Briest, Effi

Titelheldin des Romans, zu Beginn der erzählten Geschichte 17 Jahre alt, einziges, verwöhntes Kind der Briests auf Hohen-Cremmen, ein temperamentvolles junges Mädchen, in dessen Erscheinung sich »Übermut und Grazie« paaren (1/6) und dessen braune Augen eine »große, natürliche Klugheit und viel Lebenslust und Herzensgüte« verraten (1/6 f.). Weit entfernt von damenhaftem Betragen (vgl. 1/7), gekleidet in ein weites, »kittelartiges Leinwandkleid« (1/6), entfaltet sie im Spiel mit ihren Freundinnen Hulda, Bertha und Hertha ein kindliches, beinahe jungenhaftes Ungestüm (vgl. 2/14-16). »Immer am Trapez, immer Tochter der Luft« (1/7), hat sie eine Vorliebe für halsbrecherische Spiele, »am liebsten immer in der Furcht, daß es irgendwo reißen oder brechen und ich niederstürzen könnte«, und vertraut auf einen glimpflichen Ausgang: »Den Kopf wird es ja nicht gleich kosten« (4/37). Dem ausgeprägten »Hang nach Spiel und Abenteuer« (5/44) korrespondiert die tiefe Abneigung gegen einen Mangel an Abwechslung: »Was ich nicht aushalten kann, ist Langeweile.« (4/35)

Dass sie sich dennoch, dem Rat der Mutter folgend, mit dem 38-jährigen Landrat Geert von Innstetten verlobt, dessen Charakter mit dem ihren so deutlich kontrastiert, verweist auf einen gegenläufigen Wesenszug der Figur: Ihre Neigung zu naiver Anerkenntnis überkommener sozialer Normen und vorgeprägter Lebensregeln, die ihr einen Einspruch gegen die überstürzte Verlobung verbietet und nur ein »nervöses Zittern« zulässt (vgl. 2/18).

Diese Neigung schließt ein mit ähnlich naiver Selbstverständlichkeit geäußertes Standesbewusstsein ein, wie es sich etwa in ihrer Antwort auf Herthas Frage zeigt, ob Innstetten denn auch der »Richtige« sei: »Gewiß ist es der Richtige. Das verstehst du nicht, Hertha. Jeder ist der Richtige. Natürlich muß er von Adel sein und eine Stellung haben und gut aussehen.« (3/21) Die Anerkenntnis der Standesnorm ist stark genug, den Kontakt zu den eigenen Gefühlen zu unterbinden: »Wenn man zwei Stunden verlobt ist, ist man immer ganz glücklich. Wenigstens denk‘ ich es mir so.« (Ebd.) Auch das ›Genante‹, das dem unvermittelten Umschlag von Fremdheit in Intimität zwischen ihr und Innstetten anhaftet, muss der Norm untergeordnet und überwunden werden: »ich denke, ich werde darüber weg kommen« (ebd.).

Allerdings gehört Effi nach dem Urteil ihrer Mutter auch nicht zu denen, »die so recht eigentlich auf Liebe gestellt sind« (5/43 f.). Ihre Erwartungen an die Ehe sind deutlich von gesellschaftlichem Ehrgeiz und dem Bedürfnis nach Zerstreuung und Vergnügung geprägt (vgl. 4/35 und 5/44). Ihre Reaktion auf die von der Mutter ins Spiel gebrachte Frage, ob sie lieber den unterhaltsamen Vetter Dagobert heiraten würde, lässt erkennen, wieviel ihr an gesellschaftlichem Glanz liegt: Vetter Briest sei »ja noch ein halber Junge«, Innstetten dagegen »ein Mann, ein schöner Mann, ein Mann, mit dem ich Staat machen kann und aus dem was wird in der Welt« (4/37; vgl auch 5/43).

