Eine Halligfahrt (1871)

Adolf

Adolf ist ein fähiger Musikdirektor, der am Konzertabend in Evelines Elternhaus dirigiert. Er und der Vetter haben zuvor bereits öfter zusammen Musik gemacht.

Eveline

Als der Vetter noch in der Stadt wohnt, ist er in Eveline verliebt. Auf ihr Verlangen hin spielt er an einem Konzertabend in ihrem Elternhaus Geige. Rückblickend stilisiert der Vetter Eveline zu einer »Göttin« und seiner »Muse« (II, 66), mit der er durch sein Geigenspiel »eins« (II, 66) wird, sich somit in gewisser Weise mit ihr vereinigt. Eine wirkliche Liebesbeziehung bleibt dem Vetter und Eveline indes versagt. Eveline wird vielmehr »gescholten« (II, 66). Wie in nachgeschobenen Aufzeichnungen deutlich wird, die der Erzähler bloß als Aufsatz deutet, hat der Vetter allerdings selbst am Konzertabend Eveline zurückgewiesen: »Und nun geh, Eveline« (II, 68). Nur auf seine Idealisierung Evelines als Muse will er nicht verzichten: »Du aber, o Muse des Gesanges, verlasse mich noch nicht!« (II, 68) Der Vetter schließt aus all dem, dass womöglich das Leben nur einsam zu verbringen ist, wenngleich die Liebe zu einer Frau, die er als »Rosen« (II, 67) beschreibt, fester Bestandteil des Lebens ist. Wie der Erzähler abschließend berichtet, ist ihm über Evelines Verbleib nichts bekannt.

Frau Geheimrätin

Die Mutter Susannes und Cousine des Vetters ist eine »stattliche Dame« (II, 42), die eine lila Hutschleife trägt. Die – aus Sicht des Erzählers – respektgebietende Person würde einer Beziehung zwischen Susanne und dem Erzähler durchaus zustimmen, wie an ihrer ›feierlichen‹ Reaktion darauf deutlich wird, dass sie die Umarmung der beiden beobachtet. Im Gegensatz zum Erzähler wird die Frau Geheimrätin vom Fischer, der sie, Susanne und den Erzähler zur Hallig übersetzt, »wie in mitleidiger Verachtung« (II, 43) gemustert.

Ich

In der Erzählgegenwart geht der Erzähler an einem Sonntagmorgen auf einem Deich spazieren. Das »traumhafte Gefühl der Jugend« (II, 41) überkommt ihn dabei. Er erinnert sich an seine Jugendliebe Susanne, mit der er an genau diesem Strand früher schon einmal spazieren gegangen ist. Zum Zeitpunkt der eigentlichen Handlung, an die der Erzähler sich auf seinem Spaziergang erinnert, ist er »ein junger Advokat« (II, 57), der eine demokratische Einstellung hat. Die Handlung der Novelle besteht im Wesentlichen darin, dass er zusammen mit Susanne, in die er verliebt ist, und deren Mutter, der Frau Geheimrätin, zunächst auf dem Deich spazieren geht, sie im Anschluss zusammen mit dem Schiff auf eine Hallig übersetzen und dort den Vetter besuchen.

Schon auf der Überfahrt wird deutlich, dass der Erzähler und Susanne einander anziehend finden. Eine Gemeinsamkeit entdeckt der Erzähler etwa, als er der Frau Geheimrätin die Sage von Rungholt erzählt, und ihm und Susanne bewusst wird, dass sie beide gern »an Wunder« glauben (II, 44). Die Anziehungskraft wird noch deutlicher, als die beiden sich später im Garten des Hallighauses aufhalten und »in jenen träumerischen Zustand« geraten, »von dem in der Sommerstille, inmitten der webenden Natur so leicht ein junges Paar beschlichen wird« (II, 53): Die beiden fühlen sich einander ganz nahe, schweigen, wobei die Naturbeschreibung des Erzählers – Winde, die die Blumen befruchten – sexuell konnotiert ist.

