Treibel, Jenny

Titelheldin des Romans, Ehefrau von Kommerzienrat Treibel, Mutter von Otto und Leopold Treibel, eine »trotz ihrer hohen Fünfzig« noch »sehr gut« aussehende, »ein wenig asthmatische« Dame (I/5 f.). Sie lebt mit ihrem Mann und dem jüngsten Sohn in einer »modische[n] Villa«, die Treibel in den siebziger Jahren auf seinem Fabrikgelände an der Köpenicker Straße gebaut hat (2/16).

Jenny Treibel, geborene Bürstenbinder, wuchs in der Berliner Adlerstraße auf, wo ihr Vater einen Laden für »Material- und Colonialwaaren« betrieb (8/105). Gerade gegenüber wohnte damals schon Wilibald Schmidt, der sie liebte und ihr Gedichte schrieb, darunter auch das Lied mit der »berühmte[n] Stelle ›Wo sich Herzen finden‹« (7/81), das Anlass ihrer heimlichen Verlobung war (vgl. 7/91) und dem der Roman seinen Untertitel verdankt. Jenny Bürstenbinder gab ihrem ›einzigen‹ Wilibald (vgl. 7/91) allerdings rasch den Laufpass, als mit dem reichen Fabrikanten Treibel ein Heiratskandidat auf den Plan trat, der ihr ein Leben in deutlich höherem Wohlstand bieten konnte als der angehende Gymnasiallehrer Wilibald Schmidt. Dessen Liebeslied jedoch, in dem die Liebe dem »Gold« vorgezogen wird (4/54), ließ sie in »grünen Maroquin« binden (1/9) und gab und gibt es bei ihren Abendgesellschaften mit dünner Stimme, aber viel Gefühl zum Besten, durchdrungen von dem ›Höheren‹ oder ›Idealen‹, das sie darin ausgedrückt findet und dem sie sich ganz verschrieben zu haben behauptet: »Ihm allein verlohnt es sich zu leben.« (3/32)

Dass ihr die Geschmacklosigkeit ihres sentimental-verlogenen Umgangs mit dem Herzensbekenntnis ihrer Jugendliebe verborgen bleibt, liegt an ihrer Selbstwahrnehmung, daran, dass sie sich ihre Hingabe an das ›Höhere‹ ernstlich glaubt und die offen zu Tage liegenden Widersprüche zwischen dem ›Idealen‹ und ihrem Handeln ausblendet. Wilibald Schmidts Charakterisierung seiner Jugendfreundin ist wenig hinzuzufügen: »Es ist eine gefährliche Person und um so gefährlicher, als sie's selbst nicht recht weiß, und sich aufrichtig einbildet, ein gefühlvolles Herz und vor Allem ein Herz ›für das Höhere‹ zu haben. Aber sie hat nur ein Herz für das Ponderable, für Alles, was ins Gewicht fällt und Zins trägt« (7/92).

Dieser ausgeprägte Sinn für das »Ponderable« leitet auch ihren Umgang mit dem Heiratswunsch ihres Sohnes Leopold: Die Tochter ihres Jugendfreundes Wilibald, Corinna, kommt als Schwiegertochter nicht etwa deshalb nicht in Frage, weil sie Leopold nicht liebt (und damit gegen das ›Ideal‹ verstößt), sondern weil sie nicht viel mehr als eine »Bettlade« mit Aussteuerwäsche in die Ehe mitbringen würde (12/173). Und umgekehrt ist es der erklärten Verächterin von »Besitz, Vermögen, Gold« (3/32) auch gleichgültig, dass Leopold die eilends als Heiratskandidatin auserkorene Hildegard Munk nicht liebt. Sie ist eine reiche Partie, das allein zählt.

Jenny Treibel ist, so Schmidt, »ein Musterstück von einer Bourgeoise« (1/15), und was er von den Bourgeois hält, erklärt er seinem Neffen Marcell am Beispiel der Treibels: »Sie liberalisiren und sentimentalisiren beständig, aber das Alles ist Farce; wenn es gilt Farbe zu bekennen, dann heißt es: ›Gold ist Trumpf‹ und weiter nichts.« (7/92)

In einem Brief an seinen Sohn Theodor vom 9. Mai 1888 berichtet Fontane über den neuen Roman, der jetzt »im Brouillon fertig« sei: »Titel: ›Frau Kommerzienrätin oder Wo sich Herz zum Herzen findt‹. Dies ist die Schlußzeile eines sentimentalen Lieblingsliedes, das die 50jährige Kommerzienrätin im engeren Zirkel beständig singt und sich dadurch Anspruch auf das ›Höhere‹ erwirbt, während ihr in Wahrheit nur das Kommerzienrätliche, will sagen viel Geld, das ›Höhere‹ bedeutet. Zweck der Geschichte: das Hohle, Phrasen­hafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige des Bourgeoisstand­punkts zu zeigen, der von Schiller spricht und Gerson meint« (Gerson war der Inhaber eines exklusiven Kaufhauses am Werderschen Markt). Sein fiktives Alter ego und Vertreter der kritischen Norm des Romans, Wilibald Schmidt, charakterisiert seine ›Freundin‹ zwar mit ähnlicher Schärfe, lässt aber insgesamt mehr Nachsicht walten, als diese Briefstelle hätte erwarten lassen, und scheint zuletzt – wenn auch unter Alkoholeinfluss – sogar geneigt, in ihrer verlogenen Sentimentalität letzte Spuren einer »sentimentalischen« Wehmut (im Schillerschen Sinne) zu erkennen (vgl. die Anmerkung zu Wilibald Schmidt).