Mai-Sachme

Der »Amtmann über das Gefängnis« in Zawi-Rê und spätere Hausvorsteher Josephs in Menfe ist, als Joseph nach Zawi-Rê gebracht wird, ein Mann von ungefähr vierzig Jahren, »gedrungen von Gestalt«, mit »runden braunen Augen unter sehr dichten schwarzen Brauen, kleinem Munde und einem bräunlich geröteten Gesicht, das vom nachwachsenden Barte geschwärzt war« (V, 1307). Dieses Gesicht ist »von eigentümlich ruhigem, ja schläfrigem, dabei jedoch klugem Ausdruck« (V, 1308). Auf den zweiten Blick erkennt Joseph darin »das Bild düsterer Umstände mit durchschlagendem Gotteslicht und geradezu die Miene selbst, die das Leben dem Weh-Froh-Menschen zeigt; denn seine schwarzen Brauen waren drohend zusammengezogen, und dabei spielte ein Lächeln um seinen kleinen Mund« (V, 1308).

Wie dem von ihm verehrten Imhotep, dem legendären Weisen und Baumeister von »Urkönig« Djoser, ist es auch dem ausgemacht ruhigen Mai-Sachme nicht gegeben zu erschrecken, was er gelegentlich bedauert (vgl. V, 1310 f.). Und wie Imhotep (oder wie Martin Gumpert, s.u.) betreibt auch er sowohl die Heilkunde als auch die Schriftstellerei und ist dabei »nicht heute ein Arzt und Schreiber ein andermal, sondern dieses in jenem und eines zugleich mit dem anderen«. Darauf legt er besonderen Wert, denn »Heilkunde und Schreibtum borgen mit Vorteil ihr Licht voneinander, und gehen sie Hand in Hand, geht jedes besser« (V, 1310).

In der Heilkunde verzeichnet er allerdings mehr Erfolge als in der Schriftstellerei. In seinem Dienstzimmer im Turm der Zitadelle hat er »ein rechtes Laboratorium von Stampf- und Reibegeräten, Herbarien, Phiolen und Salbentiegeln, Schläuchen, Destillierkolben und Verdampfungsbecken« (V, 1323) eingerichtet, in dem er Salben, Sude und Kräuter für seine kranken Gefangenen zubereitet. Kaum weniger als mit seinen Arzneien hilft er den Kranken durch die »Ausströmung der Ruhe«, die ihnen den Schrecken nimmt und bewirkt, dass sie »unwillkürlich« Mai-Sachmes Gesichtsausdruck annehmen: »die gerundeten Lippen leicht geöffnet und die Brauen in klugem Gleichmut emporgezogen« (V, 1327).

Im Schriftstellerischen kommt er nicht so recht voran. Er macht mehrere Versuche, die Geschichte von Joseph und Mut-em-enet in poetischer Form zu Papier zu bringen, es »geschah aber immer, daß er beim Schreiben in die musterhafte Geschichte von den zwei Brüdern hineingeriet und diese noch einmal schrieb, woran seine Versuche scheiterten« (V, 1332). Auch sein Plan, sein eigenes entsagungsvolles »Herzensvorkommnis«, seine erste Liebe, »die zugleich meine zweite war« (V, 1314), die Liebe des Zwölfjährigen zu dem Mädchen Nechbet und des Zweiunddreißigjährigen zu deren Tochter Nofrurê (vgl. V, 1315-1318), zu einer schönen Erzählung zu formen, die zudem eine zweite Wiederholung mit Nechbets Enkelin und dem um weitere zwanzig Jahre Gealterten imaginieren soll, kommt über Entwürfe nicht hinaus, weil es ihm nicht gelingt, die ganze Geschichte aus der Sicht eines Sechzigjährigen zu erzählen.