Als sich die beiden kurz darauf in der Scheune des Hallighauses noch einmal treffen, meint der Erzähler schon zu erkennen, dass die aufkeimenden Gefühle auch dazu führen könnten, verletzt zu werden. Susanne kommt zu ihm und schaut ihn mit einem Blick an, in dem »etwas von dem blauen Strahl eines Edelsteins« (II, 55) ist, woraufhin sich der Erzähler fragt, ob ihm vielleicht von ihr nicht doch ein Leid geschehen könnte. Das hängt, wie am Höhepunkt der Handlung deutlich wird, vor allem mit seinen demokratischen Überzeugungen zusammen.

Der Erzähler und Susanne verlassen die Scheune und gehen allein am Strand spazieren. Susanne betrachtet Eier in einem Vogelnest, erschrickt sich, weil sie von Vögeln attackiert wird, stürmt auf den Erzähler zu und fällt ihm um den Hals. In diesem Moment ist sein Schicksal gewebt, wie der Erzähler selbst deutlich macht, indem er das Gedicht ›Das Paar‹ von C. Reinhold zitiert. Zugleich schießt dem Erzähler aber unmittelbar seine soziale Stellung und die damit verbundenen Verpflichtungen in den Sinn. Seine Karriere als Advokat ist durchaus aussichtsreich, er müsste dafür aber seinen Bart rasieren und seinen »Heckerhut« (II, 57) ablegen. Schnurrbart und Heckerhut waren in der damaligen Zeit Ausdruck einer antifeudalen, freiheitlichen und – im Sinne der Revolution von 1848 – revolutionären Einstellung. Vom Erzähler wird also letzten Endes verlangt, dass er seine demokratischen Überzeugungen aufgibt, um Karriere machen zu können – was er machen müsste, wenn er Susanne einmal heiraten will. In dem Moment, in dem das dem Erzähler bewusst wird, regt sich, trotz der innigen Umarmung Susannes, zugleich Widerstand »gegen diese Tyrannei der öffentlichen Meinung« (II, 57-58) in ihm. Der Erzähler »resigniert« (II, 58) daraufhin: Anstatt Susanne weiter zu umarmen oder zu küssen, erinnert er an den Heimweg; und die innige Umarmung deutet er ihr gegenüber nicht als Ausdruck beginnender Liebe, sondern als Reaktion darauf, dass sie sich durch die Vögel erschreckt hat. Gleichwohl sind sich die beiden jetzt näher als zuvor, denn es ist, wie der Erzähler meint, »unverkennbar«, dass sie »nun zusammen« fliegen (II, 58).

Als die beiden zurück zum Haus kommen, schickt der Vetter Susanne zu ihrer Mutter und will mit dem Erzähler alleine reden. Der Vetter und Susannes Mutter haben die Umarmung durch das Teleskop beobachtet. Bei der Vorstellung, dass Susanne und der Erzähler ein Paar werden, strahlt das Gesicht des Vetters »vor Freude« (II, 59) – auch Susannes Mutter scheint nach den Schilderungen des Vetters mit einer Beziehung durchaus einverstanden zu sein. Der Erzähler schiebt die Umarmung indes erneut auf die Vögel, was der Vetter aber nicht gelten lässt. Da der Erzähler noch einmal wiederholt, dass zwischen ihm und Susanne »wirklich nichts« (II, 60) ist, schlägt der Vetter ihm, während die Frauen mit dem Wagen zum Schiff fahren, vor, dass sie an Ostern das Haus auf der Hallig ausbauen und der Erzähler zu ihm auf die Hallig kommen kann.

Auf der Fahrt mit dem Schiff zurück zum Festland stehen Susanne und der Erzähler gemeinsam an Deck, wobei der Erzähler über Susannes und seine Gefühle nachdenkt, aber zu keinem klaren Schluss kommen kann. Er hat seither, wie er im Anschluss erläutert, die Nähe zu Susanne nie wieder gesucht. Aus diesem Tag ist ihm »keine Frucht, aber auch keine Enttäuschung« (II, 61) entstanden. Dass er seinen Hut und seinen Schnurrbart beibehalten hat, macht deutlich, dass er die mögliche Liebesbeziehung seinen demokratischen Idealen geopfert hat. Wie die Handlung einer Sage sind die Ereignisse dieses Tages für ihn »in dem sicheren Lande der Vergangenheit« (II, 61) wohlverwahrt.

