Leverkühn, Adrian

Er ist der »Doktor Faustus« des Romans, in dem seine ganze Lebensgeschichte von der Kindheit bis zum Tod erzählt wird. Leverkühn ist, wie Hans Castorp, 1885 geboren. Der Erzähler Serenus Zeitblom, der zwei Jahre ältere Freund Adrians, weist immer wieder auf seine Unzulänglichkeit als Biograph des Genies hin. Nur dreimal, in zwei Briefen und in Aufzeichnungen, lesen wir Adrian selbst. Schon in Zeitbloms ersten Sätzen ist von Einsamkeit, Kälte und »unlauterer Steigerung« durch die »unteren Gewalten« die Rede, auch von einem »Kaufvertrag« (I, XV, XVI).

Die Figur Leverkühn vereinigt mehrfache Bezüge in sich: zum Doktor Faust des Volksbuches, zu Nietzsches Leben und Tod, zu Thomas Manns Biographie (München, Palestrina), weiter zu Deutschlands Entwicklung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und zur Entwicklung der Musik in dieser Zeit.

Im dritten Kapitel wird Adrians Herkunft vom Hof Buchel bei Weißenfels beschrieben; er wächst in einer traditionellen ländlichen Umgebung auf. Er vereinigt in sich väterliches und mütterliches Erbe, wie vor allem seine aus Azurblau und Pechschwarz zu einem Blau-Grau-Grün mit metallischen Einsprengseln gemischte Augenfarbe zeigt (IV, 39). Während seiner Gymnasialzeit wohnt er bei seinem Onkel in Kaisersaschern, einer (erfundenen) spätmittelalterlich geprägten Stadt, mit reizvollem Stadtbild und engen Beziehungen zu altem Wahn und Aberglauben (VI).

Der Onkel Nikolaus Leverkühn ist Instrumentenbauer (VII). Mit etwa 14 Jahren entwickelt der kühle Knabe Adrian zum ersten Mal eine »Leidenschaft«: für die Ordnungsbeziehungen der Tonarten, mit denen er autodidaktisch experimentiert. Gleichzeitig treten die ersten Migräneanfälle bei ihm auf.

Er bekommt Klavierunterricht bei Wendell Kretzschmar, einem jungen Musiker aus Pennsylvania, der in Kaisersaschern als Organist wirkt. Aus den Vorträgen dieses begeisterten Kenners lernt er viel über Musik und Komponisten (VIII). Zu Beethovens dritter Leonoren-Ouvertüre äußert Adrian, diese Musik sei eigentlich Imitatio Dei – warum ist das nicht verboten? (IX, 119).

Adrian weicht aber der Musik noch aus und studiert Theologie in Halle, einer Stadt der Reformation, aber auch der Aufklärung (X). Dort bleibt er zwei Jahre, zusammen mit Zeitblom, der Altphilologie studiert. Er hört Philosophie-Vorlesungen bei Kolonat Nonnenmacher und theologische Systematik bei Professor Kumpf, einer »wuchtigen Persönlichkeit« im altdeutschen Stil (XII, 141). Privatdozent Eberhard Schleppfuß lehrt Theologie als psychologische Dämonologie (XIII). Mit der theologischen Studentenverbindung »Winfried« nimmt Adrian an Wanderungen und an den ideologischen Debatten der Jahrhundertwende teil.

Nach zwei Jahren folgt er dem Ruf seines Lehrers Kretzschmar zur Musik und beginnt 1905 das musiktheoretische Studium in Leipzig, als Privatstudent bei Kretzschmar (XVI). In den ersten Wochen schreibt er einen langen, wörtlich wiedergegebenen Brief an Zeitblom, der parodistisch im »Reformationsdeutsch« Professor Kumpfs abgefasst ist. Er schildert darin, was ihm am ersten Tag in ›Ninive‹ (d.i. Leipzig) widerfahren ist: ein teuflischer Dienstmann führte ihn durch die Stadt und schließlich in ein Bordell. Da rettete er sich ans Klavier und spielte die Freischütz-Ouvertüre. Aber ein bräunliches Mädchen streichelte ihn, und er floh.

