Wirtin

Die Wirtin des Gasthauses, in dem der Famulant absteigt, führt das Haus zu diesem Zeitpunkt in Eigenregie, weil der Wirt eine zweijährige Haftstrafe absitzt. Sie selbst hatte ihren Mann angezeigt, weil sie ihr Liebesverhältnis mit dem Wasenmeister ungestört ausleben wollte (7. Tag, 61). Sie hatte den Wirt mit sechzehn Jahren geheiratet, weil sie von ihm schwanger geworden war (ebd.), und begann, wie der Maler Strauch berichtet, schon nach einem Jahr fremdzugehen (7. Tag, 69), womit sie es ihrem Mann allerdings nur gleichtat (vgl. 11. Tag, 117). Aktuell hat sie ein Verhältnis mit dem Wasenmeister und mit dem Gendarmen und lässt wohl auch sonst kaum eine Gelegenheit aus; besonders die regelmäßig ins Tal kommenden Bierführer haben es ihr angetan (7. Tag, 66). Die Bitten ihres Mannes um Geld und warme Kleidung erfüllt sie widerwillig und nur auf Drängen des Wasenmeisters (7. Tag, 60 f.). Vor seiner Rückkehr fürchtet sie sich (7. Tag, 62, 65) und wünscht sich, dass er »nicht mehr da wäre« (19. Tag, 235). Der Maler ist überzeugt, dass »etwas Furchtbares« geschehen wird, wenn der Wirt aus der Strafanstalt zurückkommt (7. Tag, 62).

Im Tal gilt sie als Fremde, denn ihr Vater stammt »aus einem anderen Tal, gegen das Tirolische zu« (11. Tag, 116). Er war »Wegmacher« und hinterließ ihr »nichts als die Begräbnisschulden« (11. Tag, 117). Mit vierzehn Jahren verdingte sie sich als Stallmagd bei dem Bauern aus dem Nachbardorf. »Eine gute Arbeitskraft ist sie immer gewesen«, womit sie wohl auch das Interesse des Wirts auf sich gezogen hat (ebd.).

Das Gasthaus führt sie mit Geschick und Tatkraft. Ohne sie würde es längst nicht mehr existieren, meint der Maler, denn der Wirt sei alkoholkrank (11. Tag, 116). Sie ist eine sehr gute Köchin, steht allerdings im Verdacht, den Gästen heimlich Hundefleisch zu servieren, ein Verdacht, der sich in einer vom Famulanten belauschten nächtlichen Szene, in der der Wasenmeister ihr einen toten Hund bringt, zu bestätigen scheint (22. Tag, 255-257).

Mit ihren beiden halbwüchsigen Töchtern geht sie lieblos um; die ältere, eine Vierzehnjährige, schlägt sie mit einem Schürhaken blutig, weil sie, wie sie vermutet, eine Nacht mit dem Sohn des Schrankenwärters verbracht hat. Am nächsten Tag heißt es, dass die Tochter mit ihrem Liebhaber durchgebrannt sei (12. Tag, 128). Der Maler glaubt zu wissen, dass sie und ihre Töchter, wie fast alle im Tal, an Tuberkulose leiden (14. Tag, 158).

Der Famulant empfindet von Anfang an Ekel vor der rohen Sinnlichkeit der Wirtin: »Mich ekelt vor der Wirtin. Es ist derselbe Ekel, der mich als Kind vor offenen Schlachthaustüren hat erbrechen lassen. Wäre sie tot, würde mich – heute – nicht vor ihr ekeln – die toten Sezierkörper erinnern mich nie an lebendige Körper –, aber sie lebt, und sie lebt in einem faulen, uralten Gasthausküchengeruch.« (2. Tag, 9) Gleich bei der ersten Begegnung bietet sie sich ihm unverkennbar an: »Stillschweigend schien sie mich, noch im Türrahmen, etwas zu fragen, das nur eine Frau einen Mann blitzschnell fragen kann. Ich war überrumpelt. Es gab keinen Irrtum. Ich schlug ihr Angebot, ohne ein Wort zu sagen und nicht ohne plötzliche Übelkeit, aus.« (ebd., 10)

Dem Maler gefällt es, dass sie dem Famulanten zuwider ist, und bestätigt seine Einschätzung: »Sie ist ein »Unmensch« (3. Tag, 22). Leuten wie ihr »seien Begriffe wie Hochachtung und Ehrfurcht unbekannt« (11. Tag, 115). Der Fremdenhass der Dorfbewohner tue ein übriges: Sie ließen einen Menschen, »der nicht dazugehört«, der »sich von ihnen nichts hat sagen lassen«, ungerührt untergehen: »Sie bezeichnen so jemanden wie die Wirtin als Ungeziefer.« (ebd., 116)