Mutter

Jedermanns alte Mutter rechnet jeden Tag mit dem Tod, der ihr Leben und Denken bestimmt. Sie vertritt ein altkirchliches Glaubensmodell, das auf Rechtfertigungslehre, Werkgerechtigkeit und Partikulargericht gründet. Um das Seelenheil ihres diesseitsorientierten Sohnes ist sie deshalb sehr besorgt: »Wie aber, wenn beim Posaunenschall / Du von deinen Reichtümern all / Ihm sollst eine klare Rechnung geben / Um ewigen Tod oder ewiges Leben?« (IX, 49) Im Gespräch mit ihm versucht sie, ihn zu einer Umkehr zu Gott und zu einem Leben im Sinne ihres Glaubens zu bewegen: »Wer recht in seinem Leben tut, / Den überkommt ein starker Mut / Und ihn erfreut des Todes Stund / Darin ihm Seligkeit wird kund.« (Ebd.) Ihre Bemühungen sind aber vergebens. Erst als ihr unvermählter Sohn ihr verspricht, dass er eines Tages noch das Sakrament der Ehe empfangen werde, ist sie beruhigt: »Dein Vorsatz ist noch klein und schwach, / Zielt doch auf eine heilige Sach / Und daß du so geantwortet hast / Nimmt von der Brust mir schwere Last« (IX, 51).

Die »Flöten und Schalmein« (IX, 52), die sie hört, als er ihr eine gute, sanfte Nachtruhe wünscht, deutet sie zunächst als Zeichen ihres eigenen bevorstehenden Todes (ebd.). Als sie aber in der Nacht spazieren geht und ein »herrlich Klingen« hört, als »täten alle Engel singen« (IX, 88), weiß sie dies sofort als Ankündigung des Todes ihres nunmehr bekehrten Sohnes zu deuten und zeigt sich versöhnt: »Ich hörs und weiß im Herzen mein / das sind die himmlischen Schalmein. / So singen sie vor Gottes Thron: / Das geht auf meinen lieben Sohn. / Ich spür zu dieser nächtigen Stund / Ist seine Seele worden  gesund.« (IX, 89)