Doch der Pfeil hat ihn getroffen (XIX, 223). Nach etwa einem Jahr, im Mai 1906, sucht er diese »Esmeralda« in Preßburg auf. Sie ist geschlechtskrank und warnt ihn; aber für ihn sind Liebe und Gift nun eins, er verlangt nach »dämonischer Empfängnis« (XIX, 226). Den Namen »Hetaera Esmeralda« aus den Naturstudien seines Vaters verwebt er in der Folge in viele Kompositionen als Klangchiffre h e a e s.

Adrian infiziert sich. Vernünftig sucht er zwar in Leipzig einen Arzt auf, dann einen zweiten, doch beide Versuche scheitern durch ungewöhnliche Umstände (XIX). Und nun gibt Adrian es auf. (Quelle auch dafür sind Nietzsches Erfahrungen.)

Serenus Zeitblom kehrt im Herbst 1906 für ein Jahr nach Leipzig zurück und ist nun wieder Zeuge von Adrians weiterer Entwicklung. Ihm fällt der kalte, traurige Blick des Freundes auf (XX, 237). Im übrigen ist der 21jährige Adrian aktiv, er komponiert viel, z.B. Lieder nach Dante, Blake, Brentano. In seiner Musik treffen extremer Ausdruckswille und extreme Ordnung zusammen, Hitze und Kälte. Adrian bleibt viereinhalb Jahre in Leipzig. Es gibt auch einen neuen Freund, den Übersetzer Rüdiger Schildknapp, mit dem er viel lachen kann (XX, 243).

Dann zieht er nach München, als Untermieter von Frau Rodde und Gast in ihrem Salon. Auf einem Ausflug kommt er mit Schildknapp nach Pfeiffering bei Waldshut, wo sie im ehemaligen Klostergut einkehren und in der beredten Frau Schweigestill eine resolute, doch zugleich auf »Verständnis« eingestellte Wirtin vorfinden (XXIII).

Ende Juni 1911 geht Adrian mit Schildknapp nach Palestrina (wie in München auf den Spuren seines Autors; »Palestrina« ist auch der Titel einer Oper von Hans Pfitzner von 1917 über metaphysische Inspiration; vgl. Schwalb). Adrian arbeitet dort – im Winter in Rom – an seiner Oper »Love's Labour's Lost« (XXIV, 321). Die Freunde leben bei der Witwe Manardi, ehelos und enthaltsam wie alle anderen Hausbewohner (XXV). Adrian hat, so Zeitblom, einen Harnisch von Reinheit, immer schon vermied er jede Berührung, ebenso das Du-Sagen, mit zwei Ausnahmen (Serenus Zeitblom und Rudolf Schwerdtfeger).

In Adrians Nachlass hat der Erzähler Aufzeichnungen aus Palestrina gefunden. Adrian gibt darin ein Gespräch mit dem Teufel wieder, das er im großen Saal des Hauses Manardi geführt haben will. Nun seien sie schon seit sechs Jahren unter Vertrag, d.h. seit der »Hetäre« in Leipzig, zu der er ihn schleppte. Adrians Krankheit heiße Metaspirochaetose, sie betreffe das Gehirn (XXV, 340). Er verspricht Adrian Illuminationen, ein extravagantes Dasein – doch unter einer Bedingung: »Du darfst nicht lieben.« (XXV, 363).

Im Herbst 1912 kehrt Adrian nach München zurück und zieht alsbald zu den Schweigestills nach Pfeiffering – für 18 Jahre. »Love's Labour's Lost« wird in Lübeck aufgeführt (XXVII). Danach komponiert Adrian Klopstocks fromme »Frühlingsfeyer« und berichtet dem Freund von Expeditionen in die Meerestiefe, von denen er gelesen, die er aber angeblich mit einem Tiefseeforscher namens Capercailzie (›Auerhahn‹, d.i. Teufel) selbst unternommen hat, das heißt: er stürzte sich in den »Ozean der Welten alle« (Klopstock). Er schreibt dann ein Werk, das er »Die Wunder des Alls« nennt (XXVII, 400).

Im ersten Kriegsjahr komponiert Adrian kuriose Geschichten aus den »Gesta Romanorum« für Puppentheater (XXXI, 458). Dazu gehört auch die Geschichte vom »erwählten« Papst Gregor. 1918/19, am Ende des Krieges, leidet Adrian entsetzlich unter Migräne und muss meistens im Dunkeln liegen. Gelegentlich vergleicht er sich und seine Qual mit den Schmerzen der Kleinen Seejungfrau von Andersen (XXXIII, 499). Im Frühjahr 1919 lässt das Leiden von ihm ab und er beginnt, ein Oratorium, »Apocalipsis cum figuris«, zu schreiben, im Geiste Dantes und Dürers (XXXIV). Das Werk wird 1926 in Frankfurt »unter Klemperer« aufgeführt, wie auch andere Kompositionen Leverkühns in den 20er Jahren öffentlich vorgestellt werden, so die »Gesta« in Donaueschingen. Eine unsichtbare Gönnerin, Frau von Tolna, tut das ihre dazu (XXXVI).