Bevor der Vetter stirbt und einige Jahre nach dem Tag auf der Hallig, besucht der Erzähler den Vetter erneut. Nach dem Tod des Vetters erbt der Erzähler dessen Geige unter der Bedingung, dass er sie niemals verkaufen oder verschenken, nur vererben darf. Außerdem vermacht ihm der Vetter seine Bibliothek und seinen handschriftlichen Nachlass. Darin findet der Erzähler einige kurze Aufzeichnungen des Vetters, aus denen genauer deutlich wird, warum dieser sich damals auf die Hallig zurückgezogen hat.

Schiffer

Der Schiffer fährt den Erzähler, Susanne und deren Mutter von der Insel zum »Vetter« (II, 45). Er hat ein »wetterbraunes Gesicht« und betrachtet Susannes Mutter mit »mitleidiger Verachtung« (II, 43). Der »alten Teerjacke« (II, 44), wie der Erzähler ihn auch beschreibt, erscheinen die Sagen, die der Erzähler der Frau Geheimrätin erzählt, absurd. Rungholt gibt es in seinen Augen etwa nicht. 

Susanne

Susanne ist die Jugendliebe des Erzählers. Sie hat blonde kurze Haar, die sie in freien Locken trägt. Der Vetter ist ihr Onkel, die Frau Geheimrätin ihre Mutter. Sie »hat die Mädchenturnschule durchgemacht, und an ihren Schultern waren die unsichtbaren Flügel der Jugend« aus der Sicht des Erzählers zu sehen (II, 55). Susanne glaubt gern an Wunder und wirkt mitunter naiv. Sie ist offensichtlich in den Erzähler verliebt, wird von diesem aber zurückgewiesen.

Vetter

Der Vetter ist »ein alter trefflicher Junggeselle«, der sich bei den »schweigsamen Bewohnern« des Hallighauses auf der »öden baumlosen Insel« eingemietet hat (II, 45-46), die er selbst als »Ländchen der Freiheit« (II, 46) bezeichnet. Der »kleine schmächtige Mann mit den tiefliegenden Augen und dem vollen weißen Haupthaar« ist ein »munterer alter Herr, dem man nicht anmerkte, vor welch’ tiefer Erregung oft diese freundlichen Augen Wache hielten« (II, 46). Die Einrichtung seines Wohnzimmers zeugt von einem großen Interesse an Literatur, Kunst und Musik. Neben Bildern von Claude Lorrain und Ryusdael findet sich auch eine Büste Beethovens. Außerdem hat er eine Bibliothek, die aus »Strandgut« (II, 48) besteht, d.h. aus Büchern, die eher zufällig zu ihm gekommen sind.

Bevor der Vetter sich auf die Insel zurückzog, lebte er in einer Stadt »in seinem eigenen Hause, das dicht neben der Stadt in einem baumreichen Garten gelegen war« (II, 62), und betrieb entomologische und botanische Studien. Vor allem aber war er damals ein großer »Geigenspieler« (II, 46), weigert sich aber seither zu spielen. Allerdings ist sich der Erzähler sicher, dass die nächtliche Musik, die sein Freund Aemil einmal gehört hat, auf den Vetter zurückgeht. Der Erzähler erinnert sich daran, den Vetter früher einmal spielen gehört zu haben: Das Spiel hat ihn derart beindruckt, dass er, selbst wenn er später die größten Virtuosen hörte, in erster Linie »eine traumhafte Sehnsucht nach jenem Spiel des Vetters« verspürte (II, 46). Aus der damaligen Zeit stammt auch der schwarze Geigenkasten des Vetters, den er mit dem Hinweis, man solle die Toten ruhen lassen, als »ein Särglein« (II, 49) beschreibt. Diese Geige hat er aus dem Nachlass eines florentinischen Musikers erstanden. Im Koffer standen Verse, die der Vetter ins Deutsche übertrug und die ihm so bekannt vorkamen,  dass er meinte, sie seien von ihm. In seinen Augen ruht in der Geige eine Kraft, die ihm zu seinem hervorragenden Spiel verhalf. Insgesamt ist er über die Jahre »zu einem für Durchschnittsmenschen ziemlich seltsamen Kauz« (II, 49) geworden, setzt darum auch die Geheimrätin in »Verwunderung« (II, 49). Sie kann nicht verstehen, dass sich ein gebildeter Mann wie er zurückgezogen hat.

