Vorwort

Das Lexikon zu Thomas Manns »Joseph und seine Brüder«, das hier seit 2009 als ›Work in progress‹ veröffentlicht wurde und nun abgeschlossen vorliegt, möchte Liebhabern der Thomas Mannschen Erzählkunst den Zugang zu diesem großen Roman und Literaturwissenschaftlern den analytischen Zugriff auf den Text erleichtern. Es ergänzt das Thomas Mann-Figurenlexikon von Eva D. Becker und ist auch konzeptionell vergleichbar angelegt. Die große Zahl von Namen (Figuren-, Götter-, Ortsnamen), wiederkehrenden Bezeichnungen und Begriffen im Joseph-Roman ließ es allerdings zweckmäßig erscheinen, neben den handelnden Figuren auch die nur erwähnten Personen und insbesondere die große Zahl an mythischen Gestalten, die Schauplätze des Romans sowie wiederkehrende Bezeichnungen und Begriffe aufzunehmen.

Das Lexikon versteht sich als Lesehilfe und Gedächtnisstütze, nicht als historisch-kritischer Kommentar. Letzteren liefert die kürzlich erschienene Neuausgabe des Romans im Rahmen der Großen Kommentierten Frankfurter Ausgabe. Die Lexikoneinträge bleiben deshalb nah am Text, fassen die im Roman vergebenen Informationen zusammen und verweisen auf textinterne Bezüge. Wo Sacherläuterungen unumgänglich erscheinen, werden sie am Ende der Einträge in möglichst knapper Form gegeben und ggf. mit Hinweisen auf weiterführende Informationsquellen versehen.

Die Frage der historischen oder mythologischen »Richtigkeit«, die manche Thomas Mann-Forscher bei diesem Roman umtreibt, wird dabei nur in wenigen Einzelfällen berührt. Das hat mit grundsätzlichen texttheoretischen Erwägungen zu tun. »Joseph und seine Brüder« ist ein Roman, kein Sachbuch. Romane entfalten eine fiktionale Welt sui generis, deren Geltungsfähigkeit nicht von der »Richtigkeit« einzelner Daten und Fakten ihrer Weltdarstellung abhängt, – ausgenommen vielleicht Schlüssel- oder Kolportageromane, die sich die Frage nach ihrer »Richtigkeit« allerdings gefallen lassen müssen. Ansonsten aber (und zumal bei einem Text des Kalibers wie dem hier in Rede stehenden) ist die Frage, ob die historischen Fakten oder mythologischen Sachverhalte, die er verarbeitet, nach heutigem Forschungsstand »richtig« dargestellt sind oder nicht, für das Textverstehen ohne Belang, weshalb eine detaillierte Registratur historischer oder mythologischer »Fehler« auch eher an Sixtus Beckmesser gemahnt. Davon abgesehen kann ohnehin gesagt werden, dass der historische und mythologische Stoff des Romans im Rekurs auf die zu seiner Entstehungszeit gültigen (und teilweise bis heute gültigen) Standardwerke gründlich recherchiert wurde und der mit Abstand größte Teil seiner Darstellung historischer und mythologischer Sachverhalte auch heutigen Wissensstandards standhalten kann.

Weitaus ergiebiger als die Suche nach »Fehlern« sind Informationen über diese bei der Recherche genutzten Werke, also über die Herkunft der bibelwissenschaftlichen, ägyptologischen, assyriologischen u.a. Wissensbestände, die Thomas Mann verarbeitet hat, sowie über die bildlichen Überlieferungen, die seine Gestaltung der Erscheinungswelt des Romans sichtlich geleitet haben. Dem wird durch Hinweise auf die jeweils relevanten Passagen der von ihm benutzten Quellenwerke bzw. durch Abbildungen der Bildwerke entsprochen, die ihm vorgelegen haben. Auch diese Informationen sind für das Textverstehen eher nachrangig, geben aber aussagekräftige Einblicke in Thomas Manns »Werkstatt«, die einer weitergehenden Beschäftigung mit dem Roman nützlich sein mögen.

Details zum Aufbau der Lexikoneinträge, zu den darin verwendeten Zeichen und Abkürzungen, zu den Regeln der Lemmatisierung, zur Zitierweise sowie zur Navigation im Lexikon finden sich bei den Hinweisen, einige für die Beschäftigung mit dem Roman nützliche Materialien unter Hilfsmittel.

Bei der Erarbeitung des Lexikons und insbesondere bei der Zusammenstellung der Fundstellen hat mir die Text-Database zu J. W. Goethe und Thomas Mann der Kyushu-University (Fukuoka, Japan), die die Volltextsuche in den ›Gesammelten Werken in 13 Bänden‹ ermöglicht, große Hilfe geleistet. – Mein besonderer Dank gilt dem British Museum, das mir hervorragende Fotografien zahlreicher Exponate aus seinen reichhaltigen Sammlungen (Middle East, Ancient Egypt and Sudan, Greece and Rome) überlassen und ihre Verwendung für das vorliegende Lexikon erlaubt hat.

Robert Gernhardt, der mir wenige Monate vor seinem Tod die Erlaubnis gab, seine zeichnerischen Kabinettstückchen aus dem »Randfigurenkabinett des Doktor Thomas Mann« für das Thomas-Mann-Figurenlexikon zu verwenden, hat zum Joseph-Roman nur eine Zeichnung hinterlassen. Immerhin zeigt sie aber, wie er in einem Spiegel-Interview im August 2005 anlässlich der Ausstellung seines ›Randfigurenkabinetts‹ im Lübecker Buddenbrookhaus (August/September 2005) wissen ließ, seine Lieblings-Randfiguren: Huij und Tuij, die »greisen und inzestuösen ›Ehegeschwister‹«, die Eltern des ›Titelgemahls‹ Potiphar, denen Joseph einen Nachmittag lang als Stummer Diener zur Verfügung stehen muss. »In dem Alter noch so viele Kosenamen draufzuhaben: Mein Sumpfbiber, meine Rohrdommel, mein Fröschchen, meine liebe Erdmaus«, fand er »beachtlich – und sehr komisch«.

Sollte dieses Lexikon neben Orientierung und Information auch einen geschärften Blick für die komischen und (selbst-) ironischen Brechungen dieser »verschämte[n] Menschheitsdichtung« (Th. Mann) vermitteln können, wäre das Vergnügen, das Unterzeichnete bei seiner Erarbeitung hatte, nicht nur auf ihrer Seite.

Saarbrücken, den 28. Mai 2018                           Anke-Marie Lohmeier