Schmidt, Wilibald

Gymnasialprofessor, Vater Corinnas und Onkel Marcell Wedderkopps, 60 Jahre alt (vgl. 11/153). Er wohnt mit seiner Tochter im ersten Stock eines »ansehnlichen, im Uebrigen aber altmodischen Hause[s]« in der Berliner Adlerstraße (1/5), in der er schon als Kind und junger Mann wohnte und nun ein eher eingezogenes, zwischen Schule und Studierzimmer wechselndes, nur gelegentlich von geselligen Anlässen unterbrochenes Leben führt. Den Haushalt des augenscheinlich früh Verwitweten (vgl. 11/160) besorgt die Schmolke.

In seiner Jugend befand sich »gerade gegenüber« der »Materialwaarenladen«, in dem Jenny Treibel, damals Jenny Bürstenbinder, aufwuchs (1/6), seine Jugendliebe, der er Liebesgedichte schrieb, darunter auch das Lied mit der »berühmte[n] Stelle ›Wo sich Herzen finden‹« (7/81), das Anlass ihrer heimlichen Verlobung war (vgl. 7/91). Dass Jenny dieses Lied, auch nachdem sie Wilibald den Laufpass gegeben hatte, um den reichen Fabrikanten Treibel zu heiraten, weiterhin bei jeder Gelegenheit sang und singt und insbesondere bei ihren Abendgesellschaften gefühlvoll vorzutragen pflegt, erträgt Wilibald, der »kein Uebelnehmer und Spielverderber« ist, mit der Gefasstheit des Ironikers: »in dem Liede lebt unsre Freundschaft fort bis diesen Tag, ganz so, als sei nichts vorgefallen« (7/92).

Gelassene Ironie, vor allem Selbstironie, Humor und ein von Vorurteilen und Standesdünkeln freies Denken prägen Schmidts Charakter. Dem Kollegenkreis, der sich in regelmäßigen Abständen zu seinen »Abenden« trifft, hat er, die Weisheit der Gelehrtenzunft heiter in Frage stellend, den Namen »Die sieben Waisen Griechenlands« gegeben mit dem Bemerken, das »a«, auf das es hier ankomme, »verändere nicht nur mit einem Schlage die ganze Situation, sondern erziele sogar den denkbar höchsten Standpunkt, den der Selbstironie« (6/65; vgl. auch 7/86). Versuche des Kollegen Schultze, den Zeichenlehrer Friedeberg wegen seiner »wissenschaftlichen Nichtzugehörigkeit« aus dem Professorenkränzchen zu vergraulen, hat er erfolgreich unterbunden (6/64). Die Vorbehalte, die sein Kollege und Freund Distelkamp gegen Heinrich Schliemann wegen dessen fehlender schulischer und akademischer Bildung hegt, teilt er nicht und studiert begeistert Schliemanns Grabungsberichte (vgl. 6/73). Gesellschaftliche Veränderungen nimmt er gelassen zur Kenntnis, begrüßt etwa den von Distelkamp beklagten Verlust einer auf der bloßen Rangstellung fußenden Autorität der Lehrer und den Umstand, dass an deren Stelle »die reelle Macht des wirklichen Wissens und Könnens getreten« sei (6/72).

Auf Corinnas Eskapade reagiert Schmidt gelassen, mischt sich nicht ein und ist überzeugt, dass man durch »Dreinreden« nur den »natürlichen Gang der Dinge« stören würde (7/93). Er hat großes Vertrauen in seine Tochter, noch größeres aber in die Gesinnung seiner »Freundin Jenny«, ihren Sinn für das »Ponderable«, der sie veranlassen wird, eine Verbindung ihres Sohnes Leopold mit Corinna um jeden Preis zu verhindern. Als »liebenswürdiger Egoist«, der er, »wie die Meisten seines Zeichens«, ist, nimmt er die zeitweise im Haus herrschenden Missstimmungen kaum wahr (15/203).

So unbestechlich sein Blick für den Charakter Jenny Treibels auch ist, so findet er doch am Ende, auf Corinnas und Marcells Hochzeitsfest, versöhnliche Worte über sie und selbst über ihren verlogenen Umgang mit seinem Liebeslied von einst (vgl. 16/222 f.). Das »Classische«, das er zuvor seinem Neffen Marcell attestiert hat, ist auch sein Teil: Es ist »das, was die Seele frei macht, das Kleinliche nicht kennt und das Christliche vorahnt und vergeben und vergessen lehrt, weil wir Alle des Ruhmes mangeln« (16/212).

Der Hinweis darauf, dass in dem »Classiker« Schmidt zugleich ein »Romantiker« stecke (vgl. 1/14), ja, dass er »eigentlich mehr als alles Andere« ein »alte[r] Romantiker« sei (7/80), gibt Anlass zu der Annahme, dass in seiner überraschenden Versöhnlichkeit am Ende, zumal in seiner Gleichung von »Natur« und »Sittlichkeit« (16/223), nicht nur das »Classische«, sondern mehr noch Romantisches steckt: die (von Schiller vorgeprägte) romantische Idee des Goldenen Zeitalters, des idealen ›Naturstandes‹ des Menschen, in deren Perspektive (befördert durch reichlich fließenden Champagner) Schmidt geneigt ist, Jenny Treibels verlogen-sentimentalen Umgang mit seinem Liebeslied als Ausdruck der romantischen (mit Schiller zu reden: sentimentalischen) Sehnsucht nach dem verlorenen Ideal gelten zu lassen (vgl. dazu Anke-Marie Lohmeier: »... es ist ein wirkliches Lied«. Theodor Fontanes Roman »Frau Jenny Treibel« als Selbstreflexion von Kunst und Kunstrezeption in der Gesellschaft der Gründerjahre. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68/1994, H.2, 238-250).