Thimig

Hermann Thimig,  klassisch gekleidet im Sakkomantel, mit Handschuhen und Hut, kommt nach Wanieks Telefonat mit Fräulein Nitschmann ins Büro im Theater in der Josefstadt und wundert sich, dass er seine Kollegen nicht »in voller Arbeit« vorfindet (XVII, 326). Er drängt – trotz fehlender offizieller Bestätigung des Projekts durch die Theaterleitung – zu raschen, pragmatischen Entscheidungen, das Repertoire betreffend. Als er feststellt, dass die Wahl des Eröffnungsstücks ohne seine Mitsprache bereits auf Brechts »Baal« gefallen ist, versucht er bei Homolka Erkundigungen über das Stück einzuholen: »O bitte, aber darf ich vielleicht doch sehen! ... ich interessiere mich begreiflicherweise« (XVII, 328). Homolka, der sich als Expressionismus-Experte inszeniert, nimmt seinen unkundigen ›konservativen‹ Kollegen Thimig, der vermutet, es handele sich um ein ›historisches‹ Stück, aber nicht ernst und reagiert unwirsch: »›Baal‹ von Brecht. Ich glaube, das sagt genug. […] Ein Blick würde Ihnen nichts sagen. […] Historisch? Wie kommen Sie zu dem gespenstischen Begriff?« (ebd.). In der Diskussion, die sich daraufhin entspinnt, vertritt Thimig eine skeptische Grundhaltung gegenüber den Leitideen des Expressionismus und meldet an Homolkas Bewertung des »Baal« Zweifel an: Homolkas Interpretation des Stücks sei für die Wiener Zuschauer nicht nachvollziehbar: »Und Sie nehmen an, daß dies ohne weiteres verstanden werden wird? Ich meine: hier. Hier ist doch schließlich nicht Berlin. […] Wenn wir wollen, daß ein neuer Dichter in einer neuen Sprache durch uns zu ihnen rede, so müssen wir auch wollen, daß sie ihn verstehen« (XVII, 329). Im Gegensatz zu Homolka und Waniek verwahrt Thimig sich insbesondere gegen die innovativ-experimentellen Stilformen des Expressionismus und gegen eine »rohe, unartikulierte Sprache« (XVII, 332). Im Unterschied zur jungen Generation plädiert er für die traditionelle Geformtheit des Kunstwerks und verteidigt die Sprache als generationenübergreifendes Kulturgut und als Trägerin geistiger Inhalte: »Die überkommene Sprache ist nun einmal die Brücke, auf der stehend wir den Hinsturz der Generationen überdauern.« (XVII, 331) Auch in der anschließenden, von Friedell angestoßenen Debatte über »den Individualbegriff im Allgemeinen« (XVII, 334) zeigt er sich verständnislos gegenüber den ›neuen Ideen‹. Trotzig-sarkastisch macht er sich über das von Homolka propagierte ›Ende des Individuums‹ lustig. Als Waldau eintritt und fragt, ob sich etwas Neues ereignet habe, antwortet Thimig kurz: »Jawohl. Das Individuum existiert nicht mehr. […] Diese beiden Herren [Friedell und Homolka] haben mich sozusagen mit der Zeit in Kontakt gebracht.« (Ebd.) Während Thimig zunächst »am Ende seiner Geduld« zu sein scheint (XVII, 333), kokettiert er sodann selbstironisch mit seiner Antiquiertheit (»Ich bin nur entsetzlich rückständig. Ich habe bis jetzt geglaubt, ein Individuum zu sein und kraft meiner Individualität Individuen darzustellen«, XVII, 335). Und am Ende wohnt er dem Gespräch sogar »lächelnd« und »völlig entspannt« bei (XVII, 336, 337). Nachdem sich die Diskutanten auf das Ende des ›dogmatischen Ich‹ (vgl. XVII, 337), auf die Bedeutungslosigkeit der »herkömmlichen historischen und sozialen Grenzen des Individuums« (XVII, 338) und auf den ›neuen Menschen‹ als »Träger potentieller Energien« (ebd.) geeinigt haben, reicht Thimig Homolka versöhnlich die Hand (vgl. ebd.).

Hermann Thimig (1890-1982) entstammt der Schauspielerdynastie Thimig. Er war der älteste Sohn des Schauspielers, Regisseurs und Theaterdirektors Hugo Thimig (1854-1944) und Bruder der Schauspielerin und Regisseurin Helene Thimig (1889-1974) sowie des Schauspielers Hans Thimig (1900-1991). Er selbst avancierte ohne jede Schauspielausbildung zu einem populären Theater- und Filmschauspieler. Nachdem er in den Jahren 1902 bis 1908 zunächst in einem Laientheater mitwirkte, bekam er 1910 bis 1914 sein erstes Engagement am Hoftheater in Meiningen. 1916 holte Max Reinhardt ihn ans Deutsche Theater in Berlin, wo er bis 1932 mitwirkte. Seit 1924 spielte er auch in Reinhardts Theater in der Josefstadt in Wien. In Brechts »Baal« trat er dort als »ein Mann« auf. Seit 1925 wirkte er bei den Salzburger Festspielen mit, 1934 bis 1968 war er am Burgtheater in Wien beschäftigt. Als Filmschauspieler hatte er seinen Durchbruch erst 1932/33 mit dem Tonfilm.