In beiden Disziplinen setzt Mai-Sachme auf eine gewisse Nüchternheit, ohne dabei dem Zauberischen oder Poetischen sein Recht zu bestreiten: Bei der Heilung Kranker vermögen nach seiner Überzeugung magische Rituale allein nichts, sondern bedürfen des »stofflichen Anhaltes profaner Kenntnisse und Mittel« (V, 1325), und die Poesie sollte einer »Gußform des Lebens« gleichen und deshalb ihre Erfindungen nicht gar zu sehr ins Phantastische, Unglaubwürdige treiben (V, 1313 f.). Kritische Strenge liegt ihm allerdings fern, die Liebe zur Poesie überwiegt auch dann, wenn ein Werk allerlei »krause Erfindungen« zeigt, denn »in wie seltsame Gußformen vorschaffender Einbildung ergießt sich nicht manchmal das bewegliche Leben!« (V, 1314)

Sympathie für das »bewegliche Leben« bestimmt auch seine Sicht auf Josephs angebliches Vergehen, das ihm Peteprês Begleitbrief zur Kenntnis bringt. In Liebesdingen, so lässt er wissen, sei »die Weisheit eines […] und das Leben ein anderes«, auch gehörten zu einem Liebeshandel zwei, »was immer die Schuldfrage ein wenig undurchsichtig« mache, und dass die Frau durch den Mann verführt worden sein soll, lässt ihn schmunzeln, wisse man doch, »wessen Auftrag und Kunst die Verführung […] seit den Tagen des Gottes« sei (V, 1313). Die amouröse Geschichte hat für ihn etwas entschieden Poetisches und erinnert ihn sogleich an das Märchen von den zwei Brüdern. Dies und die Schönheit, Bildung und Besonderheit des neuen Gefangenen bedeuten für Mai-Sachme eine »belebende Abwechslung in dem Einerlei dieses festen Platzes, an dem ein schon von Hause aus ruhiger Mann geradezu Gefahr läuft, in Schläfrigkeit zu verfallen« (V, 1314). Er ernennt Joseph zu seinem »Verwaltungsgehilfen« und Aufseher über die Gefangenen und lässt ihm ein »Einzel-Obdach« anweisen (V, 1322). Zu so schonungsvoller Behandlung bewegt ihn ein »untrügliche[s] Gefühl« für die »göttliche Huld, das heißt: für das Göttliche selbst […], das mit diesem Züchtling war« (V, 1329) und das ihn denn doch »ganz ausnahmsweise, in einem sehr weiten und ungenauen Sinn hatte erschrecken lassen« (V, 1328), so dass sich seine Nasenspitze weiß verfärbte (vgl. V, 1309).

Joseph beaufsichtigt die Wirtschaft und bringt Ordnung in die Buchführung des Gefängnisses, die Mai-Sachme zugunsten der Heil- und Dichtkunst vernachlässigt hat, was ihm schon einige Verweise aus der Hauptstadt eingebracht hat (vgl. V, 1330). Oft lässt er seinen neuen Gefangenen in sein Dienstzimmer im Turm rufen, denn »er wollte ihn um sich haben«, erörtert mit ihm Fragen der Medizin und der Dichtkunst, lässt sich seine Geschichte mit Mut-em-enet und die Geschichte mit seinen Brüdern erzählen, und ehe ein Jahr herum ist, sind beide Freunde (vgl. V, 1332).

Als der Eilbote eintrifft, der Joseph zur Traumdeutung zum Pharao bringen soll, hat Mai-Sachme wie bei Josephs Ankunft eine weiße Nasenspitze (vgl. V, 1370), dementiert aber jedes Erschrecken, »denn wie soll einen außer Fassung bringen, worauf man gefaßt war? Die Ruhe ist weiter nichts, als daß der Mensch auf alles gefaßt sei, und wenn es kommt, so erschrickt er nicht«. Aber Rührung über Josephs Versprechen, ihn »nachkommen« zu lassen, erlaubt er sich und verabschiedet den Freund mit einer herzlichen Umarmung (V, 1373).

Als ihn dann tatsächlich der Brief seines »ehemaligen Fronknechts« erreicht mit der Berufung zum »Mann der Übersicht« in Josephs neu errichtetem Haus in Menfe, wartet er die Ankunft seines Nachfolgers in Zawi-Rê nicht ab, sondern reist sofort nach Menfe und trifft Anordnungen zur Einrichtung des Anwesens, so dass Joseph bei seiner Ankunft »seine Stätte schon bestens bereitet fand, ganz so, wie es sich für das Lebenshaus eines Großen geziemt« (V, 1510). Joseph bestimmt, dass sie nicht Herr und Knecht, sondern weiterhin Freunde sind »wie vordem, als ich unter deinen Füßen war, und wollen zusammen durchstehen die guten und bösen Stunden des Lebens, die ruhigen und die erregenden – besonders für die erregenden, die allenfalls kommen werden, brauche ich dich« (V, 1511).