Für diesen Rückzug werden in der Novelle zwei getrennte Erklärungen angeboten, die aus der Sicht des Lesers allerdings zusammenhängen. Wie der Vetter dem Erzähler selbst erklärt, hat er sich durch den Staat bedrängt gefühlt und sich darum mitsamt seiner »Bibliothek« und seinen »allerlei Sammlungen in diese Meereseinsamkeit« zurückgezogen, wo er vor der »verhaßten Maschine« des Staates, d.h. dessen Bürokratie, in seinen Augen seine Ruhe hat. Der Vetter will lieber den Naturgewalten als der Willkür der Regierenden ausgesetzt sein, die ihm als »aufgeblasene Hülsen« (II, 51) und »verruchte Figuren« (II, 50) erscheinen. Damit bringt er zum Ausdruck, dass er eine Überheblichkeit, die in einer höheren sozialen Stellung gründet, ablehnt. Er stellt sich damit auch gegen die Geheimrätin, weil deren Mann eine entsprechende Position innehatte.

Nach dem Tod des Vetters erbt der Erzähler allerdings unter anderem die handschriftlichen Aufzeichnungen des Vetters, die dieses Bild ergänzen helfen. Darin schildert der Vetter den Konzertabend im Haus von Evelines Eltern. Er hatte damals seit einigen Jahren die Geige nicht gespielt, offenbar, weil das Spiel in seinen Augen zu mitreißend und zu verführerisch ist. Am Abend, an dem er die Aufzeichnungen macht, nimmt er die Geige aber wieder hervor und will sie auf Bitten von Eveline auf dem Konzertabend spielen. Wie an der Einrichtung des Saals deutlich wird, wo neben den Bildern von den höchsten Beamten, die der Vater Evelines aufgehängt hat, auch Evelines Bilder von Goethe und Mozart hängen, prallen hier Kunst und Standesbewusstsein aufeinander. Es wird deutlich, dass der Vetter und Eveline ineinander verliebt sind, wobei der Vetter sie aber auch zu seiner »Muse« (II, 66) stilisiert. Da ihm eine wirklich Beziehung aussichtlos erscheint und Eveline auch »gescholten« (II, 66) wird, weist er Eveline zurück und bewahrt sich nur die idealisierte Vorstellung von ihr als Muse. Die wirkliche Liebe zu ihr wird damit auch der Kunst geopfert, was sich in der Beschreibung des Geigenkoffers als »Särglein« (II, 49) widerspiegelt.

Führt man beide Erklärungen nun ins Treffen, wird deutlich, dass der Erzähler seine ablehnende Haltung gegenüber dem Staat, der Bürokratie, dem Beamtentum und dem damit verbundenen Standesbewusstsein als Reaktion darauf entwickelt hat, dass ihm die Beziehung zwischen ihm und Eveline aufgrund eben dieses Standesbewusstseins nicht möglich erschien. Hieraus erklärt sich auch, warum das Gesicht des Vetters zunächst »vor Freude« (II, 59) strahlt, als er die Umarmung des Erzählers und Susannes beobachtet, meint er doch hier eine Überwindung der sozialen Zwänge zu sehen, die seine eigene Beziehung verhinderten. Auch seine Enttäuschung, als der Erzähler seine Gefühle verleugnet und der Vetter ihn »traurig« (II, 60) anschaut, hängt hiermit zusammen. Der Erzähler wiederholt das Verhalten des Vetters, kann sich selbst von den sozialen Normen nicht lösen. Wie dem Vetter hier deutlich wird, ist die eine gescheiterte Beziehung das Spiegelbild der anderen.