Nathan
Der reiche Kaufmann, den man im Volk den »Weisen« nennt (I, 6; LM III, 36), kommt von einer Handelsreise heim und erfährt, dass es in seinem Haus gebrannt hat und seine Tochter Recha um ein Haar umgekommen wäre, wenn ein junger Tempelherr sie nicht in letzter Minute aus den Flammen gerettet hätte.
Nathan bringt zunächst Recha, die glaubt, von einem Engel gerettet worden zu sein, zur Vernunft (I, 2) und stattet dann dem Tempelherrn seinen Dank ab (II, 5). Dabei beschämt er den von starken antijüdischen Ressentiments beherrschten Tempelherrn, indem er ihm die Vorurteilshaftigkeit seines Denkens vor Augen führt: »Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, / Als Mensch? Ah! Wenn ich einen mehr in Euch / Gefunden hätte, dem es gnügt, ein Mensch / Zu heißen!« (II, 5; LM III, 63). Beide werden Freunde, und der Tempelherr weigert sich nicht länger, den Dank des ›Judenmädchens‹ anzunehmen. Der (vermeintliche) Name des Tempelherrn, Curd von Stauffen, gibt Nathan ebenso zu denken wie seine äußere Erscheinung und Stimme, die ihn stark an seinen vor vielen Jahren verstorbenen Freund Wolf von Filneck erinnern (II, 7; LM III, 66 f.). Schon hier ahnt er, dass Recha und der Tempelherr verwandt sein könnten.
Bevor er diesen Ahnungen nachgehen kann, wird er zum Sultan gerufen, der dringend Geld braucht und, weil er vom Derwisch Al-Hafi gehört hat, dass Nathan nicht borgt (II, 2; LM III, 51 f.), ihn mit einer von Sittah erdachten List (III, 4) dazu bringen will, ihm Geld zu leihen: Er stellt ihm die Frage, welche von den drei Religionen – Islam, Judentum, Christentum – die wahre sei (III, 5; LM III, 87 f.). Nathan antwortet ihm nach kurzer Überlegung mit einem »Mährchen«, der berühmten Ringparabel (III, 7; LM III, 90-95), mit der er die drei Religionen als Erbe ein und desselben Gottes postuliert, das alle drei gleichermaßen zu Humanität und Toleranz verpflichtet: »Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurtheilen freyen Liebe nach! / Es strebe von euch jeder um die Wette, / Die Kraft des Steins in seinem Ring' an Tag / Zu legen!« (III, 7; LM III, 94 f.). Der tief beeindruckte Saladin vergisst sein ursprüngliches Vorhaben und bittet Nathan um seine Freundschaft. Als Nathan ihm sein Geld von sich aus anbietet, gesteht Saladin ihm seine ursprünglichen Absichten.
Unterdessen ist der Tempelherr mit Recha zusammengetroffen, hat sich sogleich in sie verliebt (III, 2; III, 8) und hält nun bei Nathan um ihre Hand an. Doch Nathan antwortet ihm hinhaltend. Er will zuerst näheren Aufschluss über die Herkunft des Tempelherrn gewinnen (III,9).
Den bekommt er durch den Klosterbruder (IV, 7). Zunächst jedoch ist es der Zuschauer, der hier Aufschluss darüber bekommt, was es mit seinem Verhältnis zu Recha und mit Dajas Anspielungen auf sich hat, die darauf hindeuten, dass er nicht Rechas Vater ist (I, 1): Tatsächlich ist sie nicht seine leibliche Tochter, sondern ein Kind seines Freundes Wolf von Filneck und dessen Frau, einer Schwester des Conrad von Stauffen (den der Tempelherr für seinen Vater hält bzw. ausgibt). Wolf von Filneck hatte vor 18 Jahren das nur wenige Wochen alte Kind nach dem Tod seiner Mutter von einem Reitknecht zu Nathan bringen lassen und war bald darauf bei Askalon gefallen. Nathan selbst hatte wenige Tage zuvor seine Frau und sieben Söhne bei einem von Christen begangenen Judenpogrom verloren. Dennoch hatte er keinen Moment gezögert, die Tochter eines (vermeintlichen) Christen an Kindes Statt anzunehmen und liebevoll aufzuziehen (IV, 7; LM III, 138 f.).
Der Klosterbruder, der sich als eben jener Reitknecht zu erkennen gibt, der Nathan das Kind einst brachte, hat ein Gebetbüchlein seines Herrn aufbewahrt, auf dessen Vorsatzblättern Wolf von Filneck seinen und seiner Frau Stammbäume verzeichnet hat (IV, 7; LM III, 141; V, 4; LM III, 150). Dieses Büchlein bringt schließlich Gewissheit und bestätigt Nathans Ahnungen: Auch der Tempelherr ist ein Kind seines Freundes und also Rechas Bruder, sein vermeintlicher Vater Conrad von Stauffen ist sein Onkel. Davon erfahren die Zuschauer freilich erst mit diesen beiden am Ende des Stücks (V, 8), das auch die letzte Überraschung an den Tag bringt: Wolf von Filneck war kein Christ, sondern ein Muslim und niemand anderes als Assad, der schmerzlich vermisste Bruder des Sultans Saladin, der die brüderliche Handschrift in dem Gebetbüchlein sofort erkennt (V, 8; LM III, 176).
Von den Verwicklungen, die diesem glücklichen Ende vorausgehen und die der gekränkte Tempelherr, angestiftet durch Dajas Verrat (III, 10), herbeiführt, bekommt Nathan nur am Rande Kenntnis (IV, 7; LM III, 135; V, 4; LM III, 150; V, 5; LM III, 153 f.). Sein Part ist es, die christlich-muslimische »Familie« glücklich zu vereinen, mit der ihn selbst freilich keine Blutsbande, sondern nur die ›von Vorurtheilen freye Liebe‹ verbindet, die seine Ringparabel fordert (und die keiner Blutsverwandtschaft bedarf).