So geschieht es, Mai-Sachme ist immer zur Stelle, und in der erregendsten Stunde – dem Wiedersehen mit den Brüdern – sind seine Ruhe wie auch sein Rat und Beistand ganz besonders gefragt. Erstere, um Josephs Aufgeregtheit zu dämpfen, letztere, um mit ihm die Inszenierung dieser »Feststunde« der Erzählung sorgfältig zu planen (vgl. V, 1587-1597). Dass Mai-Sachme zur Ausschmückung dieser »Geschichte, zu der einem eine Menge einfallen muß« (V, 1594), kaum Einfälle beisteuern kann, die Joseph nicht schon selbst hat, mag ein Licht auf die Grenzen seines schöpferischen Talents werfen, hat aber auch damit zu tun, dass es Josephs Geschichte ist, die er »selber ganz allein ausgestalten muß«, auch damit, dass sie »schon so gut wie geschrieben steht«, denn: »Diese ganze Geschichte steht überhaupt schon geschrieben, Mai, in Gottes Buch, und wir werden sie miteinander lesen unter Lachen und Tränen« (V, 1596).

»Groß ist das Schrifttum«, sagt Joseph mit Blick auf Mai-Sachmes Passion für die schöne Literatur: »Aber größer noch ist es freilich, wenn das Leben selbst, das man lebt, eine Geschichte ist, und daß wir in einer Geschichte sind, einer vorzüglichen, davon überzeuge ich mich je länger, je mehr. Du bist aber mit darin, weil ich dich hineinnahm zu mir in die Geschichte, und wenn in Zukunft die Leute vom Haushalter hören und lesen, der mit mir war und mir zur Hand ging in erregenden Stunden, so sollen sie wissen, daß du es warst, dieser Haushalter, Mai-Sachme, der ruhige Mann.« (V, 1511 f.)

Vorbild für die Figur war der Arzt und Schriftsteller Martin Gumpert (1897-1955), ein Freund der Familie Mann. Die persönliche Bekanntschaft mit TM datiert von einem Besuch in Küsnacht im April 1935 (vgl. TB 2.4.1935). Im Jahr darauf emigrierte er in die USA und eröffnete in New York eine dermatologische Praxis. Im Hotel Bedford, einem Treffpunkt emigrierter Künstler in der 40. Straße, traf er Erika Mann, mit der ihn seit 1937 eine wechselvolle und zuletzt in einem Zerwürfnis endende Liebe verband. Nach Thomas Manns Übersiedelung in die USA (1938) verkehrte er häufig im Haus der Manns, war auch als ärztlicher Ratgeber gefragt. Das Zerwürfnis mit Erika veränderte die Freundschaft zwischen Gumpert und TM nicht. – Im Februar 1945 schreibt TM an Gumperts Schwester Minni Steinhardt, dass er im Frühjahr zu Vorträgen in den Osten der USA reisen werde und sich auf das »Wiedersehen mit dem Urbild von Josephs Fronherrn und Hausmeier« freue (Selbstkommentare, 286). Auch Mai-Sachmes »Herzensvorkommnis« hat in Gumperts Leben sein Vorbild, wie ein Tagebucheintrag TMs vom 21.9.1940 dokumentiert: »G. erzählte drollig von seiner ersten Verliebtheit als 12jähriger und wie er sich später unwissentlich in die Tochter der Damaligen verliebt.« (TB 1940-1943, S. 152) Am 4.10.1940 findet sich der Eintrag: »Gearbeitet am Kapitel, amüsiert von dem Portrait G.'s.« (ebd., S. 159) Von der großen Ruhe, die Gumpert ausgestrahlt haben muss und die Mai-Sachme von ihm bekommen hat, spricht auch Klaus Mann im 10. Kapitel seiner Autobiographie »Der Wendepunkt«. – Abb.: Das Foto von Fred Stein stammt vermutlich aus dem Januar 1945.

Letzte Änderung: 21.09.2015  |  Seitenanfang / Lexikon   |  pfeil Zurück