Friedell

Betritt das Büro in dem Moment, als Waniek telefoniert. Er kommentiert Wanieks Telefonat über die anstehende Autorisierung des Theaterprojekts spitz und sorgt mit seinem Verhalten für eine gewisse Komik (»Ah. Dann ist also keine so brennende Eile. Da kann ich indessen meine Arbeitsstätte aufsuchen. Geht an den Diwan und entnimmt dessen Innerm eine Schnapsflasche, ein Gläschen und einige Zeitungen.« XVII, 326). In der Diskussion mit seinen Kollegen übernimmt er die Rolle des (selbst)ironischen Fundamentalskeptikers. Zu Beginn stellt er beispielsweise das gemeinsame Theaterprojekt grundsätzlich in Frage, indem er die perspektivisch bedingte Relativität des Vorhabens zu bedenken gibt: »Fest steht, daß sich der ganze Plan und seine Eignung, hier realisiert zu werden, auch von einem vollkommen entgegengesetzten Standpunkt ansehen läßt, von dem aus sich ein abratender Bescheid der Direktion sehr gut begreifen ließe.« (XVII, 327) Das Gespräch über Ausdrucksformen und Intention des expressionistischen Theaters begleitet Friedell mit Kommentaren, die ihn weder als klaren Befürworter noch als vehementen Kritiker des Expressionismus ausweisen. Er plädiert zwar dafür, dass »der Zeitstoff endlich geballt werde« (XVII, 330), hält das ›vertikale Denken in Ahnenreihen‹ für eine »Infektion, die in der Wiener Luft liegt« (XVII, 331) und ist der Meinung, die Sprache habe es »satt bekommen, in aller Mund zu sein. Auf die Dauer ist das keine Existenz für ein geistiges Wesen« (XVII, 332). Im Unterschied zu Homolka geht es ihm aber nicht um eine programmatische Verteidigung des Expressionismus. Nachdem die Unterhaltung durch die Nachricht unterbrochen worden ist, dass die Telefonverbindung mit der Theaterleitung in Berlin hergestellt sei, formuliert Friedell die provokante These, dass die Zeit vom Individuum »erlöst« werden wolle (XVII, 333): »Sie [die Zeit] schleppt zu schwer an dieser Ausgeburt des sechzehnten Jahrhunderts, die das neunzehnte großgefüttert hat.« Er würde sogar »so weit gehen, zu behaupten, daß alle die ominösen Vorgänge in Europa, denen wir seit zwölf Jahren beiwohnen, nichts sind als eine sehr umständliche Art, den lebensmüden Begriff des europäischen Individuums in das Grab zu legen, das er sich selbst geschaufelt hat« (ebd.). Friedell ist der Ansicht, dass das Ich nicht länger als »absolute Einheit« zu denken ist (XVII, 336), dass es kein ›dogmatisches Ich‹ gibt (XVII, 337), und versteht den Schauspieler als ›symbolischen Menschen‹, weil er »die Amöbe unter den Lebewesen« sei (ebd.). Obwohl Thimig, Waldau und Homolka grundsätzlich andere Standpunkte vertreten, einigen sie sich zum Schluss auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, dass nämlich »die herkömmlichen historischen und sozialen Grenzen des Individuums« für den ›neuen Menschen‹ keine Bedeutung haben (XVII, 338). Die Unterhaltung endet mit dieser ›außerordentlichen Übereinstimmung‹ (ebd.), die mit der von Waniek überbrachten Nachricht zusammenfällt, dass das »Theater des Neuen« am 21. März eröffnen kann (vgl. ebd.). Friedell beschließt den Prolog daraufhin mit dem sinnfälligen Satz: »Das heißt ja geradezu, einem den Boden unter den Füßen wegziehen.« (XVII, 339)

Egon Friedell (1878-1938) war von 1924 bis 1929 Ensemblemitglied des Josefstädter Theaters. Im ›Baal‹ spielte er die Rolle des Mjurk. Friedell (ursprünglich Friedmann) war Sohn und Erbe des wohlhabenden jüdischen Seidentuchfabrikanten Moriz Friedmann. 1897 konvertierte er zum evangelisch-lutherischen Glauben. Er studierte in Berlin, Heidelberg und Wien Philosophie, Germanistik und Naturwissenschaften; 1904 promovierte er mit einer Dissertation über Novalis. Ab 1914 litt er verstärkt unter Alkohol- und Gewichtsproblemen, die wiederholte Sanatoriumsaufenthalte bedingten. Als Schriftsteller, Journalist, Theaterkritiker, Kabarettist, Dramaturg, Regisseur und Schauspieler in Berlin und Wien machte Friedell sich deutschlandweit einen Namen. Internationale Popularität verschaffte ihm seine dreibändige »Kulturgeschichte der Neuzeit«, in der er die Geschichte von der Renaissance bis zur Neuzeit essayistisch-anekdotisch interpretierte. Als 1938 die Gestapo vor seiner Tür stand, beging er Selbstmord, indem er sich aus dem Fenster stürzte. Sein Nachlass wurde beschlagnahmt.