Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32)

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Agathe

Schwester des Mannes ohne Eigenschaften, Ulrich. Sie trifft ihren Bruder beim Begräbnis des Vaters wieder. Zu diesem Zeitpunkt ist sie 27 Jahre alt, seit fünf Jahren verheiratet mit einem Gymnasiallehrer, dem Professor Gottlieb Hagauer, nachdem sie schon mit 19 Jahren Witwe geworden war. Agathe und Ulrich kennen sich als Erwachsene kaum, wenn Ulrich auch bei ihrer zweiten Hochzeit anwesend war. Als Kinder wurden sie nach dem frühen Tod der Mutter getrennt und in verschiedenen Internaten erzogen (III, 1., 673). Nur als Agathe zehn Jahre alt war, waren sie einmal längere Zeit in den Ferien zusammen zu Hause. Bei ihrer ersten Begegnung im Trauerhaus, in dem der Vater aufgebahrt liegt, haben beide zufällig Pyjamas an, die beide wie ein  »Pierrotkleid« aussehen, schwarz-grau und grau-rostrot gewürfelt (675 f.). Agathe ist groß, schlank, blond, sie hat »etwas Hermaphroditisches«, findet Ulrich (III, 2., 686).

An Einzelheiten aus der Vergangenheit beginnen sich die Geschwister nun zu erinnern und an die »Verlassenheit ihrer Kindheit« (III, 3.,706; 5.). Agathe war, anders als Ulrich, ein äußerlich angepasstes Kind (III, 9., 727). Sie hat ihr bisheriges Leben widerstandslos hingenommen, auch ihre Ehen. »Männer waren eine Ergänzung und Vervollständigung des eigenen Körpers, aber kein seelischer Inhalt« (9., 732). Agathe findet ihren Mann, Hagauer, hässlich und etwas abstoßend; auf der Reise zum Begräbnis hatte sie beschlossen, nicht zu ihm zurückzukehren. Sie ist diese »Mißheirat« (III., 10., 733) eingegangen, um sich zu bestrafen, weil sie einen »unwürdigen« Geliebten gehabt hatte (III, 12., 759, 764). Eigentlich möchte sie Hagauer gern ganz und gar loswerden, vielleicht umbringen (10., 743).

Agathe und Ulrich bereuen fast ihr ganzes bisheriges Leben – es war ohne Sinn (10., 735 ff.). Der Erzähler wendet sich an die Leser mit dem Hinweis, »wer das, was zwischen diesen Geschwistern vorging«, nicht schon erkannt habe, möge den Bericht fortlegen. Es werde darin eine »Reise an den Rand des Möglichen« beschrieben, ein Abenteuer, das er niemals billigen könne (12., 761).

Agathe hat das Testament ihres Vaters gefälscht, zuungunsten ihres Mannes (III, 15., 798). Ulrich konnte dem nichts außer der ›Moral‹ entgegensetzen, die er selbst für äußerlich hält. »Für die Dauer der Scheidung« möchte Agathe zu Ulrich übersiedeln (800). Ulrich: »Weißt du, daß wir in das Tausendjährige Reich einziehn?« (801). Das bedeute, denkt er später, »mit Hilfe gegenseitiger Liebe« in einer gehobenen weltlichen Verfassung zu leben (III, 22., 874).

Vor dem Umzug denkt Agathe lange über sich nach (III, 21., 857).Wie Ulrich hatte sie sich vorgenommen, ihr Leben zu beenden, wenn es sich nicht ändere. Ihre Giftkapsel trägt sie jetzt auf der Brust (862).

Dann trifft sie bei Ulrich ein, der sein Haus gar nicht auf sie vorbereitet hat. Gemeinsam schaffen sie eine neue Ordnung. Sie sprechen viel miteinander und möchten sich am liebsten als Zwillinge betrachten, denn sie sind sich sehr ähnlich (III, 25., 908). Auch Platos Gleichnis vom ganzen Menschen, der dann in Mann und Frau geteilt wurde, beschreibt ihre Zusammengehörigkeit (904).

Agathe wird bei Diotima eingeführt, die sie zuerst mit Misstrauen betrachtet. Doch sie gewinnt Diotimas Wohlwollen, weil sie selbst ganz ohne Ehrgeiz ist (III, 27., 934).

Ulrich und Agathe leben eine Zeitlang harmonisch und glücklich zusammen, bis Briefe von Agathes Mann eintreffen (III, 29.). Nun sieht sie ihr Tun zum ersten Mal aus dessen Perspektive und fühlt sich schlecht. Ulrich reagiert kühl (III, 30.).

Sie läuft fort, bis sie nach langen Wegen zu einem einsamen Dichtergrab kommt, das die Inschrift trägt: »Ich war euch nichts« (III, 31., 965). Der Dichter hatte sich vor langer Zeit getötet, und auch sie hatte wieder an Selbstmord gedacht. In dieser Situation, die an einen Roman der Romantik erinnert, erscheint ein Herr, der versucht, sie mit allgemeinen Belehrungen zu trösten. Er heißt Lindner und ist Lehrer am Gymnasium wie ihr Mann, den er kennt (971).

Am Abend desselben Tages nimmt Agathe mit Ulrich an Diotimas großer Abendgesellschaft teil, und sie sind einander wieder sehr nah (III, 38., 1024 f., 1029). Aber Ulrich muss weiter mit den anderen Gästen reden, und sie geht vorzeitig.

Am nächsten Morgen denkt sie im Gespräch mit ihm: »Wie schön wäre es, wenn er nichts sagte als: ›Ich will dich lieben wie mich selbst [...]‹« (1059). Und dann geht sie, denn »›im nächsten Augenblick hätte es uns aus den Kleidern geschält wie ein silbernes Messer [...]‹« (1062).

Sie sucht Lindner auf, um Rat zu finden und eine »Lebensschulstunde« nachzuholen (1071). Der durch sie erregte Tugendprediger mahnt sie wortreich zur Pflicht gegenüber ihrem Mann, aber am Ende ist sie die Überlegene, und er bleibt beschämt zurück. Agathes Gewissen bleibt dennoch manchmal bedrückt (1097).

An einem Mondschein-Abend zu Hause kommen sich Agathe und Ulrich sehr nahe mit Seelen und Körpern; aber Agathe sagt ihm plötzlich Gute Nacht (1087).

Kapitel 46 heißt »Mondstrahlen bei Tage«. Agathe und Ulrich verbringen viel mußevolle Zeit im sommerlichen Garten. Er spricht über »taghelle Mystik«, die Einheit der Gegensätze (1089 f.). Sie denkt: »Er will nicht, daß es bloß eine Liebesgeschichte werden soll«; ihre sei »überhaupt die letzte Liebesgeschichte, die es geben kann!« (1094). Aber ihre »ungewisse Leidenschaft, die sich nicht an einem Verbot gebrochen hatte, sondern an einer Verheißung«, schlägt auch ungesund in die Körper zurück (1096). Sie haben sich ganz aus der Gesellschaft zurückgezogen, wandern durch die Stadt und sprechen über Liebe und Schönheit. Sie sind »die Ungetrennten und Nichtvereinten« (1104).

Beide verbergen etwas voreinander: Ulrich schreibt Tagebuch, Agathe liest es, und sie geht noch mehrmals zu Lindner, um im Streit mit ihm ein Ventil zu haben. Aber es ist auch eine  »Widersetzlichkeit« gegen die Abhängigkeit von Ulrich (1180). (In einem Entwurf gibt es ein Kapitel, in dem Agathe mit einem Rechtsanwalt über ihre Scheidung spricht; vgl. 1472 ff.).

Arnheim, Dr. Paul

Er wird als »großer Mann« bezeichnet, als er zum ersten Mal erscheint (23., 96). Man liest aber schon im ersten Kapitel des Romans über ihn, als zwei Personen auf einer Wiener Straße gehen: »Angenommen, sie würden Arnheim und Ermelinda Tuzzi heißen, was aber nicht stimmt [...], so steht man vor dem Rätsel, wer sie seien« (1.,10).

Arnheim macht am gleichen Tag Diotimas Bekanntschaft wie Ulrich. »Er war unermeßlich reich. Sein Vater war der mächtigste Beherrscher des ›eisernen Deutschland‹« (23., 96). Er ist über vierzig Jahre alt. Arnheim wohnt in einem teuren Wiener Hotel und hat einen 16jährigen Mohrenjungen, Soliman, als Diener bei sich. Er ist, sagt man, jüdischer Abstammung (108). Er hat, der Mode entgegen, einen kleinen spitzen Kinnbart und einen kurzgeschorenen Schnurrbart (92., 421). Reichtum hält er für eine Charaktereigenschaft. Er weiß, dass »die Natur des Geldes« Vermehrung will wie die des Tieres die Fortpflanzung (420). Arnheim fördert vielversprechende Menschen und Projekte, aber niemals mit Geld, das wäre »Meuchelmord am Geld« (420).

Arnheim gilt als bedeutender Geist. Er hat gerühmte Bücher geschrieben und vereint aus Diotimas Sicht Wirtschaft und Seele (26.,108). Sein kurzer Besuch bei ihr macht auf ihn ebenso wie auf sie Eindruck (109). Ihr sagt sein »phönikisch-antiker Typus« zu (109). Er will sich, wie er sagt, im Barockzauber Wiens vom Materialismus erholen. Diotima meint nun, er, der Preuße, müsse die geistige Leitung der Parallelaktion übernehmen.

Zur ersten großen Sitzung der Aktion hat sie Arnheim eingeladen (»Sie war damals bereits verliebt in Arnheim« - 42.,168). Das verwundert die leitenden Herren, doch sie nehmen es hin (174). Ulrich kann ihn nicht ausstehen, »grundsätzlich, das Muster Arnheim. Diese Verbindung von Geist, Geschäft, Wohlleben und Belesenheit war ihm im höchsten Grade unerträglich« (176 f.). Er beobachtet den »harten Herrenkaufmannsschädel, das scharfe, aber wie aus zu wenig Material und darum flach gebildete Gesicht, die englische Herrenschneiderruhe der Figur und [...] die etwas zu kurzfingrigen Hände« (178).

Arnheim sagt später, ihn ergreife dieser österreichische Jubiläumsplan, denn in diesem Land habe sich der Geist des Rechnens und der Gewalt noch nicht ganz durchgesetzt; nur von hier könne die »Erlösung des deutschen Wesens vom Rationalismus ausgehen« (114., 569).

Arnheim hat ebensowenig wie Diotima je geliebt. »Von Diotima weiß man es, aber auch der große Finanzmann besaß eine in erweitertem Sinne keusche Seele« (45., 185). Er hat mit Frauen gelebt, denen er nicht Gefühle, sondern Geld gab, um nicht enttäuscht zu werden. Auch hat er noch nie einen Freund gehabt. Das »Schicksal« hat Diotima für ihn bestimmt. »Wir übergehen mit Ehrfurcht, was anfangs gesprochen wurde«, heißt es, als beide nach der ersten Zusammenkunft der Großen Aktion zurückbleiben (185).

Es wird erzählt, dass Arnheim in seiner Berliner Wohnung einen Saal voller religiöser Skulpturen hat, bei deren Anblick er das Feuer eines mythischen »Frühzustands der Seele« empfindet (187). Ein Zurückgehen hinter Verstand und Moral erlebt er wohl auch jetzt mit Diotima (188).

Er kehrt von seinen vielen Reisen immer wieder nach Wien zurück. Die Wiener halten ihn für »einen Sonderling, der Gedichte schrieb, den Kohlenpreis diktierte und der persönliche Freund des deutschen Kaisers war« (47., 188). Arnheim ist »ein außerordentlicher Redner« (48.,189) und hat das Talent, nie in etwas Einzelnem überlegen zu sein, sondern durch ein »sich selbst erneuerndes Gleichgewicht in jeder Lage obenauf zu kommen« (194). Als er einmal neben Sektionschef Tuzzi sitzt, sieht er aus wie ein Bremer Handelsherr neben einem levantinischen Taschendieb (49., 195).

Arnheim beurteilt die Zeit allgemein als hoffnungslos – aber jeder Augenblick könne der einer »Weltwende« sein! (49.,198). Für ihn ist die vaterländische Aktion so etwas wie der Schwimmgürtel für den Ertrinkenden angesichts der Gefahr, in Liebe zu Diotima zu versinken (196). Angesichts Diotimas empfindet Arnheim »die Verzagtheit des Moralisten, dem auf einmal und unerwartet der Himmel auf Erden begegnet« (50.,199).

Arnheim hat in Wien drei Gegner: Sektionschef Tuzzi, Ulrich und seinen kleinen Diener Soliman. Auch dem Grafen Leinsdorf ist Arnheim »nicht angenehm«, ihm missfällt, dass der Preuße alles beobachtet - wie ein Spion? (58., 231).

Arnheim erzählt Diotima, dass sein Großvater mit einem Müllabfuhrgeschäft in einer rheinischen Mittelstadt begonnen habe; sein erfolgreicher Vater habe nur zwei Klassen einer Handelsschule besucht (65., 269). Er hat das Bedürfnis, sich ihr »ungeschützt anzuvertrauen« (270).

Sein Erfolg steigt, er ist oft auf Reisen (78.). Eines Wintermorgens gegen Ende des Jahres 1913 reflektiert Arnheim in seinem Wiener Hotel über sich und der Erzähler über ihn. Er ist eine Herrschernatur, die sich in Szene zu setzen weiß. Aber die Liebe zu Diotima, die ihn mit fast 50 Jahren ergriffen hat, bereitet ihm »beträchtliche Unannehmlichkeiten« (86., 382). »Diotima war das erste Weib, das sein hintermoralisches, geheimeres Leben ergriff« (393), und es nützt ihm wenig, ihren niederen Rang zu bedenken.

Arnheim ist wie ein Prinz aufgewachsen, hat aber andere gegen Unrecht kämpferisch verteidigt; als Student in Zürich hat er sozialistische Ideen kennengelernt und in Berlin Arbeiterversammlungen besucht (385). In seinen Schriften ist irgendwann das Wort »Seele« aufgetaucht – damit glaubte er, einen Vorsprung zu haben, »denn sicher ist, daß Fürsten und Generale keine Seele haben, und von Finanzleuten war er der erste« (389). Dabei klingen seine Thesen wie Weisungen, und sein Machtdrang verbindet sich mit der Leidenschaft zu ordnen (390). Doch »wer ihn deshalb tadeln möchte, sollte bedenken, daß eine doppelte geistige Persönlichkeit zu besitzen, schon längst nicht mehr ein Kunststück ist, das nur Narren fertigbringen« (391).

In Kapitel 101 wird von einem langen Gespräch zwischen Ulrich und Diotima erzählt, das sich vor allem um Arnheim dreht. Arnheim ist eine Anstrengung für Diotima, die ihn liebt.

»Hohe Liebende haben nichts zu lachen«, ist Kapitel 105 überschrieben. Arnheim hat Diotima die Heirat angetragen, aber sie hat ausweichend geantwortet. Beide träumen und reden von Ehebruch und Scheidung, aber ihr Sinn für Legitimität hindert sie an irgendwelchen Entschlüssen. Arnheim spricht »mißbilligend von der Begehrlichkeit und fühlte sie indes wie einen geblendeten Sklaven im Kellergeschoß rumoren« (503). Beide wissen, dass sie sich »jede Sekunde bekommen« können, nicht aber, »wie sie es wollen sollten« (504). So beschwören sie ihre seelische Gemeinschaft.

