Gesine Cresspahl in anderen Texten Johnsons

Mutmaßungen über Jakob (1959)

M 10 Rohlfs rekapituliert: Cresspahl »hatte eine Tochter, geboren 1933, Oberschule in Jerichow, Studium der Anglistik in Leipzig [sic!], Dolmetscherschule Frankfurt am Main, am Main« und seit Anfang des Jahres 1956 »the N.A.T.O. Headquarters.«

M 13 Rohlfs: »Gesine (Rufname unterstrichen) Lisbeth Cresspahl. Naja. Der Name ist hier üblich kommt vor, Lisbeth hat die Mutter geheissen. Lisbeth Cresspahl, gestorben 1938«.

M 14 Rohlfs betrachtet ihr Passbild: »Das Gesicht sehr achtzehnjährig Haarfarbe dunkel vielleicht nicht ganz schwarz straff rückwärts die Haut fest sonnenbraun über den starken Backenknochen gleichmütig ernsthaft querköpfig blickende Augen, Augenfarbe: grau.«

M 16-17 Ihr Verhältnis zu Jakob Abs als fünfzehnjährige Oberschülerin: »sie kam immer noch mit auf seine Wege, immer noch nahmen sie sich für Geschwister.« Später ging Jakob mit seiner Arbeit »südlich an die Elbe, und Cresspahls Tochter traf sich da mit ihm zwischen zwei Schnellzügen, wenn sie aus ihrem Studium nach Jerichow fuhr zu ihrem Vater«.

M 17 Ihr Gang in den Westen: »Und in einer Nacht inzwischen kam sie mitten in der Woche nach Jerichow und redete in der Küche vor Jakob und seiner Mutter und Heinrich Cresspahl zwei Stunden lang, und die hagere bittergesichtige Frau stand am Tisch mit gekreuzten Armen gesenkten Kopfes unbeweglich und schwieg zu jedem Wort von Cresspahl und nahm wortlos Gesines heftige Gegenrede auf und war doch die einzige, die gegen Morgen vor der Haustür aufkommen konnte für den Abschied: Kind, – Kind: sagte sie, und Cresspahl vermied diese Anrede in den Briefbüchern, die er seiner Tochter über die Grenze schickte. Denn hinter der Grenze blieb sie in dem anderen Deutschland, da dolmetschte sie nun in einem Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte. Und ein für alle Male hatte Gesine Cresspahl die Mutter Jakobs zu eigen genommen wie Jakob als den geschenkten grossen Bruder«.

M 18 Gesine über Frau Abs: »Sie hat mir das Essen gekocht und hat mir gezeigt wie man es machen muss mit dem Haar, sie hat mir geholfen in der Fremde. [...] Ich weiss ihr Gesicht: das ist lang und knochig und in den schmalen trockenen Augen schon sehr entlegen zum Alter hin, ich habe eine Mutter gehabt alle Zeit«.

M 32-33 Von einem Urlaub in Taormina auf Sizilien schreibt Gesine einen Brief an Jakob, dem sie 40 Zigaretten (»Philipp Morris«) beilegt und der vom Staatssicherheitsdienst der DDR geöffnet wird.

M 33 Gesines Handschrift: Sie schreibt in »grossen ungebrochen runden scharf unten ausfahrenden Zügen (in einer Tulpenschrift)«. Ihre Unterschrift unter den Brief an Jakob aus Taormina: »Und gedenke deiner Dich liebenden halben Schwester Gesine Cresspahl«.

M 37 Ihre Aussprache: »In ihrer Stimme war [...] untergründig der zögernde schwingende Redefluss des Niederdeutschen, der von vielen Sprachen geschliffen war«.

M 84 Vor dem Gefallenendenkmal in Jerichow erzählt Jakob: »hier war alles abgesperrt, Gesine hat sich mal hineinverlaufen, sechs Russen haben sie auf die Wache geführt unter Spionageverdacht, damals war sie dreizehn, sie hatte noch wochenlang die Taschen voller Sonnenblumenkerne«.

M 109 Als Blach sie in einem Vorort von Berlin (West) auf der Straße anspricht: »eine Dame ein Mädchenkind, als ich ihr Gesicht sah, blieb ich augenblicklich stehen [...] Nichts war in mir als die klare kühle Furcht sie würde weitergehen. [...] ich stand ihr genau im Weg, das bauerntöchterliche Märchenantlitz, hohe steile Wangenknochen, hintergesichtige wendische Augen [...] ihre Augen drehten mein – meinen Blutkreislauf um und um ohne Aufhören«.

M 124 Kauft sich »ihre täglichen zweieinhalb Pfund Zeitung«.

M 145-146 Gesine fährt nach Dresden, um Jakob zu treffen, wartet auf ihn »in der Gaststätte des Elbehotels«. Sie sitzt da »in ihrem blauen Kostüm, das war das mit den stumpfen Jackenschössen, von dem der Kragen aufstand im Nacken; die Bluse war aus grauem grobem Stoff und sah einfacher aus wenn auch nicht unüberlegt. So sah sie nicht aus wie jemand, der auf Reisen ist und mit sich nichts führt als eine auf die Hälfte geknickte Kollegtasche und einen braunen dicken Trenchcoat«. Hat Geld jenseits der Grenze zu »frech billigem Kurs eingetauscht«.

M 147 Herr Rohlfs, der sie im Elbehotel beobachtet: »Hübsch finde ich sie gar nicht (ja was ist schon hübsch. Ich weiss nicht wie ich mir meine Tochter erwachsen wünsche. Mir unähnlich); ihr Gesicht ist in keiner Weise gefällig [...]. Im Profil könnt sie mich sogar stören. Eigensinnig. Schmal unter den Wangenknochen, schmal in den Schläfen [...]. Wie sie den Knoten im Nacken trägt ist es doch wieder ein Vogelkopf [...]. Viel zu schmal: ich fühl nichts«.

M 191 Gesine: »es war Jakob, der übriggeblieben war für mich. Der mich angehalten hatte am Arm, da war alles wirklich«.

M 213 Jonas Blach erinnert sich: Sie »blieb vor mir stehen. Ich hörte aus ihrer Stimme dass sie wie vergnügt nachsann und mich heiter betrachtete, als sie sagte ›Jonas ich will dir was sagen. Es ist meine Seele, die liebet Jakob‹«.

M 252 »Gesines wahnwitziger Besuch« in der DDR am Tag, als der Aufstand in Ungarn begann (Dienstag, 23. Oktober 1956).

M 289-291 In der Nacht der Rückfahrt, 24./25. Oktober 1956, von Jerichow zur Autobahn nach Westdeutschland, macht Gesine aus dem Auto von Herrn Rohlfs, einem Pobjeda, eine Aufnahme, die dann in ihrem Düsseldorf Zimmer »quer über die Wand, auf etwa anderthalb Quadratmeter Fläche vergrößert« hängt: »Das Gesicht von Herrn Rohlfs war nur zu erraten aus den Kanten, die die glühende Zigarette nach oben hin aufgeworfen hatte aus der Finsternis [...]. Eben das Aufglimmen der Tabakglut hatte Jakobs Gesicht beleuchtet, dessen Flächen schimmerten aber viel grauer aus den Schatten, er hatte seinen Kopf schräg zurückgelegt; sonderbar scharf (allerdings ist das Rückfenster des Pobjeda hoch im Dach) war die ganze Gegend um die Augen herausgehoben«.

M 308 Nach Jakobs Tod trifft Gesine Herrn Rohlfs in einem nicht teuren Lokal. »Sie kam wenige Minuten zu spät, und Herr Rohlfs stand auf, als er sie in der Tür sah. Ich wäre froh eine Schwester zu haben. Und sie sah nicht aus wie eine, die geweint hat; das wollen wir doch mal sagen«.

Karsch und andere Prosa (1964)

K 7-17 (»Osterwasser«-Geschichte). K 22. K 23-28.

Begleitumstände (1980)

B 124 »Ungerufen kam seine [Cresspahls] Tochter. Angesichts der erschöpften Müdigkeit von Fahrgästen in einer Strassenbahn von Leipzig liess sich vorstellen, und erkennen, wie sie in Düsseldorf von der Arbeit kommend emporstieg zu ihrem Zimmer: mit dem Willen, es durchzuhalten bis hinter die Tür«. 

B 299-301 »Denn sie [die Person] zu erfinden, war zwar der Anfang der Bekanntschaft gewesen; spätestens seit sie einen Namen hatte, war sie unabhängig geworden als eine Gesine Cresspahl. Was sie einmal bezogen hatte an Herkunft, menschlicher Umgebung, Ausbildung, Arbeitsstelle, alles hatte sie sogleich in Besitz genommen, sich anverwandelt als Eigenschaft und jenes unverlierbare Eigentum, das beschlossen ist in der Vergangenheit einer Person. Das machte sie zu einem ebenbürtigen Partner in dem Bewusstsein, in dem sie umging, so wirklich anwesend wie sonst Personen des Alltags, von denen Mimik, Sprechweise, Gangart erinnerlich waren. Sie war unmittelbar kenntlich an ihrer Stimme, einem Alt von nunmehr dreissig Jahren Lebensalter, geschult und erzogen in vier Sprachen, mecklenburgisch akzentuiert nur unter Aufsicht. [...] Um Karsch ging es ihr. [Karsch bekam seinen Nachtrag, einen Exkurs ganz für sich allein, dreiundfünfzig Seiten unter der Überschrift ›Eine Reise wegwohin‹; mit den Empfehlungen von Gesine Cresspahl. Was ihre eigene Person anging, so hielt sie sich zurück. Auf den Vorhalt, nach ihrem Ton zu urteilen könne doch auf mehr als eine Bekanntschaft mit Signor Karsch geschlossen werden, antwortete sie ernsthaft frozzelnd: Das könne man, und beliess es dabei.« 

