Mut-em-enet (Eni, Enti, ›Mut im Wüstental‹)

Nach Überzeugung des Erzählers wird »Potiphars Weib« in der biblischen Überlieferung (Genesis 39) Opfer einer »abkürzenden Kargheit«, die der »bitteren Minuziosität des Lebens« nicht gerecht wird (V, 1004). Das Bild »lüsterner Hemmungslosigkeit und schamentblößten Verführertums«, das die Überlieferung von Peteprês Gemahlin zeichne, sei ein »Trugbild«, mit dessen Richtigstellung er, der Erzähler, sich »ein wahres Verdienst um den Urtext« zu erwerben glaube (V, 1005). Er sei bereit, für sie die Hand ins Feuer zu legen und »für die Untadeligkeit ihres Wandels bis zu einem gewissen Zeitpunkt, wo dieser Wandel allerdings durch Göttergewalt in ein mänadenhaftes Straucheln geriet, unser ganzes Erzähleransehen aufs Spiel zu setzen« (V, 1012).

Schon die Herkunft Mut-em-enets, »familiär Eni oder auch Enti geheißen«, sei »nicht adelig genug zu denken« (V, 1006). Sie entstamme »altem gaufürstlichen Geblüt« (V, 1007), das sich »in gerader Linie« auf den Gaufürsten Teti-'an zurückführen lasse (V, 1008), einen Rebellen, der sich der Befreiung Ägyptens von der Fremdherrschaft der Hyksos durch den späteren Pharao Achmose entgegengestellt hatte (vgl. V, 1007 f.). Die Familie verlor damals (wie die meisten Gaufürsten) ihre Besitzungen und wurde mit hohen Staatsämtern an den Hof gebunden. Auch Mut-em-enets Vater, Mai-Sachme, hat ein hohes Amt inne, er ist Stadtfürst von Theben-West, der Totenstadt (V, 1008).

Bereits als Kind wurde Mut-em-enet Peteprê zur Ehe versprochen. Die »liebevoll-lebenswidrige Verfügung« der Eltern (V, 1009) verschafft ihr zwar eine hohe gesellschaftliche Stellung und einen prominenten Platz in dem vornehmen »Hathoren-Orden« (vgl. V, 945 f.). Aber durch die Ehe mit einem Kastraten steht sie nach Überzeugung des Erzählers »ebenso außerhalb des Weiblich-Menschlichen« wie Peteprê »außerhalb des Männlich-Menschlichen« und führt »innerhalb ihres Geschlechts ein ebenso hohles und fleischlich-ehrloses Dasein wie er in dem seinen«. Die »Gottesehre« soll ihr »das dunkle Wissen« um den Verlust ihrer »Fleischesehre« ausgleichen helfen, ist freilich ein »geistig-gebrechliches Ding« (V, 1087). Der Dienst im »Hathoren-Orden« hilft zwar, »die Weltkälte der großen Dame zu erhöhen und ihr das Herz leer zu halten von weicheren Träumen«, weil (und solange) sie die »Titelhaftigkeit ihrer Ehe« in einem direkten Zusammenhang mit ihrer priesterlichen Funktion als »Haremsfrau Amuns« und sich selbst »im Lichte der Gotteskeuschheit und Aufgespartheit« sieht (V, 1015 f.). Aber dieses »Werk ihres Gedankenwillens« (V, 1016) wird sichtbar dementiert durch den eigentümlichen Gegensatz zwischen ihren streng und finster blickenden Augen und ihrem in den Winkeln vertieften Schlängelmund (vgl. 916, 1009 f. u.ö.), der die »Veruneinigung« von Geist und Körper spiegelt und sich im Laufe ihrer Jahre als »Mondnonne« vertieft (V, 1009). Dass ihr Körper, der »anerkannt trefflichste Frauenleib weit und breit«, seinem »Wesensausdruck« nach »mit dem Munde mehr übereinstimmte als mit dem Auge«, wