Gedächtnis

62-64 »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl! sagt James Shuldiner zerstreut. [...] Mrs. Cresspahl ist nicht stolz auf ihr Gedächtnis. [...] das Gedächtnis hat ihr geholfen durch Schulprüfungen, Tests, Verhöre, es bringt sie durch die tägliche Arbeit, es wird von einem Mann für ein Schmuckstück angesehen; ihr kam es an auf eine Funktion des Gedächtnisses, die Erinnerung, nicht auf den Speicher, auf die Wiedergabe, auf das Zurückgehen in die Vergangenheit, die Wiederholung des Gewesenen: darinnen noch einmal zu sein, dort noch einmal einzutreten. Das gibt es nicht.«

»Daß das Gedächtnis das Vergangene doch fassen könnte in die Formen, mit denen wir die Wirklichkeit einteilen! Aber der vielbödige Raster aus Erdzeit und Kausalität und Chronologie und Logik, zum Denken benutzt, wird nicht bedient vom Hirn, wo es des Gewesenen gedenkt. (Die Begriffe des Denkens gelten nicht einmal an seinem Ort; damit sollen wir ein Leben führen.) Das Depot des Gedächtnisses ist gerade auf Reproduktion nicht angelegt. Eben dem Abruf eines Vorgangs widersetzt es sich. Auf Anstoß, auf bloß partielle Kongruenz, aus dem blauen Absurden liefert es freiwillig Fakten, Zahlen, Fremdsprache, abgetrennte Gesten; halte ihm hin einen teerigen, fauligen, dennoch windfrischen Geruch, den Nebenhauch aus Gustafssons berühmtem Fischsalat, und bitte um Inhalt für die Leere, die einmal Wirklichkeit, Lebensgefühl, Handlung war; es wird die Ausfüllung verweigern. [...] Das Stück Vergangenheit, Eigentum durch Anwesenheit, bleibt versteckt in einem Geheimnis, verschlossen gegen Ali Babas Parole, abweisend, unnahbar, stumm und verlockend wie eine mächtige graue Katze hinter Fensterscheiben, sehr tief von unten gesehen wie mit Kinderaugen«.

209 Gesine in einem ihrer imaginierten Gespräche mit ihren Toten: »Daß ich nur tu was ich im Gedächtnis ertrage«, sei ein Grundsatz ihres Handelns.

226-229 Die New York Times berichtet über ein Experiment an der Universität Princeton, das der Funktionsweise des Gedächtnisses galt und zu dem Ergebnis gekommen ist, dass der Mensch dazu neigt, »Dinge zu vergessen, die mit unangenehmen Erfahrungen zu tun haben«. Gesine diskutiert darüber mit einem imaginierten Gegenüber (dem Genossen Schriftsteller?).

230-235 Gesine will das Princetoner Experiment an sich selbst wiederholen, dazu soll ihr der Genosse Schriftsteller zehn Wörter nennen. Die Wörter »Plisch, Plum, Schmulchen, Schievelbeiner, Roosevelt, Churchill, bolschewistisch, Weltjudentum, Untermenschen, Intelligenzbestie« lösen Gesines Erinnerung an das Foto von Bergen-Belsen aus, das sie kurz nach dem Krieg in der Zeitung gesehen hatte und dessen schockierende Wirkung seither nicht aufgehört hat.

347 »›Ein Fallschirmjäger, verwundet, fiel über die Mündung seines Flammenwerfers und war in Brand gesetzt‹, meldet die New York Times aus Viet Nam. Werden wir eines Tages vergessen haben, daß wir es in der Zeitung lesen konnten? Ist es schon heute noch wirklich?«

Vgl. auch Erfinden, Erinnerung, ErzählenKatze(n).