Arnheim denkt nun wieder über die Seele nach und über das, was die Menschen antreibt: die Ichsucht. Wenn Gott heute das Tausendjährige Reich aufrichten wollte, würde Arnheim ihm raten, es nach kaufmännischen Grundsätzen einzurichten (106., 508). In seinem Inneren gibt es aber eine zweite Stimme, die nicht für Moral und Vernunft spricht, sondern ihm nahelegt, »einem irrenden Satelliten gleich in die Sonnenmasse Diotimas zu stürzen« (509). Doch in dem Augenblick, »wo er sich ohne Rücksicht auf seine Beinkleider und Zukunft Diotima zu Füßen stürzen wollte, gebot ihm eine innere Stimme Einhalt« (510). Wie sollte die Ehe, der Alltag mit ihr sein? Wenn er Diotima ansieht, wird er von einer Art Stupor befallen; eigentlich könnten sie sich nur gemeinsam in den Weltraum schießen lassen! (510). Bei ruhiger Überlegung kommt er zu dem Schluss, ein verantwortungsvoller Mann dürfe nur die Zinsen, nicht das Kapital seiner Seele opfern (511).

Arnheim gibt sich weiteren Reflexionen hin, zeitweise mit Soliman – von dessen Gegnerschaft er nichts ahnt – als Zuhörer. Er arbeitet sich in Gedanken an Ulrich ab, für den er nichts bedeutet – das irritiert ihn. Er hält den Jüngeren für einen reinen Verstandesmenschen und verachtet das (539), meint aber etwas später, Ulrich habe »Seele« (548). Arnheim verehrt das Irrationale. Sein Vater Samuel, ein großer Rechner, trifft Entscheidungen mittels Intuition (543).

Später möchte Tuzzi unbedingt von Ulrich wissen, was »Seele« bei einem Mann wie Arnheim bedeute. Ulrich meint, dass Arnheim vieles von Maeterlinck habe, beide seien begabte Eklektiker (III, 16., 804).

Als Ulrich Arnheim allein in Diotimas Haus antrifft (Kap. 121), führen sie ein längeres Gespräch über Ulrichs Thesen. Arnheim erklärt ihm, wie heutzutage Wirtschaft und Staat funktionieren: indirekt. Auftraggeber und Ausführung seien getrennt, es würden nur Knöpfe gedrückt – so bleibe das gute Gewissen des Einzelnen und der Gesellschaft erhalten (638). Ulrich fragt kess, ob diese Arbeitsteilung auch für Arnheims Beziehung zu Diotima und Tuzzi gelte (640). Er habe gehört (durch Fischel), Arnheim sei wegen seiner Ölinteressen in Galizien hier. Das bringt Arnheim in Verlegenheit; trotzdem schlägt er Ulrich vor, in seine Unternehmungen einzutreten (647).

Zu Beginn des dritten Teils bestätigt General Stumm Ulrichs Information. Arnheim verhandle hart über den Kauf der Ölfelder und den künftigen Verkauf von Öl und Kanonen an Österreich (III, 13., 774 f.).

Inzwischen hat Arnheim sich stillschweigend von Diotima zurückgezogen. Sie hat deshalb auch das Interesse am »Konzil« verloren, gibt aber trotzdem noch eine große Abendgesellschaft mit den Mitgliedern und vielen anderen Gästen. Hier treffen beide noch einmal kurz zusammen; in Gedanken nennt sie ihn »erotischer Feigling« (III, 38., 1036).

Im Sommer informiert General Stumm Ulrich über die weitere Entwicklung. Die Parallelaktion sei durch einen Weltfriedenskongress im Herbst ersetzt worden, Diotima dürfe sich nur noch nach Weisung betätigen. Und Arnheim? »Jetzt ist bestimmt nichts zwischen ihnen«, erklärt Stumm (1135). »Diotima und Arnheim sind große Seelen, und das wird schon deshalb nie ordentlich klappen« (1137).

Modell für Arnheim war Walther Rathenau, den Musil 1914 kennengelernt hatte.

Bonadea

Sie wird zu Beginn des Romans Ulrichs Geliebte, er nennt sie »Bonadea«. Als er nach einem Überfall auf der Straße lag, kam sie zufällig mit einem Taxi des Weges und konnte ihn retten. »Zwei Wochen später war sie schon seit vierzehn Tagen seine Geliebte« (7., 30). Bonadea »ist die Gattin eines angesehenen Mannes und die zärtliche Mutter zweier schöner Knaben« (12., 42), ihr Mann ist ein hoher Richter. Die Liebessüchtige hat in Ulrich ein neues Opfer gefunden.

Bonadea ist sehr eifersüchtig. Als Ulrich sich zurückzuziehen beginnt, sucht sie ihn von sich aus auf und macht ihm eine Szene, die zur Liebesszene wird. Aber Ulrich langweilt sich dabei (29., 115 ff.), und nach weiterem Streit mit ihm geht sie (33.,128).

Mehrere Monate später besucht sie ihn unangemeldet an einem Winter-Vormittag. Sie hat beschlossen, nur noch Ulrich als Geliebten zu haben, um gegen andere Versuchungen gefeit zu sein (62., 259). Aber Ulrich erweist sich gegen die Versuchung seinerseits gefeit (266).

Auf einer Polizeiausstellung trifft sie ihn nicht zufällig wieder. Immer noch besteht ihr Bedürfnis, »die flatterhafte Fahne ihrer Lust [...] auch am freien Ende festzubinden«, nämlich an Ulrich (98., 446). Im Unterschied zur kakanischen (k. und k. = kaiserlich-königlichen) Politik lebt Bonadea ihr Doppelleben als System. »Bonadea, die gute Göttin, [...] besaß ein System, und die Politik in Kakanien besaß keines.« (109., 522): Man muss, so der Erzähler, sein Lebenssystem so ausbilden, dass der Lusthaushalt mit einem kleinen »Glücksüberschuss« abschließt (109., 523). Wie bei andern, so dienen auch bei Bonadea die wichtigsten geistigen Vorkehrungen »der Erhaltung eines beständigen Gemütszustands« (527). Dabei »ist es doch ein äußerst künstlicher Bewußtseinszustand, der dem Menschen den aufrechten Gang zwischen kreisenden Gestirnen verleiht und ihm erlaubt, inmitten der fast unendlichen Unbekanntheit der Welt würdevoll die Hand zwischen den zweiten und dritten Rockknopf zu stecken« (527).

Im Spätwinter, d.h. im Januar/ Februar 1914, hält Bonadea ihre Sehnsucht nach Ulrich nicht mehr aus und sucht ihn nach einigem Zögern in Diotimas Haus auf, als eine Sitzung des »Konzils« stattfindet. Ulrich zeigt sich gerührt von ihrer Liebe zu ihm und spricht ohne Ironie mit ihr. Sie sehen gemeinsam aus dem Fenster von Diotimas Zimmer in die dunkle Winternacht. Dann verabschiedet er sie für lange Zeit (115.).

Nach dem Begräbnis seines Vaters im März (1914) erfährt Ulrich, dass Bonadea inzwischen mehrmals bei Diotima war. In einem Gespräch mit Diotima bezeichnet er Bonadea als Nymphomanin (III, 17., 820). Aber dann trifft er die schöne Freundin auf der Straße und sie besucht ihn. »Bonadea oder der Rückfall« heißt das Kapitel 23 des »Zweiten Buches«. Sie erklärt ihm die neuesten Sexualtheorien, mit denen sich Diotima beschäftigt. Der Zeitgeist verlange, die Ehe zu beleben, und viele Ratschläge dazu kommen von Sexual-»Turnlehrern« (882). Ulrich amüsiert sich und der Abend endet in seinem Bett. Dann zieht seine Schwester Agathe zu ihm, und er trifft Bonadea bei Diotimas großer Gesellschaft (III, 36., 1013).

Clarisse

Clarisse ist das »genialste Werk« ihres Vaters, des bekannten Malers und Ausstatters van Helmond (70., 291). Mit 22 Jahren (drei Jahre vor Beginn der Erzählung) hat sie Ulrichs Jugendfreund Walter geheiratet. Ulrich besucht das Paar öfter, ihre Ehe hat einen dramatischen Charakter. Walter beobachtet Clarisse und Ulrich eifersüchtig und erklärt, Ulrich sei doch nur ein Mann ohne Eigenschaften: »Nichts ist für ihn fest« (17., 64 f.). »So ein Mensch ist doch kein Mensch!«. Darauf Clarisse: »Das sagt er doch selbst.« (65)

»Clarisse und ihre Dämonen« ist das Kapitel 38 überschrieben, in dem Walter und Clarisse entfesselt zusammen Klavier spielen. Clarisse schlägt in einem Brief an Graf Leinsdorf vor, ein Nietzschejahr zum österreichischen Jubiläum zu veranstalten und etwas für den Mörder Moosbrugger zu tun, weil er mit Nietzsche die Geisteskrankheit gemeinsam habe (56., 226).

Später kommt Clarisse zu Ulrich, »um ihm eine Geschichte zu erzählen« (Kap. 70): Als sie 15 Jahre alt war, hatte sich ihr Vater in ihre Freundin Lucy Pachthofen verliebt. Nach der Trennung von Lucy war er eines Nachts zu ihr gekommen; sie konnte ihn verstehen, wusste aber den drohenden sexuellen Übergriff des Vaters zu verhindern (70., S. 291 f.).

Ulrich macht Clarisse Vorwürfe wegen ihres Briefes an Graf Leinsdorf. Sie treibt die Absurdität auf die Spitze, indem sie ein »Ulrich-Jahr« vorschlägt. Sie redet wie in Trance, »sie war abwesend und anwesend« (82., 354 f.); weil Ulrich ihrem Mann im Weg ist, habe sie ihm geraten, Ulrich zu töten.

Clarisse scheint sich zunehmend zu verwirren, doch wird ihr Innenleben aus ihrer eigenen Sicht geschildert. Sie erinnert sich an kleine sexuelle Übergriffe in der Kindheit, an ihr Muttermal in der Leistenbeuge, bei dem der Vater Halt machte. Muttermal und Mutter verbinden sich, und sie meint, dass sie vielleicht »Gottesmutter« werden solle (97., 444).

Später spielt sich »eines jener ›fürchterlichen‹ Erlebnisse ab, an denen diese Ehe so reich war« (606). Clarisse will Nietzsche lesen, Walter an einer Kundgebung gegen die vaterländische Aktion teilnehmen. Die Diskussion darüber, wer gehen oder bleiben soll, wird zu einem Streit über Walters Wunsch nach einem Kind und Clarisses vehemente Ablehnung. »›Sie ist wahnsinnig!‹ fühlte Walter« (614). Nach einigem Wagner-Klavierspiel kommt er zu den Schluss, dass sie beide in einem unzurechnungsfähigen Zustand gewesen seien (613).

Am Abend desselben für ihn ereignisreichen Tages findet Ulrich Clarisse in seinem Haus vor. Sie weiß, dass Walter sie für verrückt hält, »sobald sie etwas von ihrer höheren Einsicht in ihrer beider Zustand merken ließ« (123., 656). Nun will sie das Kind von Ulrich und erklärt, Walter würde sie durch ein Kind beherrschen wollen (657). Sie zitiert Ulrich, der gesagt habe, der Zustand, in dem wir leben, habe »Risse, aus denen ein unmöglicher Zustand hervorschaut« (659). Niemand könne sein Leben in Ordnung halten, aber sie sagt sich, man müsse durch diesen Riss, dieses Loch hinaus! »Und ich kann das!« (659). Dann rückt sie ihm auf den Leib, weil sie von ihm, dem ›Barbaren‹, den Erlöser der Welt empfangen werde (660). Wieder droht sie, ihn zu ermorden. Aber er widersteht ihrer Verführung und erklärt: »Ich will nicht, Clarisse!« (661). Und sie geht.

Ulrich besucht sie und Walter nach der Rückkehr aus seiner Heimatstadt und findet dort den Dichter und »Propheten« Meingast, einen Jugendfreund von Clarisse, vor. Gegen Abend beobachten alle vier durchs Fenster einen Exhibitionisten, der immer wieder aus dem Schatten tritt, um Frauen oder Mädchen zu erschrecken, was ihm aber lange nicht gelingt. Außer dem Dichter betrachten alle den schmächtigen, blassen Mann als Kranken (III, 14., 786 ff.), und der Erzähler nimmt zeitweise seine Perspektive ein.

Während Siegmund, Clarisses Bruder, und Walter den Garten auf das Frühjahr vorbereiten, redet Clarisse ekstatisch auf Meingast ein, über die »Sündengestalt« und die »Lichtgestalt« des Menschen (III, 26., 923); er ist erschrocken über sie und flieht zu seiner Arbeit. Der nüchterne Arzt Siegmund erklärt schließlich sowohl Clarisse als auch Walter für »verrückt«, wenn auch nicht im klinischen Sinn (928). Clarisse will unbedingt Moosbrugger sehen und ihn retten. Sie würde den Mörder gern durch fortdauerndes Klavierspiel erlösen (III, 19., 836).

Es gelingt ihr endlich, zusammen mit ihrem Bruder, Ulrich und General Stumm das »Irrenhaus« besichtigen zu dürfen, in dem Moosbrugger untergebracht ist. Ein Dr. Friedenthal führt sie wie ein »Spielleiter« oder »Zauberer« (III, 33., 986, 989) durch das Haus, in überlegter Abstufung von harmlosen bis zu schreckenerregenden Fällen. Clarisse ist zufrieden, obwohl es aus Zeitmangel nicht mehr zum Besuch bei Moosbrugger kommt (992).

Diotima (Ermelinda Tuzzi)

Ihr Name begegnet im ersten Kapitel, das einen Autounfall im August 1913 schildert. (1.,19). Ulrichs Vater schreibt dem Sohn, bei der von Graf Leinsdorf geplanten Jubiläumsaktion spiele Ulrichs »Kusine« (Tochter eines Vetters der Frau des Onkels), die Gattin des Sektionschef Tuzzi, eine bedeutende Rolle, Ulrich möge sie endlich besuchen (19.,79). Hans Tuzzi leitet, obwohl ein Bürgerlicher, die wichtigste Sektion des Ministeriums des Äußern und gilt als rechte Hand des Ministers (22., 92).

»Die Parallelaktion steht in Gestalt einer Dame von unbeschreiblicher geistiger Anmut bereit, Ulrich zu verschlingen«, ist das Kapitel 22 überschrieben (22., 91).

Ermelinda, die etwa so alt ist wie Ulrich, heißt eigentlich Hermine. Ulrich fällt als erstes ihre Hand auf, die »fett und gewichtslos« ist und »wie ein dickes Blütenblatt« in seiner liegt (93). Dann fällt sein Blick auf die Wülste an ihrem Hals. Ihre Haarfrisur erinnert ihn an ein Wespennest. Er empfindet etwas Feindseliges, zweifelt aber nicht, dass sie schön ist und es weiß. »›Wahrhaftig‹, dachte er, ›eine Hydra von Schönheit!‹« (95).

Ulrich gegenüber begeistert sie sich für die geplante vaterländische Aktion zum 70jährigen Thronjubiläum des österreichischen Kaisers 1918 als das Wichtigste und Größte überhaupt (93). Allerdings denkt sie an nichts Bestimmtes. Sie hält ihm eine »Thronrede« über Seele und Gefühl (94). Als sie ihn entlassen hat, denkt er, diese »Seelenriesin« und er würden »einander große Unannehmlichkeiten durch Liebe« bereiten; er kommt sich vor wie ein »schädlicher, kleiner Wurm, den ein großes Huhn aufmerksam betrachtet« (95).

Diotima war die älteste von drei Töchtern eines Mittelschullehrers, mit viel Ehrgeiz und Träumen ausgestattet, aber ohne Aussicht, sie zu verwirklichen. Tuzzi schien zunächst eine bescheidene Wahl; er war nur »Vizekonsul« und sah aus »wie ein lederner Reisekoffer mit zwei dunklen Augen« (24., 102). Doch er steigt auf. Ermelindas in der höheren Töchterschule erworbenes Wissen und ihre Fähigkeit, alles Lernenswerte wie ein Schwamm aufzusaugen, setzt sie in den Stand, einen »Salon« zu führen, in dem geistvoll geplaudert wird (24., 98). Zahlreiche »Verweser des Geistes auf Erden« werden von ihr eingeladen, auch die Damen, die das ungebrochen Frauliche zu verkörpern haben (100). Besonders gern treffen sich auch junge Paare unauffällig bei ihr.

