Tizian
Die titelgebende Figur tritt im Stück nicht auf und ist auch nicht im Figurenverzeichnis aufgeführt. Der Maler ist nur mittelbar durch Fremdcharakterisierungen und Botenberichte präsent, bildet aber den Gesprächsfokus des Stücks. Er ist für seine Schüler eine übermächtige Orientierungsinstanz. Den Tod vor Augen, stellt er die Prämissen seines bisherigen Schaffens infrage und arbeitet fieberhaft an einem letzten Bild, vor dem nach seiner Überzeugung seine älteren Arbeiten nicht mehr bestehen können. In diesem Bild, für das Cassandra, Lisa und seine Tochter Lavinia ihm Modell stehen, erscheint das Leben einerseits in unmittelbarer, sinnlich erfahrbarer Intensität – in der kaum fassbaren Schönheit der Göttin Venus (Lavinia) und in der natürlichen Leidenschaft einer Liebenden (Cassandra) – und andererseits in der Allegorie des ›großen Pan‹, dem verhüllten Kind, das Lisa im Arm hält. Nachdem zunächst der Page von Tizians scheinbar plötzlichem Sinneswandel auf dem Sterbebett berichtet hat, gibt Gianino zu erkennen, dass sich die Veränderung des Meisters schon früher angebahnt hatte: »Er sprach schon früher, was ich nicht verstand, / Gebietend ausgestreckt die blasse Hand… / Dann sah er uns mit großen Augen an / Und schrie laut auf: ›Es lebt der große Pan.‹« (III, 42) Die Schüler charakterisieren ihren Meister allerdings weiterhin so, wie sie ihn bisher kannten: als Künstler, für den die Distanz zum Leben unbedingte Voraussetzung seiner Kunst ist.
Eine mögliche Vorlage Hofmannsthals für Tizians ›letztes Bild‹ hat Peter Szondi in dem früher Tizian selbst, später der Tizian-Schule zugeschriebenen Gemälde »Die Einweihung einer Bacchantin« (»Venus und die Bacchantin«) vermutet (Peter Szondi: Das letzte Bild, in: Insel-Almanach auf das Jahr 1965. Frankfurt a. M. 1964, S. 56 f.; wiederabgedruckt in: P. S., Lektüren und Lektionen. Frankfurt a. M. 1973, S. 121 f.). Eine online zugängliche Abbildung findet sich im Internet Archive (aus Richard Muther: Geschichte der Malerei. Band I. 4. Aufl. Berlin 1922, S. 435).