Diotima (Ermelinda Tuzzi)

Ihr Name begegnet im ersten Kapitel, das einen Autounfall im August 1913 schildert. (1.,19). Ulrichs Vater schreibt dem Sohn, bei der von Graf Leinsdorf geplanten Jubiläumsaktion spiele Ulrichs »Kusine« (Tochter eines Vetters der Frau des Onkels), die Gattin des Sektionschef Tuzzi, eine bedeutende Rolle, Ulrich möge sie endlich besuchen (19.,79). Hans Tuzzi leitet, obwohl ein Bürgerlicher, die wichtigste Sektion des Ministeriums des Äußern und gilt als rechte Hand des Ministers (22., 92).

»Die Parallelaktion steht in Gestalt einer Dame von unbeschreiblicher geistiger Anmut bereit, Ulrich zu verschlingen«, ist das Kapitel 22 überschrieben (22., 91).

Ermelinda, die etwa so alt ist wie Ulrich, heißt eigentlich Hermine. Ulrich fällt als erstes ihre Hand auf, die »fett und gewichtslos« ist und »wie ein dickes Blütenblatt« in seiner liegt (93). Dann fällt sein Blick auf die Wülste an ihrem Hals. Ihre Haarfrisur erinnert ihn an ein Wespennest. Er empfindet etwas Feindseliges, zweifelt aber nicht, dass sie schön ist und es weiß. »›Wahrhaftig‹, dachte er, ›eine Hydra von Schönheit!‹« (95).

Ulrich gegenüber begeistert sie sich für die geplante vaterländische Aktion zum 70jährigen Thronjubiläum des österreichischen Kaisers 1918 als das Wichtigste und Größte überhaupt (93). Allerdings denkt sie an nichts Bestimmtes. Sie hält ihm eine »Thronrede« über Seele und Gefühl (94). Als sie ihn entlassen hat, denkt er, diese »Seelenriesin« und er würden »einander große Unannehmlichkeiten durch Liebe« bereiten; er kommt sich vor wie ein »schädlicher, kleiner Wurm, den ein großes Huhn aufmerksam betrachtet« (95).

Diotima war die älteste von drei Töchtern eines Mittelschullehrers, mit viel Ehrgeiz und Träumen ausgestattet, aber ohne Aussicht, sie zu verwirklichen. Tuzzi schien zunächst eine bescheidene Wahl; er war nur »Vizekonsul« und sah aus »wie ein lederner Reisekoffer mit zwei dunklen Augen« (24., 102). Doch er steigt auf. Ermelindas in der höheren Töchterschule erworbenes Wissen und ihre Fähigkeit, alles Lernenswerte wie ein Schwamm aufzusaugen, setzt sie in den Stand, einen »Salon« zu führen, in dem geistvoll geplaudert wird (24., 98). Zahlreiche »Verweser des Geistes auf Erden« werden von ihr eingeladen, auch die Damen, die das ungebrochen Frauliche zu verkörpern haben (100). Besonders gern treffen sich auch junge Paare unauffällig bei ihr.

»Leiden einer verheirateten Seele« heißt das Kapitel 25. Diotima sieht »Geist« und »Seele«, die sie verehrt, als Gegensatz zu »Zivilisation«, die sie verachtet – und das betrifft auch ihren Mann (25., 103). Der hat seine Liebespraktik wie üblich in einem Bordell gelernt und enttäuscht seine Frau (105). Nun konzentriert sie sich auf die Suche nach der krönenden Idee der »Parallelaktion« (106).

Der als reich und bedeutend bekannte Preuße Dr. Paul Arnheim macht ihr einen Besuch, von dem beide beeindruckt sind. »Arnheim wurde entzückt, als er in Diotima eine Frau antraf, die nicht nur seine Bücher gelesen hatte, sondern als eine von leichter Korpulenz bekleidete Antike auch seinem Schönheitsideal entsprach« (25.,109). Nach weiteren Besuchen Arnheims ist sie in ihn verliebt, aber sie hat »keine Ahnung von der Natur ihres Gefühls«. »Die Parallelaktion war für Diotima und Arnheim sozusagen die Verkehrsinsel in ihrem anschwellenden seelischen Verkehr« (42., 168). Beide scheinen »den höchsten Vorbildern platonischer Seelengemeinschaft« nachzueifern, meint Ulrich (67., 281).

Diotima, die die Aktion vor allem als anti-materialistisch betrachtet, verschanzt sich im Gespräch mit dem spöttischen Ulrich »in ihrem hohen Körper wie in einem Turm, der im Reisehandbuch drei Sterne hat« (66., 272). Aber sie gewöhnen sich durch gemeinsames Tun aneinander. Ulrich denkt, sie wäre angenehmer, wenn sie nicht ein törichtes Musterkind der Gesellschaft wäre, sondern einfach ein sinnliches Tierwesen (67., 276). Ihrem »Idealismus« setzt er immer eine äußerlich materialistische Erklärung entgegen ( 280).

