Über »Jahrestage« in anderen Texten Johnsons
Begleitumstände (1980)
B 414-415 »›Anniversarii‹ hiess [das Buch] vorläufig, das Vorhaben ihr [Gesine Cresspahl] schmackhaft zu machen; später Anniversaries, Jahrestage. Die andere Schublade des Titels sollte enthalten, was sich an Tagen nährte aus der Vorgeschichte ihrer Person. Wie es Leuten in ihrem Alter überhaupt zustossen kann, war sie angelangt in einem psychischen Zustand, für den die Wissenschaften noch keinen genauen Namen nennen. Grob umrissen, war das ein Mangel an Vorfreude auf die Zukunft. Bis 1963 noch hatte sie gelebt mit einem Willkommen für eine neue Stadt, auch für Widerstand gegen unvernünftige Ansinnen von Chefs, für die Aussicht auf Ferien in Europa, ja auf den morgigen Tag. Unbemerkt war das geschrumpft zu einer bloss umsichtigen Vorbereitung auf ein Jahr nach dem anderen, als Verantwortung für ein halbwüchsiges Kind. Vielleicht war es die Lebensmitte, der Beginn der biologischen Rückbildung, die ihr das Bewusstsein des Lebenslaufes umkehrte in Richtung der Vergangenheit, in den Versuch zu finden, wie die jeweils vorvergangenen Zustände ihres Lebens noch durch etwas anderes verbunden waren als ihr Nacheinander.«
B 416 »Mit Elementen solcher Art, unschematisch abwechselnd mit Kapiteln für die jeweils heutige Zeit New York, sollte die Erzählung aus einem Bewusstsein zumindest des Jahres 1920 voranschreiten bis zu dem gegenwärtigen Jahr und Tag in New York, so dass hier einmal einer Katze es gelingen sollte, den eigenen Schwanz zu fangen.«
B 424 »Danach war von allen möglichen Anfängen als einziger übrig die Erinnerung an den 20. August 1967, an der Atlantikküste verbracht als Besuch bei Freunden, aber auch als ein langer Strandnachmittag in der Gesellschaft einer Gesine Cresspahl. Über dem Meer tobten zivile und militärische Flugzeuge; was lag da näher, als dass sie von der ›Rottgoos‹ sprach, dem Halsbandregenpfeifer und der Brandgans«.
B 425 »Es war eine Verständigung und Prüfung in einem, sie konnte die verlangen von jemand, der fortan in ihrem Namen schreiben wollte, für sie und an ihrer Stelle. Das wurde nun kenntlich als der Vertrag über den Auftrag, mit ihr als Generalanwalt für alle Personen und ihrem unbedingten Vetorecht. In den folgenden Monaten war sie oft zu hören, in spöttischem Ton, mit dem leninistischen Zitat, in dem nach dem Wann gefragt wird, und ob es vielleicht das Jetzt sein dürfe; im Januar hatte der meeresähnliche Lärm der Autobahn jenseits des Riverside Drive, das Rauschen der Klimamaschine im Büro oft genug an den Vergleich zwischen den Wellen des Atlantik und der Ostsee gemahnt. So wurde der 20. August 1967 der Tag für das erste Kapitel, ohne Ahnung von dem, der ihm gegenüberstehen sollte binnen Jahresfrist«.
B 426-427 »Der 20. August 1968, der Einmarsch sowjetischer Truppen in die Sozialistische Tschechoslowakei ab 23 Uhr, das Verstummen von Radio Prag gegen 1:30 Uhr am folgenden Morgen, es war die endgültige Auskunft und Bestätigung für die Richtung, in die die geplante Erzählung zu einem Ende gedrückt worden war. Die 366 Tage bis zu diesem, das amerikanische Bewusstsein Gesine Cresspahls, konserviert in Ausschnitten aus der New York Times und etwa sieben Metern anderer Literatur«. – Die von Johnson bis zu seiner Abreise aus Amerika »geschriebenen Kapitel für siebzehn Tage, 47 Blätter« waren »entstanden aus der Übung, für jedes der vorgegebenen 365 oder 366 Kapitel einen unabhängigen Ansatz, eine eigene Struktur herzustellen, die jeweils zu entwickeln waren auch aus dem Zustand des erzählenden Subjekts. War dieser Versuch einmal gesichert, konnte der Rest der Zeit verwandt werden auf Aufmerksamkeit für die Wirklichkeit der Tage auf den Strassen von New York, wie sie sich gibt außerhalb der New York Times«.
B 428 »Das war der Preis; erst wenn die Geschichte in allen Bewegungen und Einzelheiten im Kopf vorbereitet und gesichert ist, bis hin zu ihrem letzten Satz, gibt sie die Erlaubnis, ›es bloss noch hinzuschreiben‹«.
B 441 Der »Vorwurf des Autobiographischen [...] sieht entschlossen vorbei an der Wirklichkeit, die das Buch einer vierunddreissigjährigen Frau, ledig und mit einer zehnjährigen Tochter, einräumt in New York, mit nur ihr zukommenden Sorgen wegen der Schule, der beruflichen Aussichten, beständiger Eheansinnen, mit der fast täglichen Prüfung, einer berufsmässigen jungen Bürgerin von New York zu erzählen von einer anderen Kindheit im Deutschland der Jahre 1938 und 1945 [...]. Darüber hinaus setzt der Vorwurf des Autobiographischen die Person Gesine Cresspahl herab und will sie erscheinen lassen als bloss ein Instrument und Vehikel, Erfahrungen und Zustände des Verfassers zu übermitteln, mit welchem Zweifel an ihrer souveränen Partnerschaft ihr sogleich die Fähigkeit dazu verloren gehen muss«.