»Leiden einer verheirateten Seele« heißt das Kapitel 25. Diotima sieht »Geist« und »Seele«, die sie verehrt, als Gegensatz zu »Zivilisation«, die sie verachtet – und das betrifft auch ihren Mann (25., 103). Der hat seine Liebespraktik wie üblich in einem Bordell gelernt und enttäuscht seine Frau (105). Nun konzentriert sie sich auf die Suche nach der krönenden Idee der »Parallelaktion« (106).

Der als reich und bedeutend bekannte Preuße Dr. Paul Arnheim macht ihr einen Besuch, von dem beide beeindruckt sind. »Arnheim wurde entzückt, als er in Diotima eine Frau antraf, die nicht nur seine Bücher gelesen hatte, sondern als eine von leichter Korpulenz bekleidete Antike auch seinem Schönheitsideal entsprach« (25.,109). Nach weiteren Besuchen Arnheims ist sie in ihn verliebt, aber sie hat »keine Ahnung von der Natur ihres Gefühls«. »Die Parallelaktion war für Diotima und Arnheim sozusagen die Verkehrsinsel in ihrem anschwellenden seelischen Verkehr« (42., 168). Beide scheinen »den höchsten Vorbildern platonischer Seelengemeinschaft« nachzueifern, meint Ulrich (67., 281).

Diotima, die die Aktion vor allem als anti-materialistisch betrachtet, verschanzt sich im Gespräch mit dem spöttischen Ulrich »in ihrem hohen Körper wie in einem Turm, der im Reisehandbuch drei Sterne hat« (66., 272). Aber sie gewöhnen sich durch gemeinsames Tun aneinander. Ulrich denkt, sie wäre angenehmer, wenn sie nicht ein törichtes Musterkind der Gesellschaft wäre, sondern einfach ein sinnliches Tierwesen (67., 276). Ihrem »Idealismus« setzt er immer eine äußerlich materialistische Erklärung entgegen ( 280).

Endlich tagt der »Ausschuß zur Fassung eines leitenden Beschlusses in bezug auf das Siebzigjährige Regierungsjubiläum Sr. Majestät« (71., 297) – von Tuzzi spöttisch das »Konzil« genannt (77., 325) – im Hause Tuzzi, das dadurch einem »geistigen Heerlager« gleicht (71., 296 f.). Für jeden Einzelnen ist Dichten und Denken Beruf, aber was von der versammelten Menge erwartet wird, ist unklar (300).

General Stumm, der inzwischen zum »Konzil« gestoßen ist (durch Diotimas Zofe Rachel, wie man später erfährt), schwärmt für Diotimas »imponierend weibliche Fülle« (85., 375) und ist überzeugt, dass sie Arnheim liebt, mit dem er sich sogar identifiziert (376). Diotima fürchtet sich aber vor dem General, er erinnert sie an den Tod (101., 466). Mit »Vetter« Ulrich hat sie ein langes Gespräch am Rande eines Konzilstreffens, das zuerst in der Garderobe, dann in Rachels Kammer stattfindet.

Arnheim, der ihr die Heirat angetragen hat, aber nicht darauf zurückgekommen ist, bedeutet eine Anstrengung für sie (475). Ihre Seele »lehnte sich gegen ihren an Sektionschef Tuzzi verheirateten Körper auf«, aber »zuweilen lehnte sich auch ihr Körper gegen die Seele auf, die durch Arnheims zögernde und übersteigernde Liebe am Rand einer Wüste schmachtete« (475). Sie wirft Ulrich eine negativ kritische Haltung vor, gegenüber allem. Er sei das Gegenteil von Arnheim. Die intime Situation des Gesprächs lässt sie an erotische Möglichkeiten denken (476 f.; vgl. auch III, 16.).

Darauf werden wir Zeugen privater Augenblicke zwischen Diotima und Arnheim unter der Überschrift »Hohe Liebende haben nichts zu lachen«. Auf seinen Vorschlag, ihn zu heiraten, hatte Diotima ihm dankbar die Hand gedrückt und mit einem Lächeln geantwortet: »Niemals lieben wir die, welche wir umarmen, am tiefsten...!« (105., 502). Sie sprechen im allgemeinen viel von Ehebruch, Scheidung, Verboten. Aber sie achten die Legitimität, deshalb sind sie »in der Lage von Menschen, die eine herrliche Brücke verbindet, in deren Mitte ein Loch von wenigen Metern das Zusammenkommen verhindert« (503).

Später, in den ersten Wochen des Jahres 1914, gehen Diotima, Arnheim und Ulrich in die Hofbibliothek, einer Anregung Graf Leinsdorfs folgend. Während sie mit General Stumm auf ein Taxi warten, ergibt sich ein vertrautes Gespräch zwischen Diotima und Ulrich. Wie soll sie sich zwischen Arnheim und Tuzzi entscheiden? Ulrich fragt: »Wollen Sie es mit mir versuchen?« (114., 573). Zur Verabschiedung sagt Diotima zu ihm: »Jedes andere Gefühl als das grenzenlose ist wertlos« (576).

Ulrich besucht Diotima nach der Rückkehr aus seiner Heimatstadt, sie ist leidend aus banalen, aber auch inneren Gründen. Sie verabschiedet die Seele und findet nun das Leben wichtiger, worauf Ulrich bemerkt: »Die ›grenzenlose Liebe‹ ist Ihnen wohl nicht gut bekommen?« (III, 17., 813). Diotima liest jetzt Bücher über die Ehe und möchte Tuzzi »etwas mehr Seele beibringen« (816). Zur neuen Parole erklärt sie: »Unser Jahrhundert dürstet nach einer Tat!« Ulrich: »Aber welche Tat?« Darauf Diotima: »Ganz gleich!« (812).

Ulrichs Schwester Agathe wird bei ihr eingeführt und gewinnt »die huldvolle Neigung der gewaltigen jungen Frau«, deren Ehrgeiz ihr ganz fremd ist. Agathe bestaunt sie wie eine »riesige Elektrizitätsanlage« (III, 27., 934). Etwas später wird Diotima von ihren politischen Freunden veranlasst, eine große Gesellschaft zu geben, obwohl sie selbst all diesem jetzt gleichgültig gegenübersteht (III, 34. - 38). Das Konzil ist unverkennbar zusammengebrochen. Diotima trifft bei dieser Gelegenheit Arnheim wieder, ohne dass sie miteinander reden (III, 38., 1036).

Im Sommer besucht General Stumm Agathe und Ulrich, die sich ganz zurückgezogen haben, und berichtet, Tuzzi, der Sektionschef, sei nun wieder Herr in seinem Hause. An die Stelle der Parallelaktion trete der für den Herbst geplante Weltfriedenskongress, und Diotima dürfe nur noch mit einem Maler den Trachtenfestzug dafür entwerfen, unter der Aufsicht des Unterrichtsministeriums (1119 f., 1132 f.). Bis zum Frühjahr sei er, Stumm, für das »Referat D« (Diotima) im Kriegsministerium zuständig gewesen, das auch Arnheims Interessen auf der Spur bleiben wollte (1150). Sie spreche immer noch sehr gescheit, z.B. von einem »panerotischen Humanerlebnis«, davon fühle Stumm sich entmannt (1135). Agathe erzählt er, Ulrich sei eine geheime Liebe von Diotima (1122).

Drangsal, Melanie

»Frau Professor« Drangsal ist die Witwe eines berühmten Chirurgen. Sie betreibt, ähnlich wie Diotima, einen »geistigen Schönheitssalon« (III, 38., 1032). Der junge pazifistische Dichter Feuermaul ist ihr Schützling, beide sind zu Diotimas großem Gesellschaftsabend eingeladen (III, 35., 996).

Feuermaul, Friedel

Ein junger Dichter, der von Frau Professor Drangsal, einer Witwe, protegiert wird (III, 27., 931 f.). Er wird »Pepi« genannt und ist »als Exponent des Zeitgeistes« zu Diotimas Gesellschaft eingeladen, denn er ist Pazifist. Er bemüht sich, dem jungen Schubert ähnlich zu sehen, und ist »ein anerkannter Gefühlsmensch« (III, 35., 1031 f.). An jenem Abend streitet er sich heftig mit Hans Sepp, doch dann fassen sie einen gemeinsamen Beschluss: Für seine eigenen Ideen soll sich jeder töten lassen, wer aber andere dafür sterben lässt, ist ein Mörder (38., 1035). Der Kriegsminister muss daraufhin, wie man später erfährt, Diotimas Gesellschaft sofort verlassen (1147). Aber General Stumm weiß zu verhindern, dass der Beschluss protokolliert wird, und unterdrückt auch seine Veröffentlichung in einer Zeitschrift (1122).

Der Pazifist Feuermaul wird von den Vorbereitungen für den Weltfriedenskongress, der im Herbst die Parallelaktion ersetzen soll, ausgeschlossen. Stumm kommentiert: »der Kongreß soll nicht übertrieben sein!« (1122).

Fischel, Gerda

Klementine, Leo Fischels Frau, sucht einmal Ulrich auf, der bis vor drei Jahren in ihrem Haus verkehrt und eine Liebelei mit ihrer Tochter Gerda unterhalten hatte. Gerda ist ein modernes, zielbewusstes Mädchen von Anfang 20, das ungemein frischgewaschen wirkt (73., 310). Sie ist mager, mit langen, zarten Armen und Beinen. »Schlaffer Frühling, durchglüht von vorzeitiger Sommerstrenge« (103., 489).

Gerda hat einige Semester studiert (487). Sie ist mit einem »germanisch« denkenden Studenten, Hans Sepp, liiert, den es zu einer »deutschen Tat« drängt. Hans Sepp war zunächst Hauslehrer bei Fischels und begann dann ein Studium, das er aber nicht abschließt (485). Auf die Bitte der Mutter hin besucht Ulrich Gerda, aber es gelingt ihm nur vorübergehend, sie von Hans abzulenken.

Ein weiterer Besuch ergibt sich, als Ulrich einmal Leo Fischel im winterlichen großen Garten trifft. Sie geraten in die Gesellschaft von Gerdas germanischen jungen Freunden (einige noch Gymnasiasten), die Leo Fischel gerne flieht. Als die jungen Leute wütend über eine Diskussion mit Fischel und Ulrich über den Fortschritt abgezogen sind, bleibt Ulrich mit Gerda zurück Er erklärt ihr ›Fortschritt‹ durch das statistische Gesetz der großen Zahl, doch geht es ihm eher um die Ordnung, die dadurch entsteht.

Ulrich hat Macht über das Mädchen, aber er nutzt sie nicht aus, weil Gerda ihn nicht anzieht. Eigentlich ist es ihm gleichgültig, welcher Frauenkörper, Diotimas oder Gerdas, geistige Vorgänge in Gang setzt (103., 489).

Beim nächsten Besuch Ulrichs gibt es eine lebhafte Diskussion mit dem jungen Hans Sepp, an der Gerda sich kaum beteiligt. Hans’ halbe Umarmungen lassen Gerda unbefriedigt, so dass sie schon altjüngferlich wirkt. Aber Hans findet Sexualität unwichtig. Die Liebe zu Ulrich glüht »mutlos« in ihr (113., 551).

Dann aber eilt sie mit der Nachricht von Arnheims Interesse an den galizischen Ölfeldern, die sie von ihrem Vater hat, zu Ulrich, und Ulrich denkt, dass ihm nichts übrig bleibe, als Gerda endlich zu »verführen«. Es wird eine jämmerliche Szene, weil sie wohl seine Abneigung spürt; im entscheidenden Moment bekommt sie einen hysterischen Anfall und schreit. Danach verlässt sie beschämt sein Haus (119.). Sie treffen sich wieder bei Diotimas großer Gesellschaft, da ist sie mit Hans Sepp verlobt (III, 36., 1013).

Fischel, Leo

Prokurist bei der Lloyd- Bank mit dem Titel Direktor. Wie »alle Bankdirektoren vor dem Kriege« glaubt er an den Fortschritt (36., 135). Auch er hat eine Einladung zur Vorbereitung der Großen vaterländischen Aktion vom Grafen Leinsdorf erhalten, obwohl er nur Abteilungsleiter ist; die Familie seiner Frau gehört zur hohen Bürokratie (136). Er weiß nicht, was er von der Sache halten soll, und befragt Ulrich darüber. Was heißt »wahre Vaterlandsliebe«, »wahrer Fortschritt« und »wahres Österreich?« (134). Ulrich antwortet: »Ich schwöre Ihnen, daß weder ich noch irgendjemand weiß, was der, die, das Wahre ist, aber ich kann Ihnen versichern, daß es im Begriff steht, verwirklicht zu werden!« (135).

Fischel hatte zuvor bei seinem Generaldirektor angefragt, und der wiederum beim Gouverneur der Staatsbank, von Meier-Ballot. Dieser beriet sich am Abend im Industriellenklub mit den früheren Ministern von Holtzkopf und Baron Wisnieczky (136). Allerdings vergisst Fischel, die Einladung zu beantworten, so dass er an jenem bedeutungsvollen Abend nicht dabei ist, was seine Frau Klementine kränkt.

Fischel ist Jude, und zur Zeit seiner Eheschließung mit Klementine vor 24 Jahren war das durchaus nicht anstößig (51.). Inzwischen hat sich aber ein österreichischer Antisemitismus ausgebreitet, unter dessen Einfluss seine Frau sich ihm entfremdet; die Freunde der Tochter Gerda denken »christlich-germanisch« und pflegen ihr mystisches Germanentum in seinem eigenen Hause (73., 308). Fischel »war eine tüchtige kleine Zelle im sozialen Körper, die brav ihre Pflicht tat, aber von überall vergiftete Säfte erhielt« (51., 207). Er bringt Ulrich wieder in sein Haus, damit er Gerda ablenke (102.).

Fischel hat eine Abneigung gegen Arnheim und triumphiert, als er in einer Börsenzeitung liest, Arnheim verfolge das Ziel, die galizischen Ölfelder unter seine Kontrolle zu bringen« (119., 616). Mit dieser Kunde eilt Gerda zu Ulrich.

Hagauer, Gottlieb

Gymnasialprofessor, Ehemann von Ulrichs Schwester Agathe. Nach dem Tod ihres Vaters sagt sie Ulrich, sie wolle sich von Hagauer trennen und zitiert aus dem Gedächtnis lange Passagen seiner sie belehrenden Reden (III, 5., 703). Agathe fand ihn immer hässlich und beinahe abstoßend, nahm ihn aber hin, wie alles in ihrem bisherigen Leben; ihre Ehe war ganz gut (III, 9., 728).

Unbekümmert hat sie das väterliche Testament zu Hagauers Ungunsten gefälscht und ist zu Ulrich nach Wien gezogen. Erst als Briefe von ihm eintreffen, besinnt sie sich auf das, was sie ihrem Mann antut (III, 29., 30.). Um sich moralischen Rat zu holen, besucht sie dann mehrmals einen Kollegen Hagauers in Wien, Lindner, den sie zufällig kennengelernt hat. Lindner ist Gegner der Ehescheidung (1061 ff.).

Leinsdorf, Graf

Seine Erlaucht, ein reichsunmittelbarer Graf (24., 98) mit Besitzungen im Böhmischen (107., 514), ist der Erfinder und die »wahrhaft treibende Kraft der großen patriotischen Aktion«, der »Parallelaktion«, mit der das 70jährige Thronjubiläum gefeiert und »gegenüber einem bloß 30jährigen« (in Deutschland) zur Geltung gebracht werden soll (21., 87).

