Der Tod des Tizian. Bruchstück (1892)
In den ›Blättern für die Kunst‹ (Bd. 1, 1892) erschien das Stück unter dem Pseudonym ›Loris‹. Anlässlich der Totenfeier für Arnold Böcklin schrieb Hofmannsthal 1901 eine zweite Fassung des lyrischen Einakters. Situationsbedingt veränderte er in dieser zweiten Fassung den Prolog und den Schluss. Der Untertitel lautete nun »Ein dramatisches Fragment«. Das Lexikon folgt der Erstfassung.
Prolog, Der (Ein Page)
Der Prolog, ein Page, leitet das Stück ein, indem er erzählt, wie sein Freund, der Dichter, es ihm hat zukommen lassen: Als der Dichter den Pagen dabei beobachtete, wie er sich in einen Infanten hineinträumte, der auf einem alten Gemälde abgebildet ist, signalisierte er ihm sein Verständnis und schenkte ihm sein Stück (vgl. III, 40). Das Stück gefällt dem Pagen, weil es die jugendliche Auseinandersetzung mit dem Dasein mit einer gewissen Leichtigkeit spiegelt: »Doch mir gefällt's, weil's ähnlich ist wie ich: / Vom jungen Ahnen hat es seine Farben / Und hat den Schmelz der ungelebten Dinge; / Altkluger Weisheit voll und frühen Zweifels, / Mit einer Sehnsucht doch, die fragt.« (III, 40) Innerhalb des Stücks fungiert der Page als Bote, der die Schüler über Tizians Sinneswandel auf dem Sterbebett unterrichtet: »Er sagt, er muß sie sehen… / ›Die alten, die erbärmlichen, die bleichen, / Mit seinem neuen, das er malt, vergleichen… / Sehr schwere Dinge seien ihm jetzt klar, / Es komme ihm ein unerhört Verstehen, / Daß er bis jetzt ein matter Stümper war…‹ / Soll man ihm folgen?« (III, 42)
Tizianello (Filippo Pomponio Vecellio, genannt Tizianello)
Tizians Sohn berichtet gleich zu Beginn, dass sein Vater fieberhaft, mit »einer rätselhaften Leidenschaft« (III, 42), an einem neuen Bild male, für das Lavinia, Cassandra und Lisa Modell stehen. Er interessiert sich nicht dafür, warum der Vater auf dem Sterbebett seine bisherigen ästhetischen Prämissen in Frage stellt. Er bemerkt nur einen ›guten Schimmer‹ in seinen Augen (vgl. III, 43). Im Laufe des Gesprächs zwischen den Schülern wird deutlich, dass Tizianello an Tizians bisherigen Leitideen festhält und der Lebensauffassung der anderen Schüler beipflichtet. Er formuliert deutlich den elitären Charakter einer lebensfernen, ästhetizistischen Position: »Er [Tizian] lehrte uns die Dinge sehen… / (bitter) Und das wird man da drunten nie verstehen!« (III, 49)
Giocondo
Giocondo ist im Figurenverzeichnis zwar aufgeführt, tritt aber nicht auf. Er hat den Raum des schönen Scheins in und um Tizians Villa aus Liebeskummer verlassen, wie Tizianello zu berichten weiß: »Lang vor dem Morgen / – Ihr schlieft noch – schlich er leise durch die Pforte, / Auf blasser Stirn den Kuß der Liebessorgen / Und auf den Lippen eifersüchtige Worte… « (III, 47)
Desiderio
Gemeinsam mit Batista, Tizianello, Antonio und Paris beklagt Desiderio den absehbaren Tod Tizians und kann sich ein Leben ohne den Meister nicht vorstellen: »Der Tizian sterben, der das Leben schafft / Wer hätte dann zum Leben Recht und Kraft!« (III, 41). Das Leben ist Desiderio nur sekundär über Tizians künstlerische Wahrnehmung zugänglich. Er weiß sich und die anderen Schüler in der Rolle der unproduktiven Spätlinge. Als Grundlage ihres Lebensentwurfs ist ihnen das Schöne nur geliehen, und als Quelle des eigenen künstlerischen Schaffens ist es ihnen abhanden gekommen: »Er [Tizian] aber hat die Schönheit stets gesehen, / Und jeder Augenblick war ihm Erfüllung, / Indessen wir zu schaffen nicht verstehen / Und hilflos harren müssen der Enthüllung…« (III, 51). Der Primat der Schönheit ist Desiderio allerdings nicht wie dem Meister Diktum für eine autonome Kunst, sondern er dient ihm als Beurteilungsgrundlage für das gesamte Dasein. Die profane Realität erscheint aus dieser Perspektive verachtungswürdig. Desiderios Lebensentwurf besteht in einer bewussten Lebensferne: »Siehst du die Stadt, wie sie jetzt drunten ruht? [...] In Schönheit lockend, feuchtverklärter Reinheit? / Allein in diesem Duft, dem ahnungsvollen, / Da wohnt die Häßlichkeit und die Gemeinheit, / [...] Und was die Ferne weise dir verhüllt, / Ist ekelhaft und trüb und schal erfüllt / Von Wesen, die die Schönheit nicht erkennen.« (III, 45)
Gianino
Ist 16 Jahre alt und, wie es in der Figurenliste heißt, »sehr schön«. Er nimmt im Kreis der Schüler um Tizian eine Sonderstellung ein. Er ist der einzige, der – zumindest zeitweise – unabhängig von Tizian und unabhängig von seinen Freunden lebens- und schaffensfähig erscheint und das dekadente Lebensgefühl der anderen Schüler nicht uneingeschränkt teilt. Aus Gianinos wortgewaltigem Monolog, in dem er von einem mystischen Erleben in der Nacht berichtet (vgl. III, 43-45), spricht sein Wunsch nach Teilhabe am Leben und der Gedanke, dass sein Ganzheits-Ideal in seiner eigenen, subjektiv-ästhetischen Perspektive gewahrt bleiben kann, ohne dass er damit gleichzeitig die gesamte Lebensrealität ausblenden muss. Damit zeigt er als einziger eine Überwindung der Dekadenz zumindest an.
Batista
Für Batista ist Tizian eine unumstößliche Orientierungsinstanz. Das Leben erhält für ihn nur durch Tizians Kunst seinen lebendigen, wesenhaften Charakter (vgl. III, 47f.). Batista ist ein dekadenter, unproduktiver Spätling, der keinen eigenen Kunst- und Lebensentwurf zustande bringt. Er ist sich des nahen Todes seines Meisters bewusst und sieht »Das Schlimmste« kommen: »Das Schlimmste kommt, wenn gar nichts Schlimmres mehr, / Das tote, taube, dürre Weitersein…« (III, 43).
Antonio
Ähnlich wie die anderen Tizian-Schüler hält auch Antonio sein Dasein nur als ästhetisches Phänomen für gerechtfertigt, so dass er die Vorstellung des Todes als den Einbruch des Realen in die Welt des »grenzenlosen Schönen« (III, 46) nicht aushält: »Wie fürchterlich, dies Letzte, wie unsäglich… / Der Göttliche, der Meister, lallend, kläglich…« (III, 42). Trotzdem beneidet er Gianino um sein mystisches Erlebnis: »Beneidenswerter, der das noch erlebt / Und solche Dinge in das Dunkel webt!« (III, 45) Wie Tizianello, Giocondo, Desiderio, Batista und Paris erachtet auch Antonio die Distanz zum profanen Leben als Voraussetzung ästhetischen Erlebens (vgl. III, 46)
Paris
Wie die anderen Tizian-Schüler richtet Paris das Leben ganz nach Tizians ästhetischen Prämissen ein: »Und was uns wachend Herrliches umgibt: / Hat seine große Schönheit erst empfangen, / Seit es durch seine Seele durchgegangen.« (III, 48) Mit Tizians Tod fehlt dem Leben folglich jede Grundlage (»Nein, sterben, sterben kann der Meister nicht!« III, 41). Paris formuliert mit seiner Frage »Wer will uns sagen, ob wir Künstler sind?« (III, 47) deutlich, dass die Schüler als Epigonen keinen eigenen Lebensentwurf zustande bringen und ihre autonome künstlerische Selbstpositionierung infrage steht.
Lavinia
Eine Tochter Tizians. Neugierig von den Schülern befragt, berichtet sie, wie sie, Cassandra und Lisa für das neue und letzte Bild des Meisters Modell stehen. Sie selbst stelle die Venus dar, deren betörende Schönheit sich im Teich spiegele (vgl. III, 50). Während des Malens spreche ihr Vater »mit Ruhe viel von seinem Grab. / Im bläulich bebenden schwarzgrünen Hain / Am weißen Strand will er begraben sein: / Wo dichtverschlungen viele Pflanzen stehen, / Gedankenlos im Werden und Vergehen, / Und alle Dinge auf sich selbst vergessen«. (III, 51)
Cassandra
Cassandra steht gemeinsam mit Lavinia und Lisa Modell für Tizians letztes Gemälde. Mit wenigen Worten beschreibt sie ihre natürlich-leidenschaftliche Pose auf Tizians Bild: Sie steht barfüßig auf dem kühlen, weichen Rasen, lacht »verstohlen«, von »vielen Küssen feucht das offne Haar.« (III, 50)
Lisa
Lisa, die neben Cassandra und Lavinia für Tizians letztes Gemälde Modell steht, muss dabei, wie sie den Schülern erzählt, eine verhüllte Puppe »wie ein Kind« im Arm halten, die »der große Pan« sei. Um sich herum fühle sie »rätselhaftes Weben, / Und mich verwirrt der laue Abendwind.« (III, 50)
Tizian
Die titelgebende Figur tritt im Stück nicht auf und ist auch nicht im Figurenverzeichnis aufgeführt. Der Maler ist nur mittelbar durch Fremdcharakterisierungen und Botenberichte präsent, bildet aber den Gesprächsfokus des Stücks. Er ist für seine Schüler eine übermächtige Orientierungsinstanz. Den Tod vor Augen, stellt er die Prämissen seines bisherigen Schaffens infrage und arbeitet fieberhaft an einem letzten Bild, vor dem nach seiner Überzeugung seine älteren Arbeiten nicht mehr bestehen können. In diesem Bild, für das Cassandra, Lisa und seine Tochter Lavinia ihm Modell stehen, erscheint das Leben einerseits in unmittelbarer, sinnlich erfahrbarer Intensität – in der kaum fassbaren Schönheit der Göttin Venus (Lavinia) und in der natürlichen Leidenschaft einer Liebenden (Cassandra) – und andererseits in der Allegorie des ›großen Pan‹, dem verhüllten Kind, das Lisa im Arm hält. Nachdem zunächst der Page von Tizians scheinbar plötzlichem Sinneswandel auf dem Sterbebett berichtet hat, gibt Gianino zu erkennen, dass sich die Veränderung des Meisters schon früher angebahnt hatte: »Er sprach schon früher, was ich nicht verstand, / Gebietend ausgestreckt die blasse Hand… / Dann sah er uns mit großen Augen an / Und schrie laut auf: ›Es lebt der große Pan.‹« (III, 42) Die Schüler charakterisieren ihren Meister allerdings weiterhin so, wie sie ihn bisher kannten: als Künstler, für den die Distanz zum Leben unbedingte Voraussetzung seiner Kunst ist.
Eine mögliche Vorlage Hofmannsthals für Tizians ›letztes Bild‹ hat Peter Szondi in dem früher Tizian selbst, später der Tizian-Schule zugeschriebenen Gemälde »Die Einweihung einer Bacchantin« (»Venus und die Bacchantin«) vermutet (Peter Szondi: Das letzte Bild, in: Insel-Almanach auf das Jahr 1965. Frankfurt a. M. 1964, S. 56 f.; wiederabgedruckt in: P. S., Lektüren und Lektionen. Frankfurt a. M. 1973, S. 121 f.). Eine online zugängliche Abbildung findet sich im Internet Archive (aus Richard Muther: Geschichte der Malerei. Band I. 4. Aufl. Berlin 1922, S. 435).