Endlich tagt der »Ausschuß zur Fassung eines leitenden Beschlusses in bezug auf das Siebzigjährige Regierungsjubiläum Sr. Majestät« (71., 297) – von Tuzzi spöttisch das »Konzil« genannt (77., 325) – im Hause Tuzzi, das dadurch einem »geistigen Heerlager« gleicht (71., 296 f.). Für jeden Einzelnen ist Dichten und Denken Beruf, aber was von der versammelten Menge erwartet wird, ist unklar (300).

General Stumm, der inzwischen zum »Konzil« gestoßen ist (durch Diotimas Zofe Rachel, wie man später erfährt), schwärmt für Diotimas »imponierend weibliche Fülle« (85., 375) und ist überzeugt, dass sie Arnheim liebt, mit dem er sich sogar identifiziert (376). Diotima fürchtet sich aber vor dem General, er erinnert sie an den Tod (101., 466). Mit »Vetter« Ulrich hat sie ein langes Gespräch am Rande eines Konzilstreffens, das zuerst in der Garderobe, dann in Rachels Kammer stattfindet.

Arnheim, der ihr die Heirat angetragen hat, aber nicht darauf zurückgekommen ist, bedeutet eine Anstrengung für sie (475). Ihre Seele »lehnte sich gegen ihren an Sektionschef Tuzzi verheirateten Körper auf«, aber »zuweilen lehnte sich auch ihr Körper gegen die Seele auf, die durch Arnheims zögernde und übersteigernde Liebe am Rand einer Wüste schmachtete« (475). Sie wirft Ulrich eine negativ kritische Haltung vor, gegenüber allem. Er sei das Gegenteil von Arnheim. Die intime Situation des Gesprächs lässt sie an erotische Möglichkeiten denken (476 f.; vgl. auch III, 16.).

Darauf werden wir Zeugen privater Augenblicke zwischen Diotima und Arnheim unter der Überschrift »Hohe Liebende haben nichts zu lachen«. Auf seinen Vorschlag, ihn zu heiraten, hatte Diotima ihm dankbar die Hand gedrückt und mit einem Lächeln geantwortet: »Niemals lieben wir die, welche wir umarmen, am tiefsten...!« (105., 502). Sie sprechen im allgemeinen viel von Ehebruch, Scheidung, Verboten. Aber sie achten die Legitimität, deshalb sind sie »in der Lage von Menschen, die eine herrliche Brücke verbindet, in deren Mitte ein Loch von wenigen Metern das Zusammenkommen verhindert« (503).

Später, in den ersten Wochen des Jahres 1914, gehen Diotima, Arnheim und Ulrich in die Hofbibliothek, einer Anregung Graf Leinsdorfs folgend. Während sie mit General Stumm auf ein Taxi warten, ergibt sich ein vertrautes Gespräch zwischen Diotima und Ulrich. Wie soll sie sich zwischen Arnheim und Tuzzi entscheiden? Ulrich fragt: »Wollen Sie es mit mir versuchen?« (114., 573). Zur Verabschiedung sagt Diotima zu ihm: »Jedes andere Gefühl als das grenzenlose ist wertlos« (576).

Ulrich besucht Diotima nach der Rückkehr aus seiner Heimatstadt, sie ist leidend aus banalen, aber auch inneren Gründen. Sie verabschiedet die Seele und findet nun das Leben wichtiger, worauf Ulrich bemerkt: »Die ›grenzenlose Liebe‹ ist Ihnen wohl nicht gut bekommen?« (III, 17., 813). Diotima liest jetzt Bücher über die Ehe und möchte Tuzzi »etwas mehr Seele beibringen« (816). Zur neuen Parole erklärt sie: »Unser Jahrhundert dürstet nach einer Tat!« Ulrich: »Aber welche Tat?« Darauf Diotima: »Ganz gleich!« (812).

Ulrichs Schwester Agathe wird bei ihr eingeführt und gewinnt »die huldvolle Neigung der gewaltigen jungen Frau«, deren Ehrgeiz ihr ganz fremd ist. Agathe bestaunt sie wie eine »riesige Elektrizitätsanlage« (III, 27., 934). Etwas später wird Diotima von ihren politischen Freunden veranlasst, eine große Gesellschaft zu geben, obwohl sie selbst all diesem jetzt gleichgültig gegenübersteht (III, 34. - 38). Das Konzil ist unverkennbar zusammengebrochen. Diotima trifft bei dieser Gelegenheit Arnheim wieder, ohne dass sie miteinander reden (III, 38., 1036).

Im Sommer besucht General Stumm Agathe und Ulrich, die sich ganz zurückgezogen haben, und berichtet, Tuzzi, der Sektionschef, sei nun wieder Herr in seinem Hause. An die Stelle der Parallelaktion trete der für den Herbst geplante Weltfriedenskongress, und Diotima dürfe nur noch mit einem Maler den Trachtenfestzug dafür entwerfen, unter der Aufsicht des Unterrichtsministeriums (1119 f., 1132 f.). Bis zum Frühjahr sei er, Stumm, für das »Referat D« (Diotima) im Kriegsministerium zuständig gewesen, das auch Arnheims Interessen auf der Spur bleiben wollte (1150). Sie spreche immer noch sehr gescheit, z.B. von einem »panerotischen Humanerlebnis«, davon fühle Stumm sich entmannt (1135). Agathe erzählt er, Ulrich sei eine geheime Liebe von Diotima (1122).