Dem zutraulichen Geiger Rudolf Schwerdtfeger gelingt es, Adrians Liebe zu gewinnen. Adrian begleitet ihn 1924 zu Aufführungen eines für ihn geschriebenen Konzerts nach Wien und in die Schweiz. Rudi hat ihm den Weg zu einem menschlicheren, wärmeren Leben gezeigt, und so verliebt sich der fast 40jährige Adrian in die junge Marie Godeau, die er in Zürich kennenlernt (XXXVII). Sie ist Anfang 1925 in München, man trifft sich bei Einladungen und auf einem Schlitten-Ausflug mit den Freunden (XL). Aus Weltfremdheit, Scheu oder im Vorgriff auf sein Schicksal schickt Adrian Freund Schwerdtfeger als Werber zu ihr, zugleich Motive aus der Shakespeare-Komödie (und Nietzsches Biographie) aufnehmend (XLI). Der Freund erweist sich als untreu: Nachdem Marie die Werbung für Adrian abgelehnt hat, wirbt er erfolgreich für sich selbst (XLII). Adrian sieht ihn nicht wieder.

Nach einem Jahr der Unproduktivität schreibt er ein anspruchsvolles Werk nach dem andern, wie es ihm »sein Geist und Auerhahn« (»Capercailzie«) eingab (XLIII, 664). 1928 erscheint ein himmlischer »Bote« in Gestalt von Nepomuk (»Echo«) Schneidewein, seinem fünfjährigem Neffen, in Pfeiffering, der Adrian ebenso bezaubert wie alle anderen (XLIV). Er hat ein vertrautes Verhältnis zu dem Kind, aber – er darf nicht lieben. Nepomuks furchtbare Krankheit und seinen Tod versteht er als Eingriff des Teufels (XLV).

1929/30 aber wird der Komponist für den »Entzug« an Lebensglück wieder mit einem Schaffensrausch belohnt (XLVI, 699). Das entstehende Werk »Dr. Fausti Weheklag« ist charakterisiert durch strenge Technik (Zwölfton nach Schönberg) und zugleich »Durchbruch« zum Ausdruck, zur Klage (XLVI, 703). Im Mai 1930 lädt Leverkühn alle Münchener Bekannten nach Pfeiffering, um ihnen das Werk vorzustellen (XLVII). In »altdeutscher« Sprache und schleppendem Ton berichtet er, er habe sich schon in seinem 21. Jahr aus Hochmut und um des »Durchbruchs« willen mit dem Teufel verbündet (XLVII, 723 f.). 24 Jahre habe er gearbeitet, dabei auch die kleine Seejungfrau zur Bettgenossin gehabt und leider den Freund Rudolf getötet. Mit Zerknirschung habe er auf Gnade spekuliert. – Als Adrian sich ans Klavier setzt, bricht er zusammen. Die guten Frauen sind um ihn, während die Gäste die Szene verlassen.

In Zeitbloms »Nachschrift« wird dieser Zusammenbruch als paralytischer Schock bezeichnet (731). Danach ist Adrian sich selbst und den anderen entfremdet. Nach einigen Monaten in einer Nervenheilanstalt kehrt er ruhiger zu Frau Schweigestill zurück. Als seine Mutter erwartet wird, versucht er, sich im Weiher zu ertränken, und wird auf der Heimreise aggressiv. Er bleibt dann aber kindlich-friedlich bei der Mutter in Buchel. Als Zeitblom ihn zum 50. Geburtstag im Juni 1935 besucht, erkennt Adrian ihn nicht; er hat ein Ecce-Homo-Gesicht. Bei seinem letzten Besuch, 1939, liegt der Patient ruhig, als »Phantom« seiner selbst, mit grauem Bart und auf der Brust gekreuzten Händen in seinem Zimmer. Seine achtzigjährige Mutter erlebt noch seinen Tod im August 1940.