Möhring, Mathilde (Thilde)

Tochter von Frau Möhring, später Ehefrau und dann Witwe von Hugo Großmann. Zu Beginn der Romanhandlung ist sie 23 Jahre alt und wohnt mit der Mutter in der Georgenstraße 19 in Berlin. Mathilde hat ein »Gemmengesicht«, also ein ›edles Profil‹; auch ist sie »sauber, gut gekleidet und von energischem Ausdruck«, aber sie ist hager, hat ›spärlich angeklebtes aschgraues Haar‹, dünne Lippen, »einen grisen Teint« und wasserblaue Augen mit einem »ganz prosaischen« Glanz, kurz: sie ist ohne »jeden sinnlichen Zauber« (1/7 f.). Schultze sieht in ihr zwar – im Vergleich mit seiner Frau – »ein appetitliches Mädchen« (1/7), aber sie ist »trotzdem nicht recht zum Anbeißen, was doch das eigentlich Appetitliche ist« (ebd.). Mathilde hat »scharfe Augen und viel Menschenkenntniß« (1/6), was ihr hilft, geeignete Untermieter zu wählen; außerdem hat sie eine gute Schule besucht und immer gute Zeugnisse gehabt, sie ist deshalb vergleichsweise gebildet. Entsprechend hat sie auch kein Misstrauen »in ihre Klugheit und Vortrefflichkeit«, wohl aber in ihr Äußeres (1/7). Dieses wenig anziehende Äußere ist auch der Grund dafür, dass die Nachbarschaft so verwundert auf ihre Verlobung mit Hugo reagiert: »Zu begreifen war es nicht, darin waren alle einig. Solch feiner Herr und ein Studirter, und nu diese Thilde mit ihrem geelen Teint«, die früher »auch noch Pickel« hatte (9b/55). Als Mathilde aber nach Hugos Tod als junge Witwe nach Berlin zurückkommt, erkennt sie ein Gepäckträger am Bahnhof und denkt bei ihrem Anblick: »Was doch nich das liebe Geld alles thut; hat sich schmählich rausgemausert.« (16/114)

Mathilde ist es, die den Alltag der Möhrings organisiert und bestimmt; ihre Mutter lässt der Tochter ihren Willen, denn, wie sie sagt, »ändern kann ich Dich doch nicht, Du hast immer deinen Willen gehabt von klein an, und Vater hat immer gesagt: ›laß man; die wird gut, die frißt sich durch‹« (2/12). Tatsächlich ist Mathilde sehr berechnend und nutzt ihre gute Menschenkenntnis, um andere zu manipulieren. Hugos Masernerkrankung, die seinen Umzug in die Möhringsche Stube, die wochenlange Pflege und am Ende die Verlobung zur Folge hat, betrachtet sie von Anfang an als »eine sehr gute Fügung« (7/40), denn sie rechnet damit, den schwachen Hugo in ein paar Wochen für sich gewinnen zu können. Das gelingt ihr auch, obwohl sie für den Bürgermeistersohn Hugo zunächst gesellschaftlich zu weit unter seinem Niveau und eigentlich auch »einfach eine komische Figur« ist, wie er seinem Freund Rybinski sagt (4/27). Doch Mathilde hat bei Hugo leichtes Spiel. Von seiner Krankheit noch geschwächt und für jede Unterhaltung dankbar, setzt sie ihre Bildung und Redegewandtheit erfolgreich ein, und schon nach kurzer Zeit sieht Hugo sie ganz anders, jetzt ist Mathilde für ihn »klug und tapfer, […] ein echtes deutsches Mädchen, charaktervoll, ein Wesen, das jeden glücklich machen muß, und von einer großen Innerlichkeit, geistig und moralisch. Ein Juwel.« (7/45) Nach der Verlobung stellt er fest: »Merkwürdiges Mädchen […] so gut und so tüchtig; aber küssen is nicht ihre Force.« (11b/82)

Ebenso wie die Verlobung plant Mathilde auch Hugos Karriere, von der ihr eigener gesellschaftlicher Status abhängt. Sie sorgt zunächst dafür, dass er für sein Examen lernt, gönnt ihm zwischendurch Ruhepausen, in denen über ganz anderes gesprochen wird, da sie erkennt, dass er es ansonsten nicht schaffen würde. Nach bestandenem Examen liest sie täglich die Stellenangebote in Tageszeitungen, bis sie die Bürgermeisterstelle im Woldenstein findet, die Hugo schließlich auch bekommt und dank ihrer Ratschläge in seiner kurzen Amtszeit sehr erfolgreich ausfüllt. Mathilde versteht es, den entscheidenden Personen zu schmeicheln, um sie sich gewogen zu machen, so z.B. dem Landrat. Der hält sie denn auch für »[k]olossal beschlagen«, sieht bei ihr »Muck, Race, Schick« und vermutet, Mathilde müsse eine – womöglich verheimlichte – vornehme Abstammung haben (14/102).

