Orsina, Gräfin

Die Geliebte des Prinzen tritt erst im 4. Akt, kurz nach Emilias Entführung, auf den Plan. Sie ahnt, dass sie den Prinzen verloren hat, weiß nur noch nicht, warum und an wen (vgl. I, 6; LM II, 386 f.). Sie kommt nach Dosalo, weil sie sich hier mit dem Geliebten verabredet glaubt, muss dann aber von Marinelli erfahren, dass der Prinz ihren Brief, in dem sie ihn um ein Treffen in dem Lustschloss gebeten hatte, gar nicht gelesen hat (IV, 3; LM II, 426 f.).

Dass er sich gleichwohl auf Dosalo aufhält, möchte sie nicht für einen Zufall halten: »das Wort Zufall ist Gotteslästerung«. Vielmehr glaubt sie darin ein Werk, sogar ein »unmittelbares« Werk der »allgütige[n] Vorsicht« (d. h. Vorsehung) zu erkennen (IV, 3; LM II, 428). Was sie damit meint, wird erst später, in ihrem Gespräch mit Odoardo (IV, 7), erkennbar: Sie hat sich für das Stelldichein mit einem Dolch versehen, den sie gegen den abtrünnigen Geliebten zu gebrauchen »fest entschlossen« ist (IV, 7; LM II, 436), und versteht sich dabei als ein Werkzeug der »allgütige[n]« Vorsehung. Da sie indes keine Gelegenheit zur Ausführung bekommt, überlässt sie Odoardo den Dolch, der sich – wie sie – durch alles andere als numinose Vorgänge in dem Wahn bestätigt sieht, mit seinem tödlichen Vorhaben den Willen der göttlichen Vorsehung zu erfüllen (V, 6; LM II, 447).

Als Orsina erfährt, dass sich die Braut Appianis, von dessen Tod sie unterwegs schon gehört hat, im Schloss aufhält, und dass es sich bei dieser Braut um jene Emilia Galotti handelt, von deren Zusammentreffen mit dem Prinzen in der Morgenmesse sie durch ihre Kundschafter weiß (IV, 5; LM II, 432), durchschaut sie das üble Spiel sofort und nennt den Prinzen einen Mörder (ebd.).

Nachdem Marinelli vergebens versucht hat, sie von dem unverhofft hinzukommenden Odoardo zu trennen, und, als ihm dies nicht gelingt, ihm andeutet, dass Orsina den Verstand verloren habe (IV, 7), offenbart Orsina dem ›guten, lieben Vater‹ voller Mitleid alles, was, wie sie weiß, diesem den Verstand rauben wird: »Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren.« (IV, 7; LM II, 434). Sie lässt ihn wissen, dass Appiani tot ist und dass der Prinz am Morgen in der Messe mit Emilia gesprochen hat: »Nun da, buchstabieren Sie es zusammen!« (IV, 7; LM II, 435). Odoardos ersten Impuls sogleich erratend, übergibt sie ihm ihren Dolch.

Seiner Bitte, Claudia, die ihre Aussagen bestätigt, in ihrer Kutsche mit in die Stadt zu nehmen, kommt sie freundlich nach und verlässt mit Claudia den Schauplatz (IV, 8).