Feddersen, Dr. Ingwer

Sohn von Marret Feddersen, Enkel und Ziehkind von Ella und Sönke Feddersen, 48 Jahre alt, Dozent am Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität in Kiel, wo er seit 25 Jahren in einer Wohngemeinschaft mit Ragnhild Dieffenbach und Claudius lebt. Von November 2013 bis Oktober 2014 nimmt er ein Sabbatjahr, um seine über neunzigjährigen Großeltern in Brinkebüll zu pflegen. Ingwer, geboren im April 1966, hat sie lange Zeit für seine Eltern und seine Mutter Marret für seine große Schwester gehalten (164). Dass sein Vater einer der Landvermesser ist, die im Sommer 1965 die Felder für die Flurbereinigung vermessen haben, erfährt er erst kurz vor seinem Abitur von Gönke Boysen, die als Einzige die »Schweigeregeln« des Dorfes bricht (168). Er besucht vier Jahre lang die Grundschule in Brinkebüll bei Dorfschullehrer Christian Steensen, von dem er nicht weiß, dass er sein leiblicher Großvater ist. Steensen sorgt dafür, dass er aufs Gymnasium nach Husum kommt, und das Interesse für das Fach, das er dann in Kiel studiert, Ur- und Frühgeschichte, verdankt er ebenfalls Steensen, der seine Schüler im Heimatkundeunterricht auf die Suche nach prähistorischen Relikten in der Brinkebüller Feldmark schickt. Die Entscheidung für Gymnasium und Universität, mit der Ingwer zugleich »sein geerbtes Leben ausgeschlagen« hat (162), hinterlässt dauerhafte Schuldgefühle gegen Sönke Feddersen, der ihn als seinen Erben aufgezogen hat (ebd., 255). Und der markante Wechsel des sozialen Milieus bringt den Verlust von Zugehörigkeit mit sich. In Brinkebüll gehört Ingwer nicht mehr dazu (65), und in der Universität fühlt er sich trotz »Einserexamen« und Promotion mit Auszeichnung immer noch wie ein »Schwindler mit gefälschter Vita« (162). Das Gefühl der sozialen Differenz spielt auch in sein Verhältnis zu Ragnhild und Claudius hinein, in der Wohngemeinschaft mit der »Diplomatentochter« und dem »Richtersohn« (161) hat er, so erscheint es ihm zuletzt, die Rolle eines Haustiers (313). Das Sabbatjahr in Brinkebüll wird für ihn zu einer Zeit der Rückschau und Bilanzierung, die wenig befriedigend ausfällt. Ingwer sieht, dass er in seinem bisherigen Leben wenig selbst entschieden hat, sondern sich von Zufällen hat »schieben« lassen wie ein Findling auf der holsteinischen Geest einst von den Gletschern (140). Die Lebensmaximen der siebziger und achtziger Jahre, die feste Bindungen als »symbiotisches Geklette« und Ehe und Familie als »Brüterei« diskreditierten (136f.), erscheinen ihm jetzt als Ausdruck von »Bindungsangst« (139) und als fadenscheinige Rechtfertigung von Beziehungen, die »nichts Halbes und nichts Ganzes« sind wie seine Beziehung zu Ragnhild (138). Er sehnt sich »mit langsam wachsender Verzweiflung nach Besitzergreifung« (139). Ob und wie er sein »unsortiertes Leben« (159) in Ordnung bringen wird, bleibt offen. Immerhin zieht er aus der Wohngemeinschaft aus (313) und nimmt sich vor, Anneleen in ihrem Atelier zu besuchen (318). Was bleibt und durch den »Nachschlag Brinkebüll« (259) wohl noch wächst, ist die Bindung an das Dorf und den heimatlichen Landstrich, in denen er in seinem Sabbatjahr Dinge findet, »die er noch gebrauchen konnte« (ebd.). Er ist eines jener »Kartoffelkinder«, die ihr Leben lang auf den »Umlaufbahnen« ihrer Dörfer kreisen, »[t]reue Mondgesichter, die an ihrer alten Erde hingen« (27). Nach Sönkes Tod überlässt er den Gasthof seinem Schulfreund Heiko Ketelsen, behält darin aber zwei Zimmer, sein eigenes und das Zimmer seiner Mutter Marret (318) mit ihren Sammlungen und Zeichnungen, in denen das alte Brinkebüll aufbewahrt ist (313f.).