Innerhalb kürzester Zeit gilt Mathilde den Einwohnern Woldensteins als »sehr klug«, als eine Frau, »die immer wisse, was in der Welt los sei« (14/100). Mathilde freut sich zwar darüber, bleibt aber »nüchtern und überlegend« (ebd.) und schließt keine Freundschaften – wie sie auch in Berlin keine Freunde hat, denn in der Frage, wer zur Verlobungsfeier einzuladen sei, muss sie einsehen, »daß aus dem Kreise eigner Bekanntschaft niemand so recht zu wählen sei« (8/50). Über die Angewohnheit ihrer Mutter, Kontakt zu früheren Nachbarn zu halten, äußert sie sich Hugo gegenüber verächtlich: »Mutter hat so alte Sätze: ›Man soll alte gute Freunde nicht aufgeben‹ als ob es alte Freunde wären. Aber es sind keine, blos alt sind sie, das is richtig«(10b/71). Mathilde beurteilt ihre Mitmenschen danach, ob sie ihr nützlich oder schädlich sein können; Sympathie spielt keine große Rolle. Rybinskis Freundin Bella zum Beispiel gefällt ihr eigentlich sehr gut, und doch ist sie davon überzeugt, dass Rybinski und seine Braut »über kurz oder lang beseitigt werden« müssen, denn sie drohen Hugo vom Studieren abzuhalten (9b/58). Umgekehrt nimmt sie die Einladung Graf Goschins zur Schlittenfahrt an, weil er reich und angesehen ist, ungeachtet der Tatsache, dass Hugo bereits stark fiebert und nach Hause gebracht werden müsste (vgl. 14/103 f.). Auch Mathildes Verhältnis zu ihrer Mutter ist nicht besonders innig. Zwar bemüht sie sich, der Mutter kleine Freuden zu bereiten, aber oft genug schämt sie sich auch für sie und ihre Kleinbürgerlichkeit.

An Hugo, den sie ursprünglich nur aus Berechnung geheiratet hatte, scheint sie nach einer Weile erfolgreichen Zusammenlebens doch Gefallen zu finden und möchte jetzt auch selbst »einen gewissen Frauenreiz ausüben« (14/100). Die rosa Ampel, die sie von Frau Schmädicke zur Hochzeit bekommen hat und die ihr zunächst eher unangenehm war, weshalb sie sie im Flur platzierte, holt sie nun doch in das eheliche Schlafzimmer und bedauert sogar, dass ihr Glas nicht rot ist, denn: »Man kriegt dann so rothe Backen.« (Ebd.)

Vielleicht im Gedenken an diese kurze schöne Zeit lehnt Mathilde später Frau Möhrings Vorschlag, ihren Mädchennamen wieder anzunehmen, entschieden ab, denn das wäre für sie »wie eine Defraudation, wie eine Unterschlagung, wie Lug und Trug« (17/123). Sie habe ihren »Stolz als Frau und Witwe«, es erschiene ihr undankbar Hugo gegenüber, und dass sie »kein Pfand seiner Liebe unterm Herzen trage« (ebd.), sei, so Mathilde, »blos ein Zufall« (17/124).

Als Hugo schwer erkrankt, macht Mathilde sich Sorgen, denn sie »möchte ihn nicht gern verlieren« (15/110). Freilich ist der Gedanke begleitet von dem an die gesellschaftliche Stellung, die sie mit Hugos Hilfe erreicht hat, und schon im nächsten Moment denkt sie, auf den öden Woldensteiner Platz hinaussehend, darüber nach, »ob es nicht hübscher war, wenn ich nach der Stadtbahn rüber sah« (ebd.), sie beginnt also bereits, dem möglichen Tod ihres Mannes etwas Positives abzugewinnen.

Doch als sie nach Hugos Tod wieder nach Berlin zu ihrer Mutter kommt, die sich mehr als für seinen Tod dafür zu interessieren scheint, was Hugos ärztliche Versorgung während seiner Krankheit gekostet hat, kommen Mathilde doch Zweifel an ihrem berechnenden Wesen: »So nüchtern sie selber war, das war ihr doch zuviel.« (16/117). Erstmals sieht sie in Hugos Persönlichkeit nicht mehr nur seine Schwäche; ihr früheres Überlegenheitsgefühl erscheint ihr nun falsch: »[V]on Natur bin ich grade so wie Mutter sie berechnet immer was es kostet […] und ich rechne mir den Vortheil aus.« (16/118) Sie stellt fest, dass Hugo doch einen größeren Einfluss auf sie hatte, als ihr bewusst war, und nimmt sich vor, künftig ein wenig mehr nach seinem Vorbild zu handeln.

Anders als Hugo lernt sie aber fleißig für ihre Prüfung als Lehrerin, besteht diese glänzend und geht »ganz in ihrem neuen Beruf auf und das thut sie noch« (17/124).

Eine Notiz Fontanes lässt darauf schließen, dass Mathilde ihr Bekenntnis zu Hugo Großmann und ihrem Witwenstand (vgl. 17/123) zuletzt, kurz vor ihrem Examen, doch widerrufen und ihren Mädchennamen wieder annehmen sollte (vgl. Kommentar S. 150 und 287).