Dem Sinn für gesellschaftlichen Vorrang korrespondiert Effis Sinn für das Besondere, das ›Aparte‹, der bei den Einkäufen mit der Mutter in Berlin zutage tritt: »An dem Besitze mehr oder weniger alltäglicher Dinge« liegt ihr wenig, aber wenn es »ausnahmsweise 'mal wirklich etwas zu besitzen galt, so mußte dies immer 'was ganz Apartes sein« (3/24 f.). Als »was Apartes« erscheint ihr später, in Kessin, auch die bunt zusammengewürfelte Einwohnerschaft der Stadt (vgl. 6/53), mehr noch die Chinesengeschichte und besonders die Trippelli (10/100). Innstetten warnt sie vor dem ›Aparten‹: »Was Dir so verlockend erscheint […] – das bezahlt man in der Regel mit seinem Glück« (10/100 f.) – eine zweischneidige Warnung, denn es ist ja nicht zuletzt seine eigene Neigung zum ›Aparten‹ (zu Spukgeschichten), die ihrer beider Unglück mit befördert (vgl. 16/154 f.).

Seinen Ausgangspunkt hat dieses Unglück aber in dem eintönigen Leben in Kessin, das Effis Charakter und Bedürfnissen gründlich zuwiderläuft und dem entgegenzuwirken Innstetten wenig unternimmt. Auch fehlt ihm das Talent, seiner jungen Frau das einsame, ganz auf Haus und »Plantage« (15/140) eingeschränkte Leben durch »Huldigungen, Anregungen, kleine Aufmerksamkeiten« zu vergelten (13/119). Vielmehr gibt er ihr schon zwei Monate nach der Hochzeit Anlass zu der halb scherz-, halb ernsthaften Bemerkung, er sei »frostig wie ein Schneemann« (9/77). Die »Huldigungen eines guten Menschen«, auf die sie angewiesen ist, erfährt sie von Gieshübler, nicht von ihrem Mann (12/113), und Beistand in ihren Ängsten in dem »Spukhaus« (12/116) leistet Rollo, nicht Innstetten. Dessen Unverständnis und merkwürdiges Verhalten zur Frage des Spuks, mit dem er, wenn man Crampas glauben darf, ›erzieherische‹ Absichten verfolgt, kränken Effi tief (vgl. 17/157).

Ihre kurze, aber Jahre später so folgenreiche Affäre mit Crampas ist gleichwohl weder Revanche an ihrem unachtsamen Ehemann, den sie respektiert, noch Ausdruck tieferer Gefühle für Crampas, den sie nicht liebt (vgl. 33/325). Sie ist vielmehr ihrem ungestillten Bedürfnis nach Abwechslung, Aufmerksamkeit und Zuwendung geschuldet, nicht zuletzt auch ihrer Lust an Abenteuer und Gefahr. »Das Verbotene, das Geheimnisvolle hatte seine Macht über sie.« (20/199)

Obwohl sie sich »wie eine Gefangene« dieser »Macht« fühlt und sehr darunter leidet (20/198), fehlt ihr die Kraft, das Verhältnis aus eigenem moralischem Entschluss zu beenden. Erst der Umzug nach Berlin bringt die »Rettung« (27/275). »Sie läßt sich gern treiben, und wenn die Welle gut ist, dann ist sie auch selber gut. Kampf und Widerstand sind nicht ihre Sache«, bemerkt ihre Mutter, ohne zu ahnen, was der Leser schon weiß (24/255). Der Erzähler bestätigt ihr Urteil: Effi ist »keine starke Natur«, ihren Einsichten fehlt die »Nachhaltigkeit«, so dass »alle guten Anwandlungen […] wieder vorüber[gehen]« (20/199). Bei alledem bewahrt sie jedoch ihre Ehrlichkeit vor sich selbst: »sie sah alles klar und beschönigte nichts« (ebd.).