Der Graf lässt ein Rundschreiben ergehen, das für das Jubiläumsjahr die Punkte »Friedenskaiser, europäischer Markstein, wahres Österreich und Besitz und Bildung« als hervorzuhebende darstellt (87). Graf Leinsdorf ist etwa 60 Jahre alt, mittelgroß, mit einem Knebelbart (90). »Ein hohes Zimmer stand um ihn, und dieses war wieder von den großen leeren Räumen des Vorzimmers und der Bibliothek umgeben, um welche, Schale über Schale, weitere Räume, Stille, Devotion, Feierlichkeit und der Kranz zweier geschwungener Steintreppen sich legten.« (90).

Graf Leinsdorf ist ein geistiger ›Busenfreund‹ von Tuzzis Frau Diotima (24., 98). Seine Einladung an viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, sich an der Großen vaterländischen Aktion zu beteiligen, ruft vielfach Ratlosigkeit hervor. Man könne sich, meint einer, dem ebensowenig entziehen, als wenn es hieße, »jeder solle sich melden, der das Gute will« (36., 137).

Der Graf hat bisher von Ulrich nur gehört, denn er ist ein Freund seines Vaters, und wünscht ihn nun herbei (37., 138). Die Polizei hilft dabei, indem sie Ulrich wegen eines Vorfalls auf der Straße verhaftet. Er erscheint dann zusammen mit Ulrich bei der ersten Sitzung der Aktion in Diotimas Haus. Auf der Fahrt dorthin mit Kutsche und zwei Pferden fragt er Ulrich plötzlich: »Der Stallburg hat mir erzählt, daß Sie sich für einen Menschen verwenden?« (43., 176) und stellt eine weitere Untersuchung Moosbruggers in Aussicht.

Zu Beginn der Sitzung hält Graf Leinsdorf eine Rede, in der er darlegt, dass die Aktion, die aus der Mitte des Volkes kommen solle, von oben geleitet werden müsse (42., 168, 171). Nach weiteren Reden wird den Anwesenden, unter denen keine offiziellen Vertreter sind, klar, dass sie ein großes Ereignis zu erfinden haben (173).

Leinsdorf hat – inzwischen ist Winter – die beschlossenen Ausschüsse gründen lassen. Von allen möglichen Seiten und Interessengruppen treffen Vorschläge zur Ausgestaltung des Jubiläums ein. »Ein Apparat war da, und weil er da war, mußte er arbeiten« (56., 224). Ulrich ist ehrenamtlicher Sekretär und muss dreimal wöchentlich bei Sr. Erlaucht erscheinen. Er berichtet dann über die eingegangenen Vorschläge, von denen viele ein »Zurück zu« (Gotik, Barock usw.) wünschen. Ulrich: »Ich fürchte, man muß sagen, daß der Mensch im besonderen und mit sich gerade noch zufrieden ist, aber im allgemeinen ist ihm aus irgendeinem universalen Grund in seiner Haut nicht wohl, und es scheint, daß die Parallelaktion dazu bestimmt ist, das an den Tag zu bringen«. Der Graf: »Ich fürchte, in der Geschichte der Menschheit gibt es kein freiwilliges Zurück« (58., 233). Ulrich bemerkt gegenüber Diotima, dass sie aber auch »kein brauchbares Vorwärts« hätten (66., 272). Er erzählt ihr von den Eingaben, die entweder ein »Los von...« (z. B. »Los von Rom«) oder ein »Vorwärts zu...«  (z.B. zur Gemüsekultur) propagierten (66., 271).

Graf Leinsdorf muss möglichst geschickt mit den verschiedenen Nationen umgehen, die unter dem Dach der österreichisch-ungarischen Monarchie existieren (98., 451). Ein »kakanisches Staatsvolk« musste zu dem existierenden k. und k.-Staat erst erfunden werden (452), denn die »unter Kakaniens Krone vereinigten Völker« nennen sich »unerlöste Nationen« (108., 518). In der nicht minder schwierigen Beziehung zum deutschen »Brudervolk«, das oft als Sündenbock herhalten muss, macht Se. Erlaucht einen Fehler, als er den früheren Minister Baron Wisnieczky, einen Polen, an die Spitze des Propagandakomitees beruft; das wird als anti-deutsch aufgefasst. (516).

Im Spätwinter (Januar/Februar 1914) drängt der Graf in Diotimas »Konzilssitzung« auf einen Entschluss, zu irgend etwas (116., 584). General Stumm, der eigentlich nicht in den Kreis gehört, schlägt vor, das Militär zu stärken. Daraus entwickeln sich Anekdoten über dessen Unzulänglichkeit und das Gegeneinanderarbeiten der verschiedenen Ressorts. Man fragt den Grafen: »Erlaucht haben einen Beschluß gefaßt?« (590). »›Es ist mir nichts eingefallen‹, erwiderte er schlicht, ›aber es muß etwas geschehn!‹« Ulrich denkt nach und schlägt ein »Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele« vor (597). Am Ende fragt der Graf: »Also worauf haben wir uns nun schließlich geeinigt? [...] Na, wir werden es ja schließlich noch sehn!« (600).

Während der Kundgebung gegen die Parallelaktion (Kap. 120), die Hans Sepp zuvor angekündigt hatte, ist Ulrich bei Graf Leinsdorf in dessen Palais, und der Graf sieht sich nur mäßig erregt an, was draußen geschieht. Die Menge ruft und droht, aber man versteht oben nichts.

Nach dem Tod seines Vaters findet Ulrich sich wieder bei Graf Leinsdorf ein, der ihn hindern möchte, seine Stelle bei ihm aufzugeben. Vorher gibt er einen tour d’horizon der österreichischen Politik, der auf Ulrich sehr komisch wirkt. Die zitierten »kuralen Satzschlangen« beißen sich in den Schwanz (III, 20., 842), und Erlaucht peroriert über die Juden, die besser hebräisch sprechen sollten (844 f.), und die Sozialisten, die er allmählich für staatstragend hält (849), alles in seinem treuherzig-aristokratischen Ton. Wir müssen unsere Pflicht tun, erklärt er. Welche? »Eben unsere Pflicht zu tun!« (850).

Nachdem der Graf Ulrichs Schwester Agathe kennengelernt hat, lobt er die Lebensweise der Geschwister, im Kontrast zu den »grauslige(n) Leidenschaften«, die das Burgtheater immer spiele (III, 27., 935).

Bei Diotimas großer Abendgesellschaft, wo die widersprüchlichsten Thesen und Glaubenssätze verkündet werden, kommt er zu dem Schluss, Klugheit gebe es nur im einzelnen, die Gesamtheit sei unzurechnungsfähig bzw. verrückt (III, 37., 1017).

General Stumm berichtet Ulrich im Sommer, die Parallelgesellschaft habe ein Ziel bzw. ein Ende gefunden; man werde im Herbst den Weltfriedenskongress in Wien ausrichten (1118 f.). Der pazifistische Beschluss auf Diotimas letztem »Konzil« habe den Kriegsminister gezwungen, das Haus »fluchtartig« zu verlassen (1147). Dann sei Graf Leinsdorf in einer Provinzstadt unter Demonstranten geraten, die ihn erkannt und beschimpft hätten. Leinsdorfs inoffizieller Einfluss sei unter Ministern gefürchtet; nun hat man ihm »die Parallelaktion unter dem Sattel weggeschossen«, wie Ulrich bemerkt (1155). Leinsdorf müsse, so Stumm weiter, abgelenkt werden, weshalb Stumm ministeriellen Auftrag habe, sich ihm »an den Hals [zu] setzen wie eine Zecke«, d.h. er solle viel mit ihm reden. Stumm, dem man das »Referat D« (Diotima) abgenommen hat, betreut nun sozusagen das »Referat L.« (1155), das man aus dem Militärbildungswesen herausgenommen und der Spionageabteilung (dem »Evidenzbüro«) angegliedert habe (1152).

Leona

Leontine, genannt Leona, ist zu Beginn der Geschichte Ulrichs Freundin. Sie singt mit der »Stimme einer Hausfrau« und ›leidenschaftlichem Ausdruck‹ sentimentale Lieder in einem kleinen Variété (6., 21) und wirkt »aufreizend leblos«. Auch ist sie ungewöhnlich träge und gefräßig (22). Ulrich tauscht sie alsbald gegen Bonadea ein. Wie später berichtet wird, hatte er sich in seiner Jugend schon an kleinem »Weibszeug« geübt, dann aber eine jugendliche große Liebe erlebt (32., 123 ff.).

Lindner

Lehrer an einem Gymnasium, den Agathe zufällig kennenlernt, als sie sich traurig und verzweifelt an einem Dichtergrab niederlässt (III, 31., 971). Er versucht, sie zu trösten, erschrickt aber, als sie ihm ihren Besuch ankündigt. Lindner hält viel von sich und seiner Tugend (1045 ff.), um so mehr, als er ein tiefes Misstrauen gegen die menschliche Natur hegt (1048). Seine eigene hält er in Schach durch ein »Regime«, das u.a. aus planmäßiger Körperpflege – an täglich jeweils einem Siebtel seines Körpers – und starrer Zeiteinteilung besteht (1054). »Überhaupt verwandelte Lindner schlechthin alles, womit er in Berührung kam, in eine sittliche Forderung« (1051).

Nach einer gerade noch vermiedenen Vereinigung mit Ulrich sucht Agathe Lindner am nächsten Tag auf. Er ist Witwer und lebt mit seinem 17jährigen Sohn Peter. Peter zeichnet sich durch strammes, lustbetontes Fleisch aus (1066) und fürchtet seinen Vater. Er belauscht interessiert das folgende Gespräch, denn der Vater ist etwas verwirrt, als er dem »schönen und gefährlichen Weib« (1070) gegenübertreten muss. Agathe möchte die moralische Autorität Lindners ernstnehmen und von ihm lernen, wie sie sich (zunächst gegenüber ihrem Mann Hagauer) verhalten soll. Aber die Predigt, die er ihr über freigeistige Irrlehren hält, verfehlt nicht nur ihr Ziel, sondern wird bei der Beschreibung ihrer ehelichen Pflichten auch immer schlüpfriger, wie sie ihm unverblümt sagt (1078). Am Ende ist sie die Überlegene. Sie lädt ihn zu ihrem Bruder ein, was er vehement ablehnt.

Agathe besucht »den Tugut« (1175) noch mehrmals. Sie sprechen über Ehescheidung, sie fordert ihn heraus und ist verletzend (1179). Er versteht nicht, dass sie nur ein Ventil braucht – hier kann sie herrschen, anders als bei Ulrich (1180).

Auch Lindner war einmal jung; als Student hatte er ein mystisches Erlebnis (1183), nun glaubt er an das Verhängnis und an die ewige Liebe (1186 ff.).

Meingast, Dr.

Ein Dichter aus der Schweiz, der von Clarisse und Walter als »Meister« und »Prophet« angesehen wird und später Gast in ihrem Haus ist (Teil III). Clarisse kennt ihn schon seit ihrer Kindheit (III, 19.), damals hatte er sie bedrängt, jetzt betet sie ihn und sein irrationales Schreiben an. Ulrich spottet, er habe sich als Sendbote Zarathustras »auf das Familienleben von Walter und Clarisse niedergesenkt«  (III, 14., 785). Clarisse glaubt, sie habe seine »Verwandlung« vom Lebemann zum Propheten bewirkt (789). Die Gastgeber essen mit ihm nur noch »Grünzeug« (III, 19., 829); er träumt von der »Erlösung der Welt durch Gewalt« (834). Clarisses Bruder und Ulrich finden, dass er »widerwärtig« bzw. ein Schwätzer ist (839). Später weicht er vor Clarisses ekstatischen Bekenntnissen zurück; er hat sich inzwischen jungen Männern zugewandt (III, 26., 922).

Musils Vorbild für die Figur war Ludwig Klages.

Meseritscher

Gesellschaftsjournalist, der aus einer Schankwirtschaft in Meseritsch kommt. Er vertritt das »Man« bei Diotimas großer Gesellschaft; weil er den Mächtigen nicht weh tut, hat er den Titel Regierungsrat bekommen (III, 35., 997 ff.).

Moosbrugger, Christian

Moosbrugger ist ein ›Fall‹, der die Öffentlichkeit beschäftigt. »Moosbrugger hatte eine Frauensperson, eine Prostituierte niedersten Ranges, in grauenerregender Weise getötet« (18., 68). Er ist ein starker, hilfloser Mann (wie Büchners Woyzeck), 34 Jahre alt, Zimmermann. Sein Gesicht ist »von Gott mit allen Zeichen der Güte gesegnet« (68). Ulrich bemüht sich darum, ihn kennenzulernen, und erfährt seine Geschichte, die einfühlend erzählt wird. Moosbrugger war ein armer Hütebub, dann auf Wanderschaft; unterwegs sieht er, mit Abneigung, viele Mädchen und Frauen, an die er nicht heran kann. Er ist sehr einsam. Ihm verschwimmen die Grenzen zwischen Innen und Außen, er kann seine Gewaltphantasien angesichts von Frauen nicht bändigen. Er hat schon mehrmals gemordet und war in Gefängnissen und »Irrenhäusern« (59., 237, 243). Er hat sich allerlei Wissen angeeignet und ist eitel. Seine Person ist ihm wichtig. Manchmal hört er Geister (18., 70; 59., 239).

Sein Prozess wegen »Lustmordes« an der Prostituierten Hedwig endet mit einem Todesurteil. Ulrich wohnt der letzten Verhandlung bei, Moosbrugger erklärt, er sei zufrieden, aber nur, um am Schluss auszurufen, man habe »einen Irrsinnigen verurteilt« (18., 76).

Ulrich meint, Moosbruggers Irrsinn sei »bloß ein verzerrter Zusammenhang unsrer eignen Elemente des Seins« (18., 76). Als Ulrich von seinem Vater zum Grafen Stallburg geschickt wird, benutzt er die Gelegenheit, um für den Mörder zu sprechen. Moosbrugger sei geisteskrank und daher zu Unrecht zum Tode verurteilt worden (20., 85).

Später spricht Graf Leinsdorf ihn auf der Fahrt zur ersten Sitzung der Vaterländischen Aktion darauf an und sieht in dem »schrecklichen Kerl« das »unfaßbar Persönliche und Gnadenbedürftige, das jeder Christenmensch in sich hat« (43.,176). Er stellt darum eine weitere ärztliche Untersuchung in Aussicht. Moosbrugger wird in ein anderes Gefängnis verlegt, die Hinrichtung ist aufgeschoben (53., 211).

Kapitel 59 heißt: »Moosbrugger denkt nach« (235). Immer wieder versucht er, Gedanken und Wörter aus seinen Wirrnissen herauszufiltern. Die gelehrten Männer, die sich mit ihm berufsmäßig beschäftigt haben, hasst er und beneidet sie um ihre Wortgewandtheit (236). Moosbrugger wünscht sich nicht, verschont zu werden, er will darauf bestehen, dass man ihn töte (236, 242).

Das folgende Kapitel enthält einen »Ausflug ins logisch-sittliche Reich« (60., 242), in dem Ulrich über die Sachverständigen, Juristen, Mediziner, Psychiater spottet, die sich nicht einigen können, ob Moosbrugger »teilweise krank« bzw. »teilweise gesund«, also »teilweise zurechnungsfähig« sei oder nicht (243).

Kapitel 110 heißt »Moosbruggers Auflösung und Aufbewahrung« (530). »Wenn man Moosbruggers Fall des individuell Romantischen entkleidete, das nur ihn und die paar Menschen anging, die er ermordet hatte, so blieb von ihm nicht mehr als ungefähr das übrig, was sich in dem Verzeichnis von zitierten Schriften ausdrückte, das Ulrichs Vater seiner jüngsten Zuschrift an seinen Sohn beigelegt hatte« (533). So sitzt Moosbrugger »als die wilde eingesperrte Möglichkeit einer gefürchteten Handlung wie eine unbewohnte Koralleninsel inmitten eines unendlichen Meeres von Abhandlungen, das ihn unsichtbar umgab« (534).

Ulrich wird von Arnheim befragt, ob er, wenn er könnte, Moosbrugger vor der Hinrichtung befreien würde. Er verneint spontan und wägt dann ab (121., 636). Auf dem Heimweg denkt er wieder an Moosbrugger. Alle Leute interessieren sich für ihn. Aber Ulrich blickt »aus dem Bild des Mörders nichts Fremderes [an] als aus anderen Bildern der Welt« (122., 653).

Auch Clarisse will Moosbrugger kennenlernen (III, 7., 19.). Es gelingt ihr, in Begleitung von Ulrich, ihrem Bruder und General Stumm, das »Irrenhaus« zu besichtigen, aber zu Moosbrugger kommen sie nicht.

Rachel

Stubenmädchen Diotimas, das auf Ulrich wie eine kleine schwarze Eidechse wirkt. Sie hat in seinen Augen etwas Orientalisch-Liebliches (22., 95). Rachel, von Diotima »Rachelle« genannt, 19 Jahre alt, hat eine Geschichte: sie stammt aus einer »häßlichen Hütte in Galizien« und wurde verstoßen, als ein »gewissenloser Bursche« sie geschwängert hatte. Verzweifelt gelangte sie mit dem Kind nach Wien und durch Zufall oder Fügung zu Diotima. Ihr Kind, ein Mädchen von eineinhalb Jahren, hat sie in Pflege gegeben. Sie besucht es, obwohl sie es als Strafe empfindet (41., 163 ff.).

Rachel geht ganz und gar in der Verehrung für ihre Herrin auf; sie verrichtet alle Arbeiten, von der Körperpflege bis zum Tischdecken, mit Andacht und lässt sich durch Romanlektüre bilden, denn sie hat eine Beziehung zur Schriftkultur aus ihrem Elternhaus mitgebracht (164).

Durch Soliman, Arnheims 16jährigen schwarzen Diener, der in sie verliebt ist, gewöhnt Rachel sich daran, ihre Herrin und Arnheim zu beobachten und zu belauschen (79.). Sie rückt von ihrer Bewunderung für Diotima ab und wählt sich Ulrich zum Objekt.

Aber trotz ihres heimlichen Schmachtens nach Ulrich weiß sie, dass sie eines Tages dem ungeschickten Werben von Soliman nachgeben wird, und ergreift sogar als die Erfahrenere die Initiative. Das ist die beschränkte Realität im Kontrast zu all den Möglichkeiten ihrer erotischen Phantasie, »eingeschrumpft aus tausend Männern zu einem etwas lächerlichen kleinen Wicht und dem einen, der alle anderen ausschließt« (117., 604).

Am Ende kommt Rachel noch einmal vor, während Diotimas großer Abendgesellschaft. Ulrich bemerkt nicht, dass ihre Augen nicht mehr glänzen; sie sieht elend aus, denn sie ist erneut schwanger (III, 38., 1027).

Schwung

Jurist, Professor, der mit Ulrichs Vater in erbittertem Streit über Zurechnungsfähigkeit (im Zusammenhang mit dem Fall Moosbrugger) gelegen hat. Er kommt zum Begräbnis des alten Freundes (III, 4., 696 f.) und ist zu Diotimas großem Gesellschaftsabend geladen (III, 36., 1006 f.). Man sagt, er sei fürs Aufhängen.

Seele

Keine handelnde Person, aber ein unentbehrliches Schlüsselwort, das in den unterschiedlichsten Verbindungen vorkommt. In Arnheims Schriften war irgendwann das Wort »Seele« aufgetaucht, das er »wie eine Methode, einen Vorsprung, als Königswort gebrauchte, denn sicher ist, daß Fürsten und Generale keine Seele haben, und von Finanzleuten war er der erste« (86., 389). Ulrich meint, es liege »ein Schwindel in dieser Vereinigung von Kohlenpreis und Seele« (67., 281).

In Ulrichs Augen ist Diotima eine »Seelenriesin«, nachdem sie ihm eine »geistige Thronrede« gehalten hat (22., 94). »Wahrscheinlich war, was sie Seele nannte, nichts als ein kleines Kapital von Liebesfähigkeit, das sie zur Zeit ihrer Heirat besessen hatte; Sektionschef Tuzzi bot nicht die rechte Anlagemöglichkeit dafür« (25., 104). Aber in Diotima, wenn sie mit Arnheim allein ist, erstrahlt »der wunderbare Traum einer Liebe, wo Seele und Leib ganz eins sind« (45., 183).

Das Wort Seele, erläutert der Erzähler, wird gebraucht für das, was der heutigen Zeit verloren gegangen ist, oder für den Gegensatz zu Körperlichem oder »als das, was durch die Parallelaktion befreit werden sollte« (183). Nur ältere Leute können das Wort aussprechen, ohne zu lachen. Aus dem »entsetzlichen Gefühl eines blinden, abgeschnittenen Raums hinter allem Ausgefüllten, an dieser Hälfte, die immer noch fehlt, wenn auch alles schon ein Ganzes ist, bemerkt man schließlich das, was man die Seele nennt« (45., 184). Manche denken sogar »über alles hinaus an einen Gott, der das ihnen fehlende Stück in der Tasche trägt. Eine besondere Stellung nimmt dabei nur die Liebe ein; in diesem Ausnahmefall wächst nämlich die zweite Hälfte zu. Der geliebte Mensch scheint dort zu stehen, wo sonst stets etwas fehlt. Die Seelen vereinigen sich sozusagen dos à dos und machen sich dabei überflüssig« (184 f.). Und so begegnen sich Diotima und Arnheim in diesem Augenblick wie zwei schweigende Bergriesen.

Später, nach einer weiteren intensiven Begegnung, rettet sich Arnheim in den Gedanken: »Ein seiner Verantwortung bewußter Mann [...] darf schließlich auch, wenn er Seele schenkt, nur die Zinsen zum Opfer bringen und niemals das Kapital!« (106., 511), während Diotima unter der bloßen Seelengemeinschaft mit ihm, unter Ausschluss der Körper, leidet (101., 475).

Hans Tuzzi, der Diplomat, möchte von Ulrich wissen, was es bedeute, wenn ein Mann (wie Arnheim) »Seele« habe. Bei einer Frau wolle das ja nichts besagen (III, 16., 804).

In einem Gespräch über Arnheim, das Diotima und Ulrich vor der Hofbibliothek führen, fragt Diotima Ulrich, ob er es für möglich halte, »daß das, was wir Seele nennen, aus dem Schatten hervortreten könnte, in dem es sich gewöhnlich befindet«, und ergänzt: »aus der Uneigentlichkeit, aus dieser schimmernden Verstecktheit, in der wir das Ungewöhnliche manchmal empfinden [...]. Glauben Sie nicht, daß es Zeiten gegeben hat, wo das anders war? Das Innere trat stärker hervor; einzelne Menschen gingen einen erleuchteten Weg« (114., 566). Ulrich denkt: »So weit ist es also gekommen, daß dieses Riesenhuhn genau so redet wie ich«, und sieht »Diotimas und seine Seele wieder in der Gestalt eines großen Huhns vor sich, das einen kleinen Wurm aufpickt. Uralter Kinderschreck vor der Großen Frau griff nach ihm« (566).

Ulrichs Geliebte Bonadea erinnert sich, dass Ulrich im Zusammenhang mit Moosbrugger gesagt habe, »man besitze eine zweite Seele, die immer unschuldig sei, und ein zurechnungsfähiger Mensch könne immer auch anders, der unzurechnungsfähige aber nie« (115., 577).

Arnheim wiederum, der sich Gedanken über den ihm widerstehenden Ulrich macht, fällt plötzlich ein: »Diesem Mann fehlt also im ganzen etwas!« und dann: »Dieser Mann hat Seele!« (112., 548).

Arnheim überkommt beim Anblick seiner gotischen und barocken Märtyrer- und Heiligenfiguren die Ahnung von einem »Frühzustand der Seele« (46., 187). General Stumm ist ziemlich verwirrt, als Arnheim ihm im Gespräch vor der Hofbibliothek mitteilt, »daß sich die Welt seit zwei Menschenaltern in der größten Umwälzung befinde: die Seele gehe zu Ende« (114., 568). Der General hatte bisher »trotz Diotima gedacht, daß es ›die Seele‹ überhaupt nicht gebe [...]. Da aber ein Kanonen- und Panzerplattenfabrikant so ruhig davon sprach, wie wenn er es in der Nähe stehen sähe, begannen des Generals Augen zu jucken«. Wie Arnheim ihn wissen lässt, ist »die Seele schon seit dem Zerfall der Kirche [...] in einen Prozeß der Einschrumpfung und Alterung geraten. Sie hat seither Gott verloren, die festen Werte und Ideale« (568).

Als den Planern der Parallelaktion gar nichts Brauchbares für das Jubiläum einfällt, schlägt Ulrich dem Grafen Leinsdorf vor, »ein Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele« zu gründen. Die Parallelaktion habe nur eine Aufgabe: den Anfang einer geistigen Generalinventur zu bilden. »Wir müssen ungefähr das tun, was notwendig wäre, wenn ins Jahr 1918 der Jüngste Tag fiele, der alte Geist abgeschlossen werden und ein höherer beginnen sollte« (116., 596 f.).

Später, im Gespräch mit seiner Schwester Agathe, nennt er das einen Spaß (III, 10., 741), und auch »Seine Eminenz« habe »herzlich gelacht«, sagt Graf Leinsdorf (III, 37., 1021). Von der Seele ist im folgenden kaum noch die Rede, denn Arnheim hat sich von Diotima und der Parallelaktion zurückgezogen.

Im Sommer 1914, als Ulrich längst in Zweisamkeit mit Agathe – seiner »Seele« – lebt, erfährt er von General Stumm, dass die Parallelaktion zum Ende gekommen sei bzw. sich in einen für den Herbst geplanten Weltfriedenskongress verwandelt habe, der offenbar amtlich unterwandert werden soll. Diotima wurde kaltgestellt, und Tuzzi ist wieder Herr in seinem Haus. Ulrich denkt, dass »diesen Diplomaten die Leiden der Seele, als sie über ihn hereinbrachen, dahin gebracht, daß er in allem und jedem nur noch pazifistische Machenschaften sah« (1133). »Pazifismus war für ihn die faßlichste Vorstellung von Seelenhaftigkeit« (1133 f.).

Sepp, Hans

Ein Student mit dunklem Haarschopf (102., 483), knochig und unscheinbar, Freund von Gerda Fischel, früher Hauslehrer bei Fischels. Er ist eine Art Anführer eines Bundes von deutsch bzw. »germanisch« denkenden jungen Männern, Studenten und Schülern, die sich zum Entsetzen der Eltern im Hause des Bankdirektors Fischel um die Tochter scharen, wo sie gut mit Essen und Trinken versorgt werden. Hans Sepp, »der Student mit dem unreinen Teint und der umso reineren Seele« (482), sieht in der ›Parallelaktion‹ den Beginn einer geistigen Vernichtung des deutschen Volkes (478). Auch in diesem Kreis werden »Ideenfackeln« weitergereicht, wie überall, »seit die Sonne des alten europäischen Idealismus zu verlöschen begann« (482).

Ulrich lässt sich auf eine Diskussion mit Fischel und Hans über den Fortschritt ein (484), bei der Fischel für den technischen Fortschritt, Hans dagegen spricht. Ulrich gibt zu bedenken, dass jeder Fortschritt zugleich ein Rückschritt ist, es gebe Fortschritt nur in einem bestimmten Sinn. »Und da unser Leben im Ganzen keinen Sinn hat, hat es im Ganzen auch keinen Fortschritt« (484). Hans meint, Ulrich denke im Grunde wie Fischel, und verlässt wütend das Haus, nachdem Fischel nach dem Fortschritt seines Examens gefragt hat (486).

Beim nächsten Besuch soll der ältere Ulrich sich vor Hans rechtfertigen, weil er bei Diotima und ihren »geistigen Bankerottierern« verkehrt (550). Hans Sepp verweist drohend auf eine Gegenbewegung aus waffentragenden Verbindungen, der Turnerschaft und seinem Bund deutscher Jugend; es gelte den Kampf gegen die Verslawung, Österreich solle sich Deutschland anschließen (550). Hans betet seine Glaubenssätze herunter (556): die irrationalen Bewegungen der Zeit – Jugendbewegung, Heimatkunst, Befreiung des Kindes (553). Eine Gemeinschaft der Ichlosen strebe man an, erklärt er (555). Ulrich passt sich dem Jargon an, obwohl ihn das »abergläubische Geschwätz« ärgert (557). Gelegentlich fragt er, was es praktisch bedeute.

Später kommt es zu einer großen Demonstration gegen die Parallelaktion, an der Sepps Bund beteiligt ist (120.).

Am Ende des dritten Teils ist Hans Sepp, der inzwischen sein Examen gemacht hat, mit Fischels zu Diotimas großer Gesellschaft eingeladen (III, 36., 1007). Er empfiehlt Ulrich den »großen Rasseforscher Bremshuber« (III, 37., 1017) und streitet sich heftig mit dem Dichter Feuermaul, bis sie sich auf einen gemeinsamen Beschluss einigen.

Soliman

Ein kleiner, zappeliger schwarzer Junge von sechzehn Jahren mit einem Affengesicht, den Arnheim aus einer Tänzertruppe in Italien herausgeholt und mitgenommen hatte (55.). Bis zum vierzehnten Jahr hatte er ihn erzogen, durch seine ständige Gegenwart, aber auch durch Lektüre. Dann aber fand er, dass Solimans eigentlicher Beruf das Dienen sei, und beschäftigt den Jungen nun als Kammerdiener. Seitdem sinnt Soliman auf Rache und übt sie schon wie ein Kobold mit allerlei Streichen aus, auch bestiehlt er seinen Herrn. Er zählt neben Ulrich und Tuzzi zu den Gegnern Arnheims (55., 220). Er ist es, der mit Rachel dem unerwünschten General von Stumm eine Einladung zum »Konzil« schickt.

Soliman hält sich oft im Hause Tuzzi auf, wenn sein Herr dort ist. Mit Diotimas 19jähriger Zofe Rachel lauscht und lauert er überall. Dabei verliebt er sich in Rachel und drückt das heftig und knabenhaft-herrisch aus, bis zum »Tierbiß«, als sie sich wehrt (79., 340). Später lässt sie sich auf seine Küsse ein, und einmal schleust er sie in die Hotelzimmer seines Herrn ein, als der verreist ist, um ihr die luxuriöse Ausstattung Arnheims zu zeigen (104.). Rachel widersteht seinen Geschenkangeboten.

Zuletzt erliegt sie seinen Werbungen, bringt ihn in ihre Kammer und ergreift die Initiative. Aber danach findet sie ihn doch hässlich und ist von der Realität enttäuscht (117., 604). Auf ihre Schwangerschaft reagiert er mit läppischen Plänen (III, 38., 1027).

Arnheim macht Soliman gelegentlich zum Zuhörer seiner Reflexionen; dabei erzählt der Diener ihm einmal, er sei ein afrikanischer Königssohn (112., 544).

Stallburg, Graf

Vorsitzender der »Allerhöchsten Familiengerichtspartikularität beim Hofmarschallamt«. Ulrichs Vater hat diesem Freund und Schützer (19., 78) seinen Sohn für die Vorbereitung der Aktion zur Feier des 70jährigen Thronjubiläums des Kaisers empfohlen.

Ulrich sucht ihn in der Hofburg auf und ist wider Erwarten von der Majestät der Baulichkeiten beeindruckt. Nach der Durchquerung vieler Stockwerke und Räume mit soldatischen Wachen gelangt er in das Amtszimmer des Grafen, in »dessen Mitte der unscheinbare, kahlköpfige Mann, leicht vorgeneigt und oranghaft geknickt in den Beinen, in einer Weise vor ihm stand, wie eine hohe Hofcharge aus vornehmer Familie unmöglich durch sich selbst aussehen konnte, sondern nur in Nachahmung von irgendetwas« (20., 84). Ulrich wird klar, dass der Graf so unauffällig auszusehen wünscht wie der Kaiser selbst und wie wiederum fast alle Beamten des Reiches.

Angesichts dieses Rollenspiels begeht Ulrich den Fauxpas, als erstes um die Begnadigung des geisteskranken Lustmörders Moosbrugger zu bitten (85). Die Exzellenz nimmt es aber nicht übel, sondern entlässt Ulrich mit einem Empfehlungsschreiben an die Hauptperson der Großen vaterländischen Aktion, Graf Leinsdorf. Auf Ulrich wirkt dies alles wie »eine nicht weggeräumte Welt« – aber »sie war einfach überraschend wirklich« (86).

Stumm von Bordwehr

Der General, Leiter der Abteilung für Militär-, Bildungs- und Erziehungswesen im Kriegsministerium, ist bei der ersten Sitzung der Großen vaterländischen Aktion anwesend, obwohl niemand weiß, wer ihn eingeladen hat (dahinter stecken Rachel und Soliman; vgl. 80., 340 f.). Er schlägt vor, die Kraft des Heeres in den Mittelpunkt des Jubiläumsjahres zu stellen (44., 180).

Der kleine rundliche Mann »mit den schwänzelnden Augen und den Goldknöpfen am Bauch« macht dann einen Besuch bei Diotima, der sie erschreckt (64., 268). Stumm erinnert sie an die Möglichkeit des Krieges. Ulrich bestätigt ihre Abwehr, indem er rät, den General von den Sitzungen fernzuhalten (66., 275). Wenig später besucht der »kleine dicke General« mit den großen braunen Augen sie erneut (75., 320) und verstört sie abermals mit dem Gedanken an das Kriegsministerium. Um so mehr spricht er dann von Frieden und vor allem von Ordnung: sie sei der Geist der Neuzeit (322). Diese Vorstellung teilt er mit Graf Leinsdorf.

Stumm erscheint nun regelmäßig bei den Sitzungen des »Konzils« im Hause Tuzzi. Als er die erste Einladung (von Rachel) erhalten hatte, war er »spornstreichs« zu seinem Vorgesetzten, dem Feldmarschallleutnant Frost von Aufbruch, gelaufen, um ihm das mitzuteilen.

Der muntere General trägt eine vergissmeinnichtfarbene Uniform über seinem Bauch (80., 340). Ursprünglich war er Kavallerieoffizier gewesen, hatte aber geringen Erfolg, weil seine Hände und Beine für dieses Metier zu klein sind. Aus Ärger hatte er sich einen schwarzbraunen Vollbart wachsen lassen und begonnen, »wissenschaftlich« Taschenmesser zu sammeln (342). Nachdem ihm auch der Besuch der Generalstabsschule keinen Erfolgsweg geöffnet hatte, war er des Offizierslebens mit dem frühen Exerzieren, den Pferdegesprächen, den Wein- und Weibergelagen vollends müde geworden. Unter seinen Regimentskameraden galt er als »Philosoph«. Seine Abkommandierung ins Ministerium hatte ihn gerettet und ihm sogar die Beförderung zum General gebracht. Seitdem ist er glücklich. Eine Familie hat er sich auch zugelegt.

Auf dem Konzilstreffen entdeckt er Ulrich, der einmal Leutnant im 9. Ulanenregiment war. »Du wirst staunen, Herr General!« sagt der (80., 346). Man duzt sich in Offizierskreisen, ungeachtet des Rangs. Ulrich muss fortan Stumm alles erklären, was ihm fremd ist, und das ist fast alles.

Seinem Chef, »dem Exzellenz Frost«, hat Stumm vorgeschlagen, das beim »Konzil« zu erwerbende Wissen für den militärischen Geist nutzbar zu machen (85., 371). Allerdings hat er Schwierigkeiten, den »Zivilgeist« zu begreifen. Stumm hat mit einigen Untergebenen eine Art »Grundbuchblatt der modernen Kultur« angelegt, das Weltanschauungen und große Namen enthält, von Buddha bis Ganghofer (85., 372). Er hat herausgefunden, dass es zu jeder Idee auch den Gegensatz gibt: Individualismus vs. Kollektivismus usw. Er hat auch ein Verzeichnis der »Ideenbefehlsgeber« (374) gemacht, sowie einen Aufmarschplan. Aber er kann keine Einheit in alldem entdecken. Ulrich ist gerührt von den kindlichen Einfällen, die der General »mit Mannesmut ausführte« (375).

Stumm möchte von Ulrich wissen, welches denn nun der eine erlösende Gedanke unter so vielen Gedanken sei, damit möchte er Diotima helfen. Obwohl er »kein Buserant« sei (376), gesteht er Ulrich, dass er die schöne Diotima mit ihrer »imponierend weiblichen Fülle« – von hinten (während sie ›vorn‹ gelehrt redet; 375) – verehrt und liebt und sich darum sogar gern in Arnheim hineindenken kann.

»General Stumm dringt in die Staatsbibliothek ein« (Kapitel 100). Stumm berichtet Ulrich von seinem Besuch der Hofbibliothek: Er wollte im Wissen der Gelehrten den einen bedeutendsten Gedanken suchen, um ihn Diotima »zu Füßen zu legen« (100., 459). Aber drei Millionen Bände entmutigten ihn. Ein Bibliothekar erklärte ihm, dass es nicht sinnvoll sei, die Bücher selbst zu lesen, die Bibliographien der Bibliographien genügten vollauf. Daraufhin wäre Stumm am liebsten in Tränen ausgebrochen oder hätte sich eine Zigarette angezündet (100., 462). Aber ein alter Diener, der aus langer Erfahrung weiß, wer was liest, kam ihm zu Hilfe. So erfuhr er, was die Frau Sektionschef Tuzzi liest, und musste sich nur dieselben Bücher geben lassen. Das war für ihn »wie eine heimliche geistige Hochzeit« (463).

Aber der Gedanke der Ordnung beschäftigt ihn immer noch – eine totale Ordnung, eine Menschheitsordnung ist nicht vorstellbar (464). Beim Militär hat man die größte Ordnung und muss gleichzeitig immer bereit sein zu sterben. »Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über« (465).

Später macht Stumm sich Gedanken über den vielgebrauchten Begriff der »Erlösung«, der ihm in der Rede von Kakaniens »unerlösten Nationen«, in »Kirchen und Kaffeehäusern«, in Kunstzeitschriften und in Arnheims Büchern begegnet (518 f.). Die geistigen Menschen der Zeit, so mutmaßt er, fühlen sich unfruchtbar und warten auf einen Messias, sei es in der Medizin, in der Dichtung oder wo immer (108., 520). Unsere Kultur achte aber darauf, dass der Geist nicht die Oberhand bekomme (521). »›Was ist denn überhaupt Geist?!‹ fragte er sich rebellisch. ›Er geht doch nicht um Mitternacht in einem weißen Hemd um; was sollte er also anderes sein als eine gewisse Ordnung, die wir unseren Eindrücken und Erlebnissen geben?!‹« Dann sei er aber überflüssig. Der General vergewissert sich der »Unentbehrlichkeit einer starken Faust«: »Als Offizier besaß er Weltanschauung!« (521).

In den ersten Wochen des Jahres 1914 erklärt Arnheim ihm im Gespräch vor der Hofbibliothek, »die Seele gehe zuende« (114., 568). Er zeigt Stumm das riesige Bild eines Engels, dessen Flügel sich waagerecht über zwei Seiten einer alten Handschrift ausbreiten. Stumm versteht diese mittelalterliche Malerei nicht und hält das Bild für eine Verirrung, nämlich »ein Wesen mit Flügeln und langem Hals, das weder ein Mensch noch eine Schnepfe ist« (569). Das Gespräch verwirrt den General ungemein, aber er fühlt sich auch geschmeichelt: »Wenn der Engel in dem Buch plötzlich seine gemalten Flügel gehoben hätte, um den klugen General Stumm ein wenig darunter blicken zu lassen, dieser hätte sich nicht verwirrter und glücklicher fühlen können!« (571).

Bei einer Sitzung im engsten Kreis – noch immer weiß niemand, wie er in Diotimas »Konzil« geraten ist –, schlägt Stumm vor, doch einfach das Militär zu stärken, wenn schon niemand wisse, was zu beschließen sei (116., 585). Als die Sitzung wieder ergebnislos endet, sagt er vergnügt zu Tuzzi: »Das ist der bewaffnete Ideenfriede!« (600).

Nach der Rückkehr vom Begräbnis seines Vaters wird Ulrich sofort von Stumm überfallen, der ihn für den neuen Geist der Tat gewinnen will – mit der Idee sei es vorbei (III, 13., 778 f.). Der General kommt mit Kommissbrot und Anekdoten und bestätigt Ulrichs Information, dass Arnheim die galizischen Ölfelder erwerben will, dafür soll er dann Öl und Kanonen billig an Wien liefern (774).

Beim nächsten Besuch wird Stumm mit seiner »zarte(n) Leibesfülle und empfindsame(n) Natur« von einem »Stupor« ergriffen, als er Agathe kennenlernt (III, 27., 931).

Es ergibt sich, dass er Clarisse, deren Bruder Siegmund und Ulrich zum Besuch im »Narrenhaus« begleiten muss, in voller Uniform mit Sporen, die er zu seiner Beruhigung mit einem weißen Arztkittel bedecken darf (III, 32., 977). Nebenbei informiert er Ulrich über die neueste Entwicklung der »Aktion«: Inzwischen habe die Pazifistin Melanie Drangsal einigen Einfluss; Stumm wolle aber zugleich die Artillerievorlage durchbringen (III, 33., 981). Auf einer großen Abendgesellschaft bei Diotima verzweifelt er an der Aufgabe, die dort von den verschiedensten Menschen geäußerten Thesen zusammenzufassen. Es sei doch alles »verdammt kompliziert« (III, 38., 1040).

Im Sommer, als Ulrich sich mit Agathe von der Gesellschaft zurückgezogen hat, unterbricht Stumm ihre Zweisamkeit und berichtet vom Ende bzw. neuen Ziel der Parallelaktion: man werde nun als Vorfeier den Weltfriedenskongress ausrichten, der im Herbst stattfinden solle (1118). Es werde wahrscheinlich einen Trachtenfestzug und eine Militärparade geben, und den übertriebenen Pazifisten Feuermaul habe man ausgeschaltet (1122). Stumm ist selbstbewusster und diplomatischer geworden. Er versucht zunächst, nicht allzu viel auszuplaudern, und hat die Annehmlichkeiten des Lügens entdeckt (1131). Dann aber sagt er doch, was er weiß: Sektionschef Tuzzi hat seiner Frau die Parallelaktion aus der Hand genommen, sie muss sich jetzt in ihren Unternehmungen dem Unterrichtsministerium fügen (1132 f.).

Stumm selbst ist wegen des pazifistischen Beschlusses von Feuermaul in Ungnade gefallen. Wenn er nicht Einsicht gezeigt hätte, wäre er wohl zu einer Landwehrbrigade in Knobljoluka abkommandiert worden, statt immer noch »am Kreuzungspunkt von soldatischer Macht und ziviler Erleuchtung« zu sitzen (1150). Zwar hat ihm sein Minister das »Referat D« (Diotima) abgenommen, doch zum Trost darf er sich nun um den Grafen Leinsdorf kümmern, den man kaltstellen und beschäftigen möchte (1148 ff., 1155).

Sein Nachdenken hat ihn zu dem Schluss geführt, dass es in der Republik der Geister zum Glück viele Ideen gibt, dass der Geist sich nicht zum Regieren eignet (1151) und: »ganz gleich, welchen Geist es wann immer gegeben hat, immer ist am Ende ein Krieg daraus entstanden!« (1153).

Tuzzi, Hans

Der Gatte Diotimas, früher Vizekonsul, jetzt »Sektionschef« im Außenministerium. Er sieht aus »wie ein lederner Reisekoffer mit zwei dunklen Augen« (24., 102), seine Frau nennt ihn »Giovanni«. Diotima liebt ihn mit oberflächlicher Treue, ist aber auf der Suche nach Interessanterem. Das findet sie in dem Preußen Dr. Arnheim.

Bei den Sitzungen der Großen vaterländischen Aktion in seinem Haus ist Tuzzi nicht anwesend. Im Gespräch mit Arnheim wirkt er »mit seinem Bärtchen und den südländischen Augen [...] wie ein levantinischer Taschendieb neben einem Bremenser Handelsherrn« ( 49., 195). Dabei ist Tuzzi »in aller Stille einer der führenden Diplomaten seines Landes« (50., 200). Arnheim stößt sein österreichischer Zynismus ab (49., 196). Arnheim wiederum ist Tuzzi persönlich und grundsätzlich unangenehm, und er macht sich Gedanken über die »gründliche Anwesenheit« Arnheims in seinem Hause (50., 200; 91., 417).

Tuzzis Lektüre besteht aus Homer, der Bibel und Peter Rosegger (52., S. 208). Er stellt fest, dass es »ein peinigendes und sorgfältig zu verbergendes Leiden ist«, der Gatte einer bedeutenden Frau zu sein (78., 334).

Als er einmal an dem »Konzil« in seinem ihm fremd gewordenen Haus teilnimmt, sagt Tuzzi zu Ulrich, etwas Ähnliches habe es schon einmal in den Anfängen des Christentums gegeben: unzählige Sekten, wie die Adamiten, Archontiker, Ophiten usw. (91., 410). Ohne das dann sich etablierende geistliche Beamtensystem gäbe es vom christlichen Glauben heute keine Spur mehr (411). Tuzzi leidet unter dem »Entzug an Anerkennung« durch seine Frau, der er früher als erfahrener, urteilssicherer Mann gegolten hatte (412).

Ulrich betrachtet mit Sympathie das »gedörrte Aussehen des knapp mittelgroßen Mannes« und »das dunkle, starke, viel unsicheres Gefühl verratende Auge, das nicht im geringsten ein Beamtenauge war« (413). Im Gespräch erreichen die beiden eine überraschende Einigkeit. Ulrich: »Ich habe mit Bedauern hervorgehoben, daß das Geistige und Gute ohne Mithilfe des Bösen und Materiellen nicht dauernd existenzfähig sei, und Sie antworten mir ungefähr, je mehr Geist vorhanden, desto mehr Vorsicht nötig. Sagen wir also: man kann den Menschen als einen gemeinen Kerl behandeln und auf diese Weise nicht ganz zu allem bringen; man kann ihn aber auch begeistern und damit nicht ganz zu allem bringen. Zwischen beiden Methoden schwanken wir darum, beide Methoden mischen wir; das ist das Ganze« (91., 415).

Der »vormärzlich gesinnte« Tuzzi äußert dann die »Halbdummheit«, es sei besser, wenn der Staatsbürger nicht über alles nachdenke, und »der Vetter« Ulrich meint, das entspreche ja auch den Grundsätzen der Kirche und des Sozialismus (415 f.). Bei einer »Konzilssitzung« im Spätwinter (Januar/Februar 1914), zu der er ausnahmsweise gestoßen ist, flüstert Tuzzi Ulrich zu, Arnheim sei ein Sendling des Zaren. Er solle die Aktion pazifistisch beeinflussen (116., 589).

Dieser Ansicht ist er auch noch im März, als Ulrich Diotima besucht. Tuzzi fragt Ulrich, etwas verzweifelt, um Auskunft, was bei einem Mann (womit er Arnheim meint) »Seele« sei (III, 16., 803). Wie er auf Diotimas Wendung zur Vervollkommnung des Ehelebens reagiert, erfahren wir nur indirekt. Denn im Sommer hört Ulrich von General Stumm, dass Tuzzi seiner Frau die Parallelaktion aus der Hand genommen und sie selbst mit ihren Aktivitäten dem Unterrichtsministerium untergeordnet habe (1132 f.). Er sei nun wieder Herr im Hause. Ulrich meint, dass »diesen Diplomaten die Leiden der Seele, als sie über ihn hereinbrachen, dahin gebracht, daß er in allem und jedem nur noch pazifistische Machenschaften sah« (1133). »Pazifismus war für ihn die faßlichste Vorstellung von Seelenhaftigkeit« (1133 f.). »Er mußte unerhört gelitten haben« – mehr als wenn es sich um einen körperlichen Ehebruch gehandelt hätte (1134). Ulrich denkt mit Sympathie an den »kleinen, mageren Sektionschef« (1133), und beide, er und der General, bewundern »die echt hinterhältige Gesinnung«, die sich bei ihm nun bewährt hat (1137).

Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften

Seinen Vornamen erfahren die Leser erst in Kapitel 5. Ulrich wohnt in Wien in einem Schlösschen von gemischter Baulichkeit und tut augenblicklich nichts (2.,12). Das heißt, er verfügt über genügend Geld, ist 32 Jahre alt und »hat einen Vater mit Eigenschaften« (3.). Dieser, Rechtsanwalt und Professor, ist durch die Ausübung seines Berufs für die Oberklasse wohlhabend geworden. Er hat viele Orden bekommen und sogar den erblichen Adelstitel. Die Mutter starb früh (3.,14). Ulrich hat eine Schwester, Agathe; sie ist gesund und hat einen tüchtigen Mann, wie der Vater schreibt (19., 79).

Ulrichs Lebensstil missfällt dem Vater. Ulrich hat sich, da er nicht weiß, wie er seine Fähigkeiten anwenden soll, und von irgendeiner Nützlichkeit nichts hält, ein Jahr Urlaub vom Leben genommen (13., 47). Später sagt er, er wolle sich töten, wenn ihm nach diesem Jahr kein Sinn aufgegangen sei.

Man schreibt das Jahr 1913. Das Land, in dem Ulrich lebt, wird Kakanien genannt – abgeleitet vom Titel der der kaiserlich-königlichen (k.u.k.) Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Kakanien wird von Kaiser Franz Joseph I. seit 1848 regiert. Ulrich hatte von jeher ein bedeutender Mann werden wollen (9.). Als Schüler hatte er in einem Aufsatz geschrieben: »Gott macht die Welt und denkt dabei, es könnte ebensogut anders sein« (5., 19). Darüber war große Aufregung entstanden, und der Vater hatte ihn auf eine belgische Schule geschickt. Anschließend wurde er Fähnrich in einem Reiterregiment, nahm aber als Leutnant seinen Abschied (9., 36). Dann studiert er das Ingenieurwesen, findet aber, dass Ingenieure zu einseitig sind. Schließlich wendet er sich der Mathematik zu.

Ulrich wird von nahezu allen Frauen, die im Roman erscheinen, geliebt. Doch er neigt dazu, sich zu entziehen. Zu Beginn des Romans ist die Rede von einer Beziehung zu der Chansonette Leontine (6.), die aber schon bald durch Bonadea abgelöst wird. Ulrich lernt sie durch einen Unglücksfall kennen: Er wird nachts auf der Straße zusammengeschlagen und von einer gerade in einem Taxi vorbeifahrenden Dame aufgelesen. »Zwei Wochen später war Bonadea schon seit 14 Tagen seine Geliebte« (7., 30). Bald aber langweilt sie ihn, und er versucht, sie loszuwerden.

Im Umgang mit Frauen ist Ulrich schon als junger Mann nicht schüchtern gewesen. »Sein Blick hatte sich schon an kleinem Weibszeug geübt und sogar bei mancher ehrbaren Frau den kleinen Diebspfad erspäht, der zu ihr führte« (32.,123). Dann aber, als 22jähriger Reiterleutnant, hatte er sich ernstlich verliebt, in die Gattin eines Majors. Nun wurde er liebeskrank. Er hatte, so erinnert er sich, der Frau des Majors die Welt erklärt, und plötzlich wurden beide von Liebe ergriffen. Das Erlebnis währte nicht lange, und Ulrich ergriff vor der Liebe die Flucht (124). In weiter Entfernung von der Heimat und der Geliebten fühlte er sich in der Landschaft eins mit der Welt und all ihren Erscheinungen (125).

Der Vater teilt ihm mit, er habe ihn an seinen langjährigen Freund, »Exzellenz Grafen Stallburg«, empfohlen (19., 78). Man plane eine Aktion (fortan »Parallelaktion« genannt) zu Ehren des 70jährigen Thronjubiläums des österreichischen Kaisers im Jahre 1918.

Zunächst aber sucht Ulrich, ebenfalls auf Wunsch des Vaters, seine »Kusine« Diotima auf (am gleichen Tag wie Dr. Arnheim, den sie für die Parallelaktion gewinnen möchte). Diotima findet ihn »glattrasiert, groß, durchgebildet und biegsam muskulös«, sein Gesicht erscheint ihr »hell und undurchsichtig« (22., 93).

Kapitel 39 heißt »Ein Mann ohne Eigenschaften besteht aus Eigenschaften ohne Mann.« Ulrich ordnet seine Erfahrungen nicht sich selbst zu, sondern verallgemeinert sie (149). »Man ist früher mit besserem Gewissen Person gewesen als heute« (150). Auch wenn Ulrich meint, dass er es »gleich nah und weit zu allen Eigenschaften hätte«, findet der Erzähler es nicht schwer, ihn »in seinen Grundzügen« zu beschreiben: »Er ist ein männlicher Kopf. Er ist nicht empfindsam für andere Menschen [...]. Er achtet Rechte nicht, wenn er nicht den achtet, der sie besitzt, und das geschieht selten. Denn es hat sich mit der Zeit eine gewisse Bereitschaft zur Verneinung in ihm entwickelt« (40., 151).

Ulrich selbst findet sich »unklar und unentschieden«, er liebt sich selbst nicht (40., 153). Er hätte wohl ein Herr des Geistes werden wollen. »Aber wenn Geist allein dasteht, als nacktes Hauptwort, kahl wie ein Gespenst, dem man ein Leintuch borgen möchte, - wie ist es dann? [...] Dieser Geist ist so fest verbunden mit der zufälligen Gestalt seines Auftretens!« (152). In Ulrichs Augen ist »der endgültige Zustand eines geistig angebildeten Menschen [...] ungefähr der, daß er sich auf sein ›Fach‹ beschränkte und für den Rest seines Lebens die Überzeugung mitnahm, das Ganze sollte ja vielleicht anders sein, aber es habe gar keinen Zweck, darüber nachzudenken.« (154 f.)

Während dieser Reflexionen sieht Ulrich sich plötzlich gespalten. Der eine Ulrich denkt abgeklärt: »Da habe ich also einmal eine Rolle spielen wollen, zwischen solchen Kulissen wie diesen. Ich bin eines Tags erwacht, nicht weich wie in Mutters Körbchen, sondern mit der harten Überzeugung, etwas ausrichten zu müssen. Man hat mir Stichworte gegeben, und ich habe gefühlt, sie gehen mich nichts an [...]. Unmerklich hat sich aber inzwischen der Boden gedreht, ich bin ein Stück meines Wegs vorangekommen und stehe vielleicht schon beim Ausgang. Über kurz wird es mich hinausgedreht haben, und ich werde von meiner großen Rolle gerade gesagt haben: ›Die Pferde sind gesattelt‹ Möge euch alle der Teufel holen!«. Aber der andere, »weniger sichtbare« Ulrich findet keine Worte für seine Empfindungen. »Worte springen wie die Affen von Baum zu Baum, aber in dem dunklen Bereich, wo man wurzelt, entbehrt man ihrer freundlichen Vermittlung.« Ein Sturm tobt in seinem Innern, es ist wie eine Bekehrung oder Umkehrung (155).

Ulrich versteht, dass einen zuweilen Panik erfassen kann, so wie den Betrunkenen, der sich und die Welt als nicht fest empfindet. Darum verteidigt er einen betrunkenen Arbeiter und wird mit diesem von der Polizei festgenommen (40., 157). Er gerät in eine staatliche »Maschine«. Eine Personenbeschreibung wird von ihm angefertigt: Seine grauen Augen sind »eines von den vorhandenen vier, amtlich zugelassenen Augenpaaren, das es in Millionen Stücken gab; seine Haare waren blond, seine Gestalt groß, sein Gesicht oval« (159). Nach seinem Gefühl dagegen ist er manchmal groß und kräftig, dann wieder schmal und zart. Als Beruf gibt er »privat« an, was für den Beamten wie »obdachlos« klingt. Doch bald sorgt der Polizeipräsident persönlich für seine Freilassung, denn Graf Leinsdorf hatte kurz zuvor die Polizei gebeten, Ulrichs Wohnsitz ausfindig zu machen (161).

So erscheint Ulrich denn zusammen mit Seiner Erlaucht zur »Großen Sitzung« der vaterländischen Aktion bei Diotima (Kap. 42). Er wird ehrenamtlicher Sekretär und sortiert die eingehenden Vorschläge »aus der Mitte des Volkes« zur Gestaltung des Jubiläumsjahrs, über die er dann dreimal wöchentlich zu berichten hat (Kap. 58). Im übrigen fühlt er sich in einer Krise – »er befand sich in dem schlimmsten Notstand seines Lebens« (62., 259). Da taucht Bonadea unerwartet wieder bei ihm auf, aber er widersteht ihren Lockungen (Kap. 63).

Ulrich berichtet Diotima über ein Gespräch mit Arnheim, in dem dieser ihn analysiert habe. Ulrich habe sein Interesse für das Nichtverwirklichte, das Mögliche verteidigt, und Arnheim habe ihn mit einem Mann verglichen, der sich neben ein gemachtes Bett auf die Erde lege (66., 275).

Diotima, die wegen der Aktion nun öfter mit dem »Vetter« Ulrich zusammen ist, findet ihn allmählich sympathischer: »Sein offenes Gesicht mit der klaren Stirn, seine ruhig atmende Brust, die freie Beweglichkeit in allen seinen Gliedern verrieten ihr, daß bösartige, hämische, umgebogen-wollüstige Bedürfnisse in diesem Körper nicht zu Hause sein konnten« (67., 282).

Ulrich kennt körperliche Liebe nur getrennt von seinem Geist, und das Verhalten dabei scheint sich ihm kaum von Mord und Totschlag zu unterscheiden (68., 285). Er fühlt sich in seinem wohltrainierten Körper nicht zu Hause (68., 286; 69., 289). Arnheim spricht gegenüber Diotima von Ulrichs ausgebildetem Verstand und seiner infantilen moralischen Exotik (324).

Nach Gesprächen mit der gescheiten Clarisse, die immer mehr neben sich steht und wie in Trance redet, denkt Ulrich darüber nach, dass es doch im Leben wie in der Mathematik möglich sein könnte, sich durch viele Einzellösungen der allgemeinen Lösung zu nähern (83., 358). Auf anderer Ebene beschäftigen sich Diotima und Arnheim damit. Diotima: »Ach, wenn man nur den erlösenden Gedanken fände!« Arnheim: »Nur ein reiner, ungebrochener Liebesgedanke kann uns die Erlösung bringen!« (83., 376). Diesen Dialog berichtet General Stumm Ulrich. Stumm seinerseits möchte Diotima helfen: »Es gibt so viele Gedanken und einer muß schließlich der erlösende sein!« (376).

In einem langen Gespräch, das Vetter und Kusine am Rande eines »Konzilstreffens« führen, spricht er mit ihr über extreme Seelenzustände. Ein Verbrecher wisse nicht, warum er so gehandelt habe. Das Ich verliere seine Souveränität, die Persönlichkeit werde nur noch ein »imaginärer Treffpunkt des Unpersönlichen« sein (101., 474).

Dies alles äußert er in einer intimen Situation, in der Garderobe, dann in Rachels Mädchenkammer, auf deren Bett sitzend. Bald darauf spricht er mit Gerda Fischel über den Fortschritt und denkt dabei, dass es eigentlich gleichgültig sei, welcher Frauenkörper ihn anrege (102., 489).

In einer der langen Reflexionen, denen sich Arnheim immer öfter in seinem Hotel hingibt, setzt er sich mit Ulrich auseinander, der ihn irritiert. Er erscheint Arnheim, der das Irrationale liebt, wie ein reiner Verstandesmensch. Aber auch bei Ulrich liege ein Schatten zwischen ihm und den »Gegenständen seines Verlangens« (547) - eigentlich seien sie beide wie Brüder, die sich feindlich begegneten. Plötzlich fällt ihm ein: »Dieser Mann hat Seele!« (548).

In den ersten Wochen des Jahres 1914 geht Ulrich mit Diotima und Arnheim in die Hofbibliothek, um nach einem Makart-Festzug aus den 1870er Jahren zu forschen. Sie treffen dort Stumm, und während Arnheim mit dem General redet, führt Ulrich ein intimes Gespräch mit Diotima. Sie sprechen über Arnheim und die Entscheidung, die sie fällen soll. Was soll sie tun? »Gewährenlassen!« rät Ulrich – nämlich das annehmen, was kommt. Sie könne es ja einstweilen mit ihm versuchen. »Versuchen wir einander zu lieben, als ob Sie und ich die Figuren eines Dichters wären, die sich auf den Seiten eines Buchs begegnen« (114., 573).

Während einer ›Konzilssitzung‹ kommt Bonadea, aus Sehnsucht nach Ulrich, in Diotimas Haus. Mit Rachels Hilfe kann er ungesehen mit ihr in Diotimas Schlafzimmer gehen. Ihre Liebe rührt ihn, und er spricht ernster mit ihr als sonst. Ihm fällt ein Traum ein, in dem er einen steilen Berghang überqueren wollte, aber immer wieder von Schwindelgefühlen zurückgetrieben wurde (115., 581). Er verabschiedet Bonadea liebevoll und sagt ihr: »ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen können, ich habe jetzt viel mit mir selbst zu tun!« (582).

Bei einer Konzilssitzung im kleinsten Kreis schweifen Ulrichs Gedanken weit ab. Er fühlt plötzlich »ein unbeschädigtes Verständnis dafür in sich, daß das Leben ein derber und notvoller Zustand sei« . Dieses »Lebensgemisch von Sorgen, Trieben und Ideen« brauche die Ideen höchstens zur Rechtfertigung oder als Reizmittel (116., 591). Er schlägt dem Grafen Leinsdorf eine »geistige Generalinventur« vor, so als ob der Jüngste Tag ins Jahr 1918, das Jubeljahr, falle. Der alte Geist solle abgeschlossen werden und ein höherer beginnen. »Gründen Sie im Namen Seiner Majestät ein Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele« (597). Man nimmt ihn nicht ernst, aber Graf Leinsdorf verteidigt ihn gegen Arnheim. Ulrich erinnert sich, dass er einmal zu Tuzzi gesagt hat, »er werde sich töten, wenn das Jahr seines Lebensurlaubs ohne Ergebnis verstreiche« (599).

Während Ulrich die beiden sehr weiblichen Frauen, die er mag, auf Distanz hält, ergibt es sich, dass er die magere Gerda Fischel, die er nicht besonders mag, von ihrer leidenden Jungfräulichkeit zu befreien versucht (119.). Das misslingt, denn Gerda bekommt, obwohl sie Ulrich zu lieben glaubt, einen hysterischen Schreikrampf. Später kommt er sich vor wie ein großer Hund, der sich über einen heulenden kleinen hergemacht hat (120., 630).

Als die von Hans Sepp angekündigte Kundgebung gegen die Parallelaktion stattfindet, ist die ganze Stadt, wie es scheint, erregt. Ulrich geht ins Palais des Grafen Leinsdorf, das bewacht wird. Die Menge vor dem Palais ruft und droht, aber man versteht es oben nicht. Ulrich betrachtet das Ganze mit großer Distanz und gibt sich einer »staats- und menschenfeindlichen Gesinnung« hin (120., 632).

Kurz darauf verwickelt Arnheim ihn in ein Gespräch über seine früher geäußerten Ansichten. In Arnheims Augen fordert Ulrich von den ›verantwortlichen Führern‹ ein »Bewußtsein des Versuchs«, d.h. das Bewusstsein, »daß sie nicht Geschichte zu machen, sondern Versuchsprotokolle auszufüllen haben, die weiteren Versuchen zur Grundlage dienen könnten« (121., 636). Obwohl Ulrich ihn wegen seines Verhaltens gegen Diotima angreift, bietet Arnheim ihm an, in die Unternehmungen seiner Firma einzutreten. Nun bringt Ulrich zur Sprache, was er von Arnheims Öl-Interessen gehört hat, und irritiert ihn damit erheblich. Arnheim legt Ulrich dann den Arm auf die Schulter, das macht Ulrich verlegen, weil es seiner Sehnsucht nach einem Freund entgegenkommt. Er hatte »einen Wall von Einsamkeit«, ohne dass er es wollte, um sich aufgerichtet, »und nun drang durch eine Bresche das Leben ein, der Puls eines anderen Menschen« (644). Ulrich geht schließlich und erklärt, sich Arnheims Vorschlag überlegen zu wollen (647).

Auf dem Heimweg durch die winterlichen Straßen denkt Ulrich darüber nach, was ihm im Gegensatz zu anderen fehlt: Es ist die ›perspektivische Verkürzung des Verstandes‹ (122., 648), die das Nahe groß und das Ferne klein erscheinen lässt, und es ist die »erzählerische Ordnung«, die die Menschen ihrem Leben geben, wenn sie mit »als«, ehe« und »nachdem« oder gar mit »weil« und »damit« von sich erzählen (650).

Als Ulrich nach Hause kommt – es ist immer noch derselbe Wintertag, der mit Gerdas Besuch begann –, findet er Clarisse vor, die ihm das Telegramm übergibt, das den Tod seines Vaters mitteilt. Er denkt: »Ich bin nun ganz allein auf der Welt!«, obwohl seine Beziehung zum Vater nicht gut war (123., 655).

Clarisse ist entschlossen, von ihm das Kind (»den Erlöser der Welt«) zu empfangen, das sie von Walter nicht will (660). Er widersteht ihrer Verführung, als er sich an Gerda erinnert, und erklärt schlicht: »Ich will nicht, Clarisse!» (661). Als er allein ist, fällt ihm auf, dass die wohl geisteskranke Clarisse oft dieselben Gedanken äußert wie er (662). Dann hat er in seiner Übermüdung plötzlich ein erweitertes Körpergefühl, obwohl »kein Gott das Zimmer dieses Ungläubigen betrat« (663 f.). Seine Einsamkeit »wuchs in die Welt. ›Welche Welt?‹ dachte er. ›Es gibt ja gar keine.‹« (664). Er glaubt sich wieder dort zu befinden, wo er vor Jahren schon einmal war, und nennt das »einen Anfall der Frau Major« (664). Aber dann ist der Morgen da, und Ulrich fährt zur Bahn.

Beim Begräbnis des Vaters sehen Ulrich und Agathe sich zum ersten Mal nach fünf Jahren wieder. Auch vorher haben sich selten getroffen. Nachdem ihre Mutter früh gestorben war, wurden sie in verschiedenen Internaten erzogen. Nur einmal, als die fünf Jahre jüngere Agathe zehn Jahre alt war, waren sie längere Zeit in den Ferien zusammen. Als sie sich jetzt in ihrem Elternhaus wieder begegnen, tragen beide ›zufällig‹ einen Hausanzug, der einem Pierrotkostüm ähnelt (III, 1., 675 f.). Nach dem Begräbnis vollendet Ulrich plötzlich seine mathematische Untersuchung, strebt damit aber keine akademische Karriere mehr an (III, 8., 720).

Die Geschwister sind schnell miteinander vertraut. In seiner Schwester begegnet Ulrich zum ersten Mal das Andere nicht als leicht Abstoßendes, sondern als Gleiches. Und Agathe findet, in ihm sähe man sich wie in den Scherben eines Spiegels (III, 10., 744). Während sie den Nachlass des Vaters ordnen, liest Ulrich Bücher über Heilige und ihre unmittelbaren Erfahrungen (III, 11., 750). Er spricht zu Agathe davon ohne Ironie. Kein Europäer lebe heute mehr im Extrem (III, 12., 758). Aber auch ohne Glauben gebe es zwei Zustände des Menschen, ein geheimnisvolles zweites Leben, über das er spotte, weil er es liebe (11., 752). Agathe kann sich den anderen Zustand nur als Liebe vorstellen (12., 765 f.). Gewöhnlich wird das als »Wahn« betrachtet, meint Ulrich. Er glaubt für die Zukunft an »Mathematik und Mystik« (770).

Wieder in Wien, wird er von General Stumm überfallen, der ihn für die neue Aktion gewinnen will: es gelte jetzt der Geist der Tat (III, 13., 778).

Es wird März (III, 14., 785), und Ulrichs Versuch eines »Lebens auf Urlaub« geht zuende. Agathe soll – zunächst nur »für die Dauer der Scheidung« von Hagauer – zu ihm ziehen (III, 15., 800 f.). Ulrich meint, Agathe und er werden nun in das »tausendjährige Reich« einziehen. Agathe: »Was ist das?« Ulrich erinnert sie an ihre Gespräche über eine Liebe, »die nicht wie ein Bach zu einem Ziel fließt, sondern wie das Meer einen Zustand bildet« (15., 801).

Während Hagauer, Agathes Mann, auf eine schlechte (d.h. moralisch bequeme) Art gut sei, seien sie auf gute Art schlecht, überlegt Ulrich (III, 18., 822). Vor Agathes Ankunft reflektiert Ulrich so lange, bis er ihre Beziehung nüchterner sieht (III, 22.). Er betrachtet seine moralischen Erwägungen kritisch (»Es erging ihm so, wie es gewiß auch manchem, der seine Geschichte verfolgt, ergehen wird« – 22., 871). Angesichts des Lebens auf der Straße fragt er sich: »Was soll es denn bedeuten [...] auch noch ein Ergebnis zu verlangen, das darüber, dahinter, darunter sein soll?« (873). Der Begriff »Tausendjähriges Reich« bedeute eigentlich nur »eine Art wohltuenden Werks« (875). Ihre Geschwisterliebe habe etwas Asoziales, weil sie vor allem »Abstoßung von der übrigen Welt« sei (876).

Nach Agathes Ankunft muss Ulrich sein Haus und sein Leben neu ordnen. Er hat bisher immer allein gelebt. »Du bist meine Eigenliebe«, sagt er ihr (III, 24., 899). Seine Geliebten habe er eigentlich nie gemocht (III, 25., 899). Die Geschwister sehen sich nun als »Zwillinge« (908), gar als siamesische. Das sagt Ulrich auch zu General Stumm, fortan heißen sie »die Siamesen« (III, 27., 934). Ulrich genießt Agathes Anwesenheit im Haus, ihren Umgang mit Kleidern (III, 28., 938). Er liebt zum ersten Mal den Alltag und die Gegenwart (937). Sie sprechen viel über Liebe im allgemeinen. Als aber Hagauers Brief an Agathe eintrifft, hat er für ihre Skrupel ihres Mannes wegen kein Verständnis (III, 29.), und Agathe geht traurig weg. Doch abends sind sie wieder bei Diotimas großer Gesellschaft zusammen und fühlen sich einander sehr nah. Zum ersten Mal zerbricht die »Schale« um Ulrich (III, 38., 1025). Er »kämpfte um seine Seligkeit. Er versuchte, alles dazwischenzuschieben, was sie hindern könnte« (1038).

Nachdem Agathe vergeblich Rat bei dem tugendhaften Lehrer Lindner gesucht hat, kommen die Geschwister einander immer näher, besonders an einem Mondscheinabend im sommerlichen Garten, wo Ulrich über »taghelle Mystik« und die Einheit der Gegensätze spricht (1089 f.). »Die Ungetrennten und Nichtvereinten« (1104) sprechen viel über Liebe, Wirklichkeit, Mystik (1233). Ulrich denkt über die beiden Arten des Menschseins nach, die aktivistische und die kontemplative oder nihilistische. »Weshalb sind wir denn keine Realisten?« »Sie waren es beide nicht [...], aber Nihilisten und Aktivisten waren sie« (1239).

In ihre Zweisamkeit bricht General Stumm ein, den sie auch in ein Gespräch über Liebe verwickeln, zunächst über Liebe zu Gegenständen, Idolen (1115). Dann erklärt Ulrich, die Aussage »Ich liebe dich«, sei eine Verwechslung der wirklichen Person mit der vorgestellten, diesem »wildreligiösen Gebilde«. Agathe: »Vielleicht entsteht auch der Reisekoffer erst zu Ende, wenn man ihn liebt!« (1116).

Stumm lobt Ulrichs schönes Sprechen, fragt aber, ob es denn seine einzige Beschäftigung sei (1117). In einem langen Gespräch klärt er Ulrich über die Entwicklung der Parallelaktion auf, die einem Weltfriedenskongress im Herbst habe weichen müssen. Ulrich erfährt viel über Tuzzi, Diotima, Leinsdorf und Stumm selbst (1130 ff., 1147 ff.). Es amüsiert ihn, besonders wie Tuzzi sich zum Herrn der Vorgänge gemacht hat. Ihm ist dabei, als fühle er »dem Teufel nach, wie er in die Himmelsspeise des Lebens eine Faust voll Salz getan hat« (1137). Sie sprechen auch wieder über die praktische Anwendbarkeit des Geistes, und Ulrich sagt: »Der Geist ist ins Leben verflochten wie ein Rad, das er treibt und von dem er gerädert wird« (1152). Von Graf Leinsdorf berichtet Stumm, er betrachte nun Realpolitik als »das Gegenteil von dem, was man tun möchte« (1137).

Während Ulrich mit Stumm spricht, liest Agathe heimlich seine Tagebücher, die sich mit Liebe und Schönheit beschäftigen (1123 ff.). Dabei stößt sie auf einen »geschichtlichen Abriß der Gefühlspsychologie« (1138 ff., 1156 ff.). Später setzt Ulrich seine theoretischen Überlegungen im Tagebuch fort (1189 ff.), bis er bei den Engeln und Swedenborg ankommt (1202 f).

Ulrichs Vater

Ein Mann »mit Eigenschaften« (3., 13). Er hat vor 47 Jahren eine Arbeit über »Die Zurechnungslehre des Samuel Pufendorf und die moderne Jurisprudenz« geschrieben (19., 77). Er sorgt dafür, dass der Sohn zu den Grafen Stallburg und Leinsdorf geht und sich mit seiner »Kusine« Diotima bekanntmacht.

In einem langen Brief (Kap. 74) teilt er Ulrich mit, dass er sich anlässlich der geplanten Neufassung des Strafrechts wieder mit der Frage der Zurechnungsfähigkeit, verminderten Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit bei Straftätern beschäftigt habe und durch seinen Paragraphenentwurf mit dem Kollegen und alten Freund Professor Schwung heftig aneinandergeraten sei (beide waren sich ursprünglich einig gewesen, dass der modernen Verweichlichung bei der Beurteilung von Straftätern Einhalt zu gebieten sei). Er bittet den Sohn, bei den entscheidenden Herren Einfluss in seinem Sinne zu nehmen, was Ulrich aber nicht möglich ist.

Kapitel 111 kommt darauf zurück: »Es gibt für Juristen keine halbverrückten Menschen« (534). Keine der von Ulrichs Vater bzw. Professor Schwung vertretenen Ansichten hat eine Mehrheit im Ausschuss gewonnen. Der Vater hat dem Brief an Ulrich die Streitschriften zu der Auseinandersetzung mit seinem Kollegen beigelegt, und Ulrich liest sie erst jetzt. In einem verzwickten Gedankengang argumentiert der Vater, geisteskranke Verbrecher müssten härter bestraft werden als andere, und nennt das eine »soziale« Wendung (538).

Den »schnurrig-unheimlichen Text« des Telegramms, durch das Ulrich vom Tod seines Vaters erfährt, hat der Vater wohl noch selbst aufgesetzt (123., 655). Zum Begräbnis reist Ulrich in die große Provinzstadt, in der sein Elternhaus steht. Zum Tod des Vaters und den nachfolgenden Zeremonien hat er ebenso viel Distanz wie seine Schwester Agathe.

Zur Trauerfeier erscheint auch Professor Schwung, mit mehr Schwung als Trauer: nun kann er seine Formulierung des Paragraphen 318 ohne Widerstand durchsetzen (III, 4., 696 f.).

Walter

Ulrichs Jugendfreund Walter ist mit Clarisse verheiratet, die ihn schon liebte, als sie fünfzehn war (38.,147). »Walter hatte immer Glück gehabt mit Menschen« (118., 611). Er lebt in einer halbgelehrten Stellung und weiß nicht recht, ob er Maler oder Musiker sein will. Allerdings fällt ihm in seiner wirklichkeitsfernen Muße ohnehin nichts mehr ein (14., 52). Er spielt leidenschaftlich Wagner, den Clarisse hasst (49). Oft tut er gar nichts und lässt einfach die Zeit vergehen. Er tröstet sich mit dem Gedanken, dass das alte Europa ohnehin entartet sei. Clarisse dagegen glaubt an das Genie (17., 61 f.). Walter pflegt eifersüchtige Gefühle gegenüber Ulrich, der das Paar öfter besucht. Clarisse schlägt ihm daraufhin vor, Ulrich einfach zu töten.

Clarisse wirkt zunehmend derangiert. Sie verweigert sich Walter, vor allem will sie kein Kind. Nach einer dramatischen Szene fährt Walter in die Stadt, um an der angekündigten Kundgebung gegen die Parallelaktion teilzunehmen. Auf dem Weg hat er das Empfinden, dass »der Beamte des Kunstdepartements, der er war, aber auch der kämpfende Maler und Musiker, ja sogar der gequälte Gatte Clarissens einer Person Platz machten, die sich in keinem dieser bestimmten Zustände befand«, vielmehr in einem »Vorzustand« wie die Stadt selbst (120., 625). Er spürt bei den Menschen unterwegs eine »unbewußte Bereitschaft, aus Kleidern und Haut zu fahren« (626). (Was er dort erlebt, wird nicht erzählt.)

Am Abend dieses Tages findet Ulrich Clarisse in seinem Haus vor. Sie will das Kind nun von ihm, um nicht durch ein Kind von Walter beherrscht zu werden. Dabei ist sie überzeugt, dass Walter ohne sie zusammenfallen würde wie ein Regenschirm ohne Stock. Er werde zugrunde gehen. Ulrich: »Du und ich werden längst verhutzelt sein, aber Walter wird noch unter weißem Haar und als Direktor seines Archivs ein Jünglingsgesicht haben« (123., 657).

Clarisse lässt sich von dem Dichter Meingast, der ihr Gast ist, beeinflussen und möchte unbedingt den Verbrecher Moosbrugger sehen. Sie treibt Walter immer wieder fast zur Verzweiflung. »Walter? Warum sind wir unglücklich?!« fragt sie. Und er fühlt, »daß sein Unglück mit Clarisse durch kein Glück mit einer anderen Frau ersetzt werden könnte« (III, 26., 912). Aber er hält ihr vor, wie »lebensungerecht« ihre großen, ungemischten Forderungen seien (912). Im übrigen sei er als Ehemann rechtlich ihr Vormund (911) und könne sie am Besuch bei Moosbrugger hindern. Aber darauf verzichtet er.