B 406-407 »Am Dienstag der folgenden Woche [18. April 1967] sah ich Mrs. Cresspahl auf der Südseite der 42. Strasse auf die Sechste Avenue zugehen. Sie war zu erkennen an der Kopfhaltung, an der lockeren, acht- und wachsamen Art, in der sie den rechten Arm pendeln liess, in der Hand eine kompakte schwarze Börse (im Notfall zum Zurückschlagen geeignet), verriegelt im Griff der Finger, von denen die ersten zwei die Bügel einer Sonnenbrille wippen liessen. [...] Meine Damen und Herren, Sie werden mir vorhalten, sicherlich sei ich der einzige gewesen auf der ganzen 42. Strasse, ungefähr unterhalb der Rückfront der Public Library einer Gesine Cresspahl zu begegnen, wie sie in einem halbärmligen grauen Jerseykleid nach Westen unterwegs ist, geringschätzig die Blumenverkäufer musternd. Ich gestehe die Einschränkung zu: dazu war ich ja da. Folgen Sie mir lediglich in die Annahme, sie hätte da gehen können, es sei immerhin möglich gewesen, so geraten Sie bereits in die Zwangslage zu beweisen, wieso und warum denn das ausgeschlossen bleiben müsse. [...] Die da ging, trug Pumps an den Füssen, Grösse 39«. 

B 408 »Es ist erinnerlich, sie hatte einmal etwas zu tun gehabt mit jenen Lichtspielanstalten der 42. zwischen Siebenter und Achter Avenue, das war aber undeutlich.« 

B 410-411 »Ein Mecklenburger Kind, aufgewachsen eine Stunde Fusswegs von der Ostsee entfernt, was würde die für eine Wohnung brauchen für den Abend nach zehn Stunden zwischen den Schluchten aus Stein und Glas von Manhattan? da kam in Frage allein der Riverside Drive, eine in der Architektur fast europäische Strasse an der Westküste von Manhattan, mit Blick auf Parkbäume, Wiesen, Bodenschwünge und dahinter den Fluss Hudson so breit wie ein Binnensee in Mecklenburg. [...] Ihre Adresse war: Apartment 204, 243 Riverside Drive, New York, N.Y. 10025. Das ist zwischen der 96. und 97. Strasse auf der Oberen Westseite, unpraktisch zu erreichen von der B.M.T. aus [...]. Ihre Linie war die I.R.T., ihre Haltestelle die für Expresszüge an der 96. Strasse unter dem Broadway, take the A train!« 

B 414 »Aber auf den gewünschten Beruf, den Umgang mit der englischen Sprache zu einem Vergnügen, hatte sie nun einmal verzichten müssen, als sie dazu ein Einverständnis zu der Erledigung des Aufstands vom Juni 1953 hätte abliefern sollen. Auf den Umgang mit der englischen, französischen und italienischen Sprache in dem Beruf der Dolmetscherin hatte sie verzichtet, als ihre Arbeitgeber von ihr erwarteten, sie werde mit deren Aktionen im Ägypten des Herbstes 1956 einverstanden sein. Als Marie geboren war, meinte sie das Kind schützen zu können mit einem Beruf in der unmittelbaren Nähe des Geldes, und machte ab 1958 eine Banklehre in Düsseldorf, streng und mit Abschluss.« Sie hat es »seitdem gebracht zu einer Anstellung als Fremdsprachensekretärin in einer Bank von New York«. 

B 422-423 »Wenig wird er [de Rosny] ahnen, dass diese Angestellte die Vorbereitung einer Anleihe für die Tschechoslowakische Staatsbank zwar im Auftrage von de Rosnys Konzern unternehmen will, subjektiv jedoch im Interesse der Chance, eine sozialistische Wirtschaft und damit Lebensumstände reparieren zu helfen. Was sie begreift als ihren letzten Versuch, sich einzulassen mit der Alternative Sozialismus.« – »Unwahrscheinlich steht zu erwarten, dass sie je einen persönlichen Nutzen ziehen wird aus dem Schnellkurs, dem sie sich nun zehn Monate lang unterziehen muss in tschechischer Sprache, Wirtschafts- und Nationalgeschichte«.