Der Umzug nach Berlin nimmt ihr die Entscheidung ab, nicht aber ihre Schuldgefühle, die sie während ihres Aufenthaltes in Hohen-Cremmen nach der Dänemark-Reise in einem nächtlichen Selbstgespräch schonungslos analysiert: Nicht die moralische Schuld belaste sie, sondern die »ewige Furcht«, dass ihr Fehltritt »doch am Ende noch an den Tag« kommen könnte (24/258). Und auch ihre Schamgefühle seien nicht in der Ordnung: Sie schäme sich nicht ihrer Untreue, sondern des »Komödienspiels« (20/199), das sie treiben musste, um die Affäre zu verheimlichen: »Ich schäme mich bloß von wegen dem ewigen Lug und Trug; immer war es mein Stolz, daß ich nicht lügen könne und auch nicht zu lügen brauche, lügen ist so gemein, und nun habe ich doch immer lügen müssen, vor ihm und vor aller Welt, im großen und im kleinen […]. Ja, Angst quält mich und dazu Scham über mein Lügenspiel. Aber Scham über meine Schuld, die hab‘ ich nicht oder doch nicht so recht oder doch nicht genug, und das bringt mich um, daß ich sie nicht habe.« (24/258)

Im Laufe der nächsten Jahre fallen die »Beängstigungen« allmählich von ihr ab. »Die Liebe, mit der ihr nicht nur Innstetten, sondern auch fernerstehende Personen begegneten«, das kurzweilige Berliner Leben und gesellschaftlicher Erfolg – Effi wird Ehrendame der Kaiserin – sorgen dafür, dass sich nach und nach alles »wie ein Nebelbild« auflöst (25/262).

Umso härter trifft sie dann, sechs Jahre später, die Scheidung, die Innstetten nach der Entdeckung der Affäre vollzieht und die ihr alle Entfaltungsspielräume nimmt. Das triste Dasein einer geschiedenen Frau, die, von der Gesellschaft gemieden und von ihrem Kind strikt getrennt, von nahezu jedem geselligen Kontakt abgeschnitten leben muss, wird durch die Weigerung der Eltern, sie in Hohen-Cremmen aufzunehmen, noch verschärft. Die Treue Roswithas und die Malstunden bei dem liebenswürdigen alten Malerprofessor können die Einsamkeit und das Leiden daran, »daß einem die Welt so zu ist« (32/315), nur oberflächlich mildern. Als sie dann drei Jahre später, nach dem Nervenzusammenbruch, den sie nach dem unglücklichen Wiedersehen mit Annie erleidet, doch noch nach Hohen-Cremmen zurückkehren darf, lebt sie zwar noch einmal auf, aber ihre Lebenskräfte sind geschwunden. »Das Hüsteln ließ nach, der herbe Zug, der das so gütige Gesicht um ein gut Teil seines Liebreizes gebracht hatte, schwand wieder hin, und es kamen Tage, wo sie wieder lachen konnte.« (34/329) Aber »auf Effis Gesundheit hin angesehen, war es doch alles nur Schein, in Wahrheit ging die Krankheit weiter und zehrte still das Leben auf« (34/330).

Sie selbst nimmt davon nichts wahr, sondern genießt das Glück, wieder in Hohen-Cremmen und mit den geliebten Eltern versöhnt zu sein (vgl. 34/330). Am Ende aber sieht sie ihrem Tod mit eigentümlicher Gelassenheit entgegen: »es hat nicht viel zu bedeuten, wenn man von der Tafel etwas früher abgerufen wird« (36/347). Sie hat ihre Bitterkeit gegen Innstetten überwunden, weiß sich »mit Gott und Menschen versöhnt, auch versöhnt mit ihm« (ebd.), und bittet ihre Mutter, Innstetten wissen zu lassen, dass sie in der Überzeugung gestorben sei, »daß er in allem recht gehandelt« habe (36/348). Ihr letztes Wort über ihn fällt freilich weniger eindeutig aus: »er hatte viel Gutes in seiner Natur und war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist« (ebd.).