Famulant

Der namenlose Student der Medizin ist der Erzähler des Romans. Er ist 23 Jahre alt (6. Tag, 44) und absolviert gerade seine Famulatur in einem Spital in Schwarzach, wo ihn sein Vorgesetzter, der Chirurg Strauch, damit beauftragt, in das Gebirgsdorf Weng zu fahren und seinen dort lebenden Bruder, den Maler Strauch, zu beobachten. Dabei soll er besonders auf dessen Lebens- und Denkweise achten: »Er verlangt von mir eine präzise Beobachtung seines Bruders, nichts weiter. Beschreibung seiner Verhaltensweisen, seines Tagesablaufs; Auskunft über seine Ansichten, Absichten, Äußerungen, Urteile. Einen Bericht über seinen Gang. Über seine Art, zu gestikulieren, aufzubrausen, ›Menschen abzuwehren‹. Über die Handhabung seines Stockes. ›Beobachten Sie die Funktion des Stockes in der Hand meines Bruders, beobachten Sie sie genauestens.‹« (2. Tag, 12) Der Famulant quartiert sich in dem Gasthof der Wirtin ein, in dem auch der Maler wohnt, mit dem er sogleich in Kontakt kommt. Seine täglichen Begegnungen mit dem Maler sind Gegenstand des Romans. Die Briefe, die er an seinen Vorgesetzten schreibt, sind am 26. Tag unter der Überschrift »Meine Briefe an den Assistenten Strauch« wiedergegeben (317-328). Der Aufenthalt des jungen Mannes in Weng dauert 27 Tage.

Der Famulant hat sein Studium aus einer Perspektivlosigkeit heraus begonnen: »Ich kann nicht sagen, daß mein Entschluß, Medizin zu studieren, auf einer tieferen Einsicht beruhte, nein, darauf beruhte er nicht, eher, weil mir überhaupt nichts einfiel, was zu studieren mir wirklich Freude gemacht hätte« (7. Tag, 53). Auch sein Bruder wirft ihm vor, Medizin aus »Phantasielosigkeit« zu studieren (7. Tag, 54). Dennoch macht ihm die Famulatur »Spaß«, und obwohl er wenig Energie für sein Studium aufwendet, hat er bis dahin alle Prüfungen mit Leichtigkeit und ohne besondere Vorbereitungen bestanden (ebd.).

Den Auftrag des Chirurgen Strauch betrachtet er zunächst als Teil der Famulatur, der ihn mit der »außerfleischlichen«, geistigen Seite des Menschen bekannt machen soll: »Eine Famulatur ist ja nicht nur eine Lehrstelle für Aufschneiden und Zunähen, für Abbinden und Aushalten. Eine Famulatur muß auch mit außerfleischlichen Tatsachen und Möglichkeiten rechnen. Mein Auftrag, den Maler Strauch zu beobachten, zwingt mich, mich mit solchen außerfleischlichen Tatsachen auseinanderzusetzen. Etwas Unerforschliches zu erforschen. Es bis zu einem gewissen erstaunlichen Grad aufzudecken. Wie man eine Verschwörung aufdeckt. Und es kann ja sein, daß das Außerfleischliche, ich meine damit nicht die Seele, daß das, was außerfleischlich ist, ohne die Seele zu sein, von der ich ja nicht weiß, ob es sie gibt, von der ich aber erwarte, daß es sie gibt, daß diese jahrtausendealte Vermutung jahrtausendealte Wahrheit ist; es kann durchaus sein, daß das Außerfleischliche, nämlich das ohne die Zellen, das ist, woraus alles existiert, und nicht umgekehrt und nicht nur eines aus dem anderen.« (1. Tag, 7). Im weiteren Verlauf seines Aufenthalts gerät er immer stärker in den Bann des Malers und hat zunehmende Zweifel an der Möglichkeit, Verlässliches über ihn zu sagen (13. Tag, 136 f.).

Um sein Vertrauen zu gewinnen, gibt er sich als Student der Rechtswissenschaften aus (2. Tag, 12, 14). Hin und wieder gerät er in Gefahr, sich durch medizinische Fachkenntnis zu verraten, etwa wenn er eine schmerzende Schwellung an Strauchs Fuß, die dieser für eine Pestbeule hält, als »gewöhnliche Schleimbeutelentzündung« identifiziert (7. Tag, 52).

Weng und seine Bewohner stoßen ihn ab: »Weng ist der düsterste Ort, den ich jemals gesehen habe. Viel düsterer als in den Beschreibungen des Assistenten. […] Tatsächlich erschreckt mich die Gegend, noch mehr die Ortschaft, die von ganz kleinen, ausgewachsenen Menschen bevölkert ist, die man ruhig schwachsinnig nennen kann. Nicht größer als ein Meter vierzig im Durchschnitt, torkeln sie zwischen Mauerritzen und Gängen, im Rausch erzeugt. […] Es ist eine Landschaft, die, weil von solcher Häßlichkeit, Charakter hat, mehr als schöne Landschaften, die keinen Charakter haben. Alle haben sie da versoffene, bis zum hohen C hinaufgeschliffene Kinderstimmen, mit denen sie, wenn man an ihnen vorbeigeht, in einen hineinstechen.« (2. Tag, 10 f.)

Über das Leben, das der Famulant zuvor geführt hat, erfährt man nur Verstreutes aus sporadischen, meistens durch Äußerungen des Malers ausgelösten Erinnerungen der Figur. Die unglückliche Kindheit des Malers erinnert ihn an seine eigene (5. Tag, 35), obwohl er an anderen Stellen ein positiveres Bild von seiner Familie zeichnet (12. Tag, 124 f.). Eine unglücklich endende Liebesbeziehung mit »S.« fällt ihm wieder ein, als der Maler von dem (scheinbaren, weil notwendig »Schmerzen« nach sich ziehenden) Glück junger Liebe spricht (14. Tag, 153 f.). Er denkt an das »Getriebe der Hauptstadt« Wien, seinen Studienort, an seine einsamen Mittagspausen in einem der Parks, während seine Freunde »alle fort [sind], verschwunden in ein Zuhause, in ein Mittagstischstockwerk, wo sie sich mit Mädchen und Brüdern und Tanten aus der Provinz treffen« (15. Tag, 167). Neben dem Studium hat er zeitweise als Hilfsarbeiter bei der »Zwettler-Bau A.G.« (12. Tag, 128 f.) und als Hilfsfahrer für eine Eisenfirma gearbeitet und sich dabei wohl, ja sogar »glücklich« gefühlt (12. Tag, 130).

Die täglichen Begegnungen mit dem Maler beeindrucken ihn tief, er fühlt sich ihm verwandt und durch seine Geschichten und Reden verändert, ohne sagen zu können, welcher Art diese Veränderungen sind. Auch scheinen sie keine einschneidenden Konsequenzen zu haben, denn nach seiner Rückkehr setzt er sein Medizinstudium fort. Auffällig ist allerdings, dass er seine Famulatur in Schwarzach abrupt beendet, nachdem er aus der Zeitung erfahren hat, dass der Maler »im Gemeindegebiet von Weng abgängig« sei und die Suche nach dem Vermissten wegen Schneefalls eingestellt werden musste: Noch am »Abend des gleichen Tages« verlässt er Schwarzach und reist zur Fortsetzung seines Studiums nach Wien (27. Tag, 336).

Während seines Aufenthaltes in Weng liest er – anstelle eines ursprünglich geplanten Fachbuchs über Gehirnkrankheiten – ein Buch von Henry James (2. Tag, 13).