Carayon, Josephine von

Mutter von Victoire, eine schöne, brünette Frau bürgerlicher Herkunft von etwa Vierzig (vgl. 3/23), die von allen anderen Figuren sehr geschätzt wird. Durch ihre vierjährige Ehe mit Herrn von Carayon (vgl. ebd.), der sie langweilte (vgl. 15/124), ist sie in adlige Kreise aufgestiegen. Mit der gemeinsamen Tochter Victoire lebt sie in der Behrenstraße in Berlin, wo wöchentlich ein »Empfangsabend« für die Freunde des Hauses stattfindet (1/5), bei dem politische und kulturelle Ereignisse der Stadt und des Landes durchgesprochen werden. Bei politischen Themen hält Frau von Carayon sich eher zurück, lenkt auch schon mal ab, wenn die Diskussion zu hitzig wird (vgl. 2/12), kulturell ist sie aber sehr interessiert, geht gern ins Theater und unterhält sich mit Freunden darüber. Wie Victoire bedauert sie es sehr, außer Haus gewesen zu sein, als der ›tagesberühmte‹ Zacharias Werner, Autor des Trauerspiels »Die Weihe der Kraft«, den Damen seinen Besuch machen wollte (vgl. 2/12). Sie nimmt an den Diskussionen über das Stück, das die Berliner Gesellschaft spaltet, lebhaften Anteil und schaut es sich – anders als Victoire – zweimal an. Auch an dem folgenreichen Abend, an dem Schach Victoire allein antrifft, ist sie im Theater. Beide Carayonschen Damen werden als »verwöhnte Stadtkinder« beschrieben (4/36).

Die Schönheit der Frau von Carayon ist immer wieder ein Thema in Gesprächen anderer Figuren, beschäftigt sie aber auch selbst: »Victoire ließ zwar keine Gelegenheit vorübergehn, die Mutter über diesen wichtigen Punkt zu beruhigen, aber Frau von Carayon war doch klug genug, es sich jeden Morgen durch ihr von ihr selbst zu kontrolierendes Spiegelbild neu bestätigen zu lassen.« (4/28) Auch ihre Klugheit wird mehrfach angesprochen, Schach bezeichnet sie sogar als »das Ideal einer Frau: klug und doch ohne Gelehrsamkeit und Dünkel, espritvoll und doch ohne Mocquanterie« (4/37). Bülow bekennt ebenfalls, dass er für Frau von Carayon schwärme, die für ihn »den ganzen Zauber des Wahren und Natürlichen« hat, allerdings ist ihm ein Rätsel, was eine solche Frau an einem Mann wie Schach findet (vgl. 3/25).

Das enge Verhältnis der Frau von Carayon zu Schach, den sie schon seit vielen Jahren kennt (vgl. 15/123) und mit dem sie wahrscheinlich früher einmal eine Affäre hatte (vgl. 12/96 u. 19/150), bietet der Gesellschaft Anlass zu Spekulationen. So vermutet Nostitz zu Beginn eine baldige Eheschließung (3/24), und auch Victoire hat bereits entsprechende Gerüchte vernommen und versucht zunächst, die Verbindung beider voranzutreiben (vgl. 4/30). Frau von Carayon zeigt sich gerührt von Victoires Bemühungen, hält diese aber für vergeblich, ohne konkrete Gründe dafür zu nennen. Ihre nebulösen Ausführungen zu dieser Frage beendet sie mit der Versicherung an die Tochter: »Zuletzt lieb' ich doch eigentlich nur Dich.« (4/31) Damit bestätigt sie das zuvor von Alvensleben erwähnte ›ideale Verhältnis‹ zwischen Mutter und Tochter: »Denn so gewiß sie Schach liebt, so gewiß liebt sie Victoire, ja, sie liebt diese noch um ein gut Teil mehr.« (3/25).

Trotz ihrer eigenen Zuneigung zu Schach reagiert Frau von Carayon nicht eifersüchtig, nachdem sie von Victoire die Wahrheit erfahren hat. Im Gespräch mit Schach erklärt sie unter Anspielung auf die eigene, ihm ganz offenbar wohlbekannte (für den Leser aber diffus bleibende) Vergangenheit, dass es ihr fern liege, ihm »eine Szene zu machen oder gar eine Sittenpredigt zu halten« (12/96); zur Wahrung ihrer gesellschaftlichen Stellung sei sie aber keineswegs gewillt, in Victoires »Großmutskomödie« mitzuspielen (d.h. zu schweigen und Schach nicht zu behelligen) und müsse daher »auf Legitimisierung des Geschehenen dringen« (12/97). Schachs kühle Reaktion verletzt sie sehr, und seine spätere »Flucht« nach Wuthenow macht sie so wütend (15/123), dass sie Victoire gegenüber die Fassung verliert und sich in plötzlichem Standesdünkel über Schachs zweifelhafte Herkunft auslässt (vgl. 15/123-125). Das Mitgefühl, das als ihr »schönster Herzenszug« gelten konnte (15/121), versagt sie Schach in Unkenntnis der Karikaturen, und ersinnt stattdessen den Plan, sich vom König helfen zu lassen, nicht zuletzt um Schach zu »demütigen, so gewiß er uns demütigen wollte« (15/126). Kaum dass der Plan geglückt ist und Schach eingelenkt hat, kehren Ihr Mitgefühl und ihre Freundlichkeit zurück, und sie fühlt, »daß sie ruhiger und rücksichtsvoller hätte handeln sollen« (18/142). Auf der Hochzeitsfeier versöhnt Frau von Carayon sich endgültig mit Schach und gesteht ihm, dass sie sich inzwischen einer Stimmung schäme, die sie »unsere Vergangenheit so vergessen lassen konnte« (19/150). Nach Schachs Selbstmord begleitet offenbar sie an seiner Stelle Victoire auf die bereits geplante Italienreise (vgl. 21/156).

Das historische Vorbild für die Figur war Henriette von Crayen (1755-1832); zum Stoff vgl. Kommentar S. 163-165. – Das Stück »Martin Luther oder Die Weihe der Kraft« von Zacharias Werner (1768-1823) wurde am 11. Juni 1806 in Berlin uraufgeführt (vgl. Kommentar, S. 209 f.).