Esau

Esau kam wenige Minuten vor seinem Zwillingsbruder Jaakob zur Welt, weshalb Jizchak (Isaak) lange Zeit meinte, ihn als seinen erstgeborenen Sohn betrachten zu sollen – trotz der Vorbehalte, die er gegen den ›Rotpelz‹ hegte (IV, 197). Dabei war eigentlich – und nicht nur für Rebekka, die Mutter, sondern insgeheim auch für Jizchak – von Anfang an klar, wer von den beiden Söhnen der Segensträger war: Nicht Esau, das »stachlige Gewächs«, sondern Jaakob, das »duftige Gras« (IV, 194), nicht der über den ganzen Leib, »wie der Wurf einer Bezoargeis«, mit roten Haaren bedeckte und unheimlicherweise mit einem vollständigen Gebiss zur Welt gekommene Erste, sondern der ›glatte‹, zahnlose Zweite, um den »ein mildes Scheinen« war und der »gar klug und friedlich« lächelte, während sein roter Bruder sich »in unausstehlichem Gequarre wälzte und seine Brauen dabei zu einer greulichen Arabeske verzog« (IV, 197 f.).

In Esau, soviel steht für den Erzähler fest, kehrt ein Typus wieder, dessen mythisches Schema in den ›bösen Brüdern‹ Kain, Cham und Ismael sowie im ägyptischen Set (oder Typhon) vorgebildet ist: Das Schema des »Roten«, des Üblen, der Wüste und der Unterwelt Zugehörigen, des Jägers oder Ackerbauers und Gegenbruders der ›zeltfrommen‹ Hirten Habel, Sem und Isaak sowie des ägyptischen Usir.

Dass Isaak dieses Schema nicht erkannt und, wie Genesis 25,28 berichtet, Esau mehr als Jaakob geliebt haben soll, schließt der Erzähler aus. Denn »je mehr die Knaben heranreiften [...], desto deutlicher wurde, wer beide waren, in welchen Spuren sie gingen und auf welchen Geschichten sie fußten, der Rote und der Glatte, der Jäger und der Häusliche«. Und da doch Isaak selbst »mit Ismael, dem Wildesel, das Brüderpaar gebildet hatte« und »selbst nicht Kain gewesen war, sondern Habel, nicht Cham, sondern Sem, nicht Set, sondern Usir, nicht Ismael, sondern Jizchak, der wahrhafte Sohn«, hält der Erzähler es für ganz und gar abwegig anzunehmen, er hätte »sehenden Auges an der Übereinkunft festzuhalten vermocht, er bevorzugte Esau« (IV, 200). Vielmehr habe Isaak erblinden müssen, um das zu tun (und um sich dann von Jaakob betrügen zu lassen).

Nicht nur Isaak, auch Esau selbst weiß um das ihm zugedachte ›Schema‹ und kennt seine »Rolle auf Erden«. Man ginge nämlich fehl, belehrt uns der Erzähler, »und würde der mythisch-schematischen Bildung seines Geistes nicht gerecht«, wenn man annähme, »Gefühl und Bewußtsein seiner selbst, seiner Rolle als sonnverbrannter Sohn der Unterwelt, sei ihm erst aus seinem Jägerberuf erflossen.« Ganz im Gegenteil habe Esau den Beruf gewählt, »weil es ihm so zukam, aus [...] Gehorsam gegen das Schema« (IV, 135).

Im Lichte dieser Erkenntnis sei dann auch die Geschichte mit dem Linsengericht (Genesis 25,29-34), sofern sie denn überhaupt stimme (und nicht nachträgliche Rechtfertigung des Segensbetrügers sei), keineswegs als leichtsinnige Preisgabe des Erstgeburtsrechts zu verstehen, sondern ebenfalls Ausdruck mythischen Gehorsams (IV, 135 f.). Und dass es den Rotpelz schon früh in den »Süden« zog, ins Land Edom zu den Leuten des Seïr-Gebirges und ihrer »gewitterigen« Gottheit Kuzach (IV, 199), habe ähnliche Gründe: Es habe ihn nach Süden gezogen, »weil es sich so für ihn schickte, denn der Süden lag im Denklichte des Unterweltlichen, wie übrigens auch die Wüste, in die Isaaks Gegenbruder Ismael hatte abwandern müssen« (IV, 135).

Der Erzähler ist sichtlich entschlossen, Esau gegen die Vorwürfe der »Lehrer und Wissenden« in Schutz zu nehmen, die ihn »viel heftiger beschimpften, als seine bürgerlich-irdische Person beschimpft zu werden verdiente«. Mit aller Gewalt wollten sie ihn auf das ›wilde Schwein‹ hinausspielen, auf Ninib, den garstigen Keiler (des Tammuz-Mythos), der »den Schäfer und Herrn zerriß in Libanons Schlüften«, damit sich nur ja niemand »durch die ungeschlachte Gutmütigkeit seiner bürgerlichen Person täuschen lasse über das, was er ist im Umschwung der Sphäre« (IV, 194).

Tatsächlich aber seien selbst seine argen Mordpläne gegen Vater und Bruder aus seinem Gehorsam gegen das ›Schema‹ erklärbar: Er »tat das alles, weil es eben so in seiner Charakterrolle lag, und wußte fromm und genau, daß alles Geschehen ein Sicherfüllen ist und daß das Geschehene geschehen war, weil es zu geschehen gehabt hatte nach geprägtem Urbild: das heißt, es war nicht zum ersten Male, es war zeremoniellerweise und nach dem Muster geschehen, es hatte Gegenwart gewonnen gleichwie im Fest und war wiedergekehrt, wie Feste wiederkehren« (IV, 201).

Der beherzte Einsatz des Erzählers für Esaus ›bürgerliche Person‹ rettet den zotteligen Tölpel freilich nicht vor Spott. Beim ›großen Jokus‹ des Segensbetruges ist ihm eine entschieden komische Rolle zugedacht, die er mit »bombastischem Fuchteln und schallenden Blähreden von des Vaters Liebe zu ihm und von Rotpelzchens großem Tag« treulich spielt, so »daß die Hofleute sich nur so bogen und krümmten und Tränen lachten und den eigenen Leib mit den Armen umschlangen vor Lachen« (IV, 212 f.), und das selbst dann noch, als dem Betrogenen nach erfolgter Abfuhr und Verfluchung Tränen »so dick wie Haselnüsse« über das sonnenverbrannte Gesicht laufen (IV, 214).

Eine ähnlich komische Figur macht er beim Wiedersehen mit Jaakob am Jabbok. Da ist er »obgleich ergraut« und inzwischen 55 Jahre alt, »noch immer der gedanken- und bedeutungslose, zwischen Geheul und tierischem Leichtsinn schwankende Naturbursch von ehemals« (IV, 146 f.). Tanzend und flötespielend, ein Satyr und »Flötenbock« mit »spitzen Ohren«, den fast nackten Leib mit »grau-roten Zotteln« bedeckt, bewegt er sich auf Jaakobs Tross zu, hüpft »blasend, winkend, lachend und weinend« dem Bruder entgegen, der bei diesem Anblick »in Geringschätzung, Scham, Erbarmen und Abneigung, bei sich etwas dachte wie ›Allmächtiger Gott!‹« (IV, 147).

Spötteleien treffen auch seine Gebundenheit an das mythische Schema selbst, die ihn in den Augen des Erzählers zwar einerseits entlastet, andererseits aber auch seine Unfähigkeit begründet, ›Ich‹ zu sagen (wie sein Neffe Joseph und, mit Abstrichen, sein Bruder), als selbstbestimmtes Subjekt, unabhängig von den Mustern des mythischen Kollektivs zu handeln. Das zeigt sich besonders nach dem Segensbetrug, als er für seine auch dem Vater geltenden »Blutwünsche« (IV, 214) keine Handhabe findet, weil er kein mythisches Vorbild dafür kennt. Den Vorschlag seines Onkels Ismael, Isaak zu töten, hält er deshalb für »wurzelloses Gefasel«: »Vatermord, das kam nicht vor unter den Möglichkeiten seines Denkens, das war nie geschehen, das gab es nicht, der Vorschlag war ohne Hand und Fuß, es war ein in sich absurder Vorschlag.« Ismael lacht über des Neffen »mundoffene Begriffsstutzigkeit« (IV, 215).

Ismaels Überlegenheit im Bösen gibt dem Erzähler aber auch Gelegenheit, Esau erneut in Schutz zu nehmen. Denn Ismaels Gegenbehauptung, dass der Vatermord keineswegs ohne Wurzeln, vielleicht sogar »der Anfang von allem« gewesen sei, und seine Empfehlung, nach erfolgter Tat »reichlich« vom Fleisch des erschlagenen Vaters zu essen, »um sich seine Weisheit und Macht [...] einzuverleiben«, entsetzen den armen Esau so tief, dass sich seine roten Zotteln sträuben und er davonläuft (IV, 215). Der »gute Teufel« (IV, 150) ist moralisch nicht ganz unempfindlich. Dafür spricht auch seine Scheu vor der »Kainstat«, die er mehr aus Verpflichtung gegenüber dem ›Schema‹ als aus eigenem Antrieb ins Auge zu fassen scheint (IV, 214; vgl. auch IV, 136). Esau, der »Dunkelmond« und »Sonnenmann« (IV, 134), ist eine vergleichsweise gutmütige (zivilisationsgeschichtlich späte?) Variante der ›Roten‹.

Die übrige Charakterisierung hebt die zivilisatorische Differenz hervor, die das mythische Schema der ungleichen Brüderpaare im Roman markiert: Esau ist der ungeschlachte Naturbursche, von »tierischer Frühreife« (IV, 199), dabei einfältig und ›hirnlos treuherzig‹ (IV, 146), ein »wirres, leichtes Gemüt« (IV, 216), unbeherrscht, in seiner »kindisch-ungezügelten Art« (IV, 187) rasch wechselnden Affekten unterworfen und schließlich und vor allem jeden »Sinnes bar für Abrahams hohes Erbe«, dem er schon durch seine zahlreichen Eheschließungen mit kanaanitischen und hethitischen Frauen und erst recht durch seinen Übergang zu Kuzach, dem Gewittergott der Ziegenleute vom Seïr, Hohn spricht (IV, 199).

Bei den Vorbereitungen zu Josephs Reise zu den Brüdern fühlt Jaakob sich lebhaft an seine Flucht vor Esaus Zorn erinnert, eine »gewagte Zusammenschau«, wie der Erzähler findet, denn weder könne Jaakob sein Tun mit dem seiner »heldenmütigen Mutter« vergleichen (IV, 527), noch schicke er seinen »Goldsohn« auf die Flucht »vor der Wut verkürzten Brudertums«, sondern geradenwegs »in Esau's Arme«. Es sei denn auch eher die Versöhnung am Jabbok, »auf die er es abgesehen und mit deren Wiederkehr er es so eilig hatte« (IV, 528).

Auch Joseph spielt, nachdem er als Sklave in Potiphars Hauswesen eingetreten ist, »mit allerlei Nachfolge und fromm verblendenden Selbstverwechselungen«: Er »war Jaakob, der Vater, eingetreten ins Labansreich, gestohlen zur Unterwelt«, auf der Flucht vor dem Bruderhass, vor dem hier nun verzehnfachten Esau, weshalb die Zehn gar »Esau-Brüder« genannt werden (IV, 819 f.).

Band IV: 35, 68, 82, 95, 102, 118, 130, 133, 134-136, 138 f., 145-151, 153, 166, 187, 188-194, 195-200, 201-214, 214-216, 217, 221, 240-242, 254, 261, 263, 271, 300, 302, 308, 320, 325, 351 f., 365, 371, 415, 421, 498, 528, 553, 639, 641, 645, 819, 820, 834.
Band V: 1252, 1265, 1430 f., 1509, 1513, 1545, 1747, 1778, 1791.

Die Rückführung der Figur auf das ›Schema‹ der ›Roten‹ folgt wohl Braun (I, 290), demzufolge die »alten Rabbinen« berichten, »dass Esau (Edom, der Rothe, Stammvater der Edomiter) Samael sei«, also »für einen fremden Gott zu halten (nämlich für Mars-Typhon)« sei, und die Esau mit »Namen wie: Schwein, wildes Schwein, alte Schlange, Satan« belegen, »alles Ausdrücke für Typhon, der als Ares in Ebergestalt den Osiris-Adonis im Libanon [d.i. Tammuz] tödtet.«

Die Charakterisierung Esaus als Satyr und »Bock« folgt Jeremias I (316 f.), der sich auf rabbinische Literatur bezieht, in der Esau »Bock« genannt werde. Hinweise auf den Zusammenhang zwischen Esaus Behaartheit und den ebenfalls ›haarigen‹ Bewohnern seiner Wahlheimat Seïr fand TM bei Benzinger (270).

Fischer (359) vermutet in Ismaels Empfehlung an Esau, vom Fleisch des erschlagenen Vaters zu essen, eine Anspielung auf Freuds Theorie der ›Urhorde‹ und des von ihr begangenen ersten Vatermords (»Totem und Tabu«, 1913).

Letzte Änderung: 17.08.2013  |  Seitenanfang / Lexikon   |  pfeil Zurück