, zusammengefasst seien. Deshalb könnten auch Fremde »getrost und ohne Verrat« dem Atum-Rê opfern, weil zugleich mit ihm »auch ihre heimischen Götter die Gaben empfingen« (IV, 737). Joseph erinnert sich dieser Weisung, als Mut-em-enet ihn nötigt, dem Atum-Rê zu räuchern (V, 1125, vgl. auch V, 1520).

Jüngster Ausdruck dieser »Ausdehnungslust« Atum-Rê-Horachtes, seiner »Neigung, sich in Beziehung und in ein weltläufiges Einvernehmen zu setzen mit allen möglichen Sonnengöttern der Völker«, ist ein Name, den er sich »neuerdings« (d. h. zur Regierungszeit von Echnatôns Vater Amenhotep III.) zugelegt hat und der »für sein ganzes und allgemeines Sonnentum, nicht nur für den Untergang, sondern für Morgen, Mittag und Abend« stehen soll: Er nennt sich Atôn, ein Name, »mit eigentümlichem Anklang, der niemandem entging.« Gemeint ist die klangliche Annäherung an den Namen »des vom Eber zerrissenen Jünglings« Adonis (V, 941).

Die Einheitsbestrebungen des Amun in Theben, der sich »durch seine Propheten dem Rê (habe) gleichsetzen lassen und wolle nun Amun-Rê genannt sein«, haben in den Augen der Sonnenpriester zu On nicht das geringste mit ihrer ›Wissenschaft vom Dreieck‹ und mit der Weltläufigkeit und Toleranz des »Horizontbewohners« Atum-Rê-Horachte gemein. Vielmehr seien sie eine »engstirnige Anmaßung« und von »gewalttätiger Plumpheit«. Der Horizont des »jungen Amun« sei nämlich so eng, daß er »nichts kenne und wisse als Ägypterland« und »sozusagen nicht über seine eigene Nase hinaussehe« (IV, 736). Von Atum-Rê's »beweglichem und heiter-lehrhaftem Sonnensinn« ist der viel jüngere Amun meilenweit entfernt (V, 941).

Am Königshof zu Theben gewinnt der Dienst des »sehr alten und milden« Atum-Rê schon in der Regierungszeit von Echnatôns Vater Amenhotep III. stark an Bedeutung. Das hängt auch damit zusammen, dass »man sich dort ärgerte an der lastenden Schwere und Tempelmacht Amuns« (V, 941) und der politischen Opposition der Amunspriester gegen das Königshaus. Die durch den Dienst an Atum-Rê geprägte weltoffen-tolerante Gesinnung der Hofleute begünstigt Josephs Karriere im Hause Potiphars (V, 940 f.). Amun dagegen, in Gestalt seines ›Ersten Propheten‹ Beknechons, »blickt scheel auf Joseph« (V, 937).

Echnatôn verehrt Atum-Rê-Horachte zwar als seinen »Vater«, betrachtet ihn aber als transitorische Form der Sonnengottheit, aus der »mit Hilfe menschlicher Gedankenarbeit, langsam, aber immer vollendeter, ein neuer, unsagbar schöner, hervortrat, nämlich der wundervolle, aller Welt leuchtende Atôn« (V, 1383). Echnatôn möchte Atum-Rê-Horachte radikal vergeistigen, von allem Lebendigen reinigen. Er soll nicht mehr »als ein Kommen und Gehen, ein Werden, Vergehen und Wieder-Werden« gedacht werden, sondern »als reines Sein, als die wechsellose, keinem Auf und Ab unterworfene Quelle des Lichtes«, aus deren bildlicher Darstellung künftig auch Mensch oder Vogel verschwinden sollen, »so daß nur die pure, lebenstrahlende Sonnenscheibe übrigblieb, mit Namen Atôn« (V, 1367; vgl. Abbildung bei Atôn).

Mut-em-enet sucht sich in ihrer Liebesnot »mit der Religion zu helfen, indem sie sich zugunsten ihrer Neigung [...] gegen den volksstrengen Amun, ihren bisherigen Herrn, auf Atum-Rê von On, den milde-ausdehnungsfreundlichen und den Fremdländern holden, berief und auf diese Weise den Hof, die Königsmacht selbst hinter ihre Liebe brachte« (V, 1090). Anlässlich ihrer »Damengesellschaft« lässt sie das Bildnis Atum-Rês allerdings abhängen (V, 1214).

Zur Verwendung der einzelnen Namensbestandteile im Roman: Der Name Atum und der vom Falkengott Hor abgeleitete Name Horachte (›Hor im Horizont‹) beziehen sich, auch wenn sie allein verwendet werden, stets auf den Gott der ›Zusammenschau‹ von On. – Der Name Atôn dagegen bleibt nahezu ausschließlich für Echnatôns neues Konzept des Sonnengotts reserviert. – Der alte Gottesname meint in der Regel (als Bezeichnung der Mittagssonne) den mittleren Teil der ›zusammengeschauten‹ Gottheit von On, referiert aber auch auf ältere Konzepte des Sonnengottes und begegnet zudem in formelhaften Wendungen, Anrufungen und Gebeten. – Der Name Hor referiert, einzeln verwendet, nur in der Fügung »Hor im Lichtberge« auf den Sonnengott von On (IV, 735), ansonsten auf den (seinerseits vielgestaltigen) Gott Hor (Horus), den Sohn von Isis und Osiris. – Harmachis (svw. ›Hor im Horizont‹) ist der Name der großen Sphinx, die ihrerseits als Bild der Sonnengottheit von Heliopolis betrachtet wird (IV, 742 f.). – Chepre oder Chepere schließlich, der Skarabäus, wird nur einmal als eigene Gestalt angesprochen, als der »Sonnenkäfer, der sich selber erzeugt« (IV, 888).

Die Darstellung der Erscheinungsformen des Sonnengottes stützt sich wesentlich auf Erman/Ranke (42, 48, 58-60, 294, 296, 297 f., 300-305, 462-464); vgl. auch Erman (17-22, 26 f., 28, 49 f., 90, 92, 102 f., 114 ff., 144) und Weigall (8, 25 f.). – Die Wendungen ›Chepre am Morgen, Rê an seinem Mittag und Atum am Abend‹ und »der die Augen öffnet, und es entsteht das Licht, der die Augen schließt, und es entsteht das Dunkel« (IV, 732), entstammen dem bei Erman/Ranke (302-305) mitgeteilten Mythos von Isis und Rê.

Abb.: Vier Gottheiten von Heliopolis (Blatt 24 des Papyrus Harris).

Letzte Änderung: 08.08.2013  |  Seitenanfang / Lexikon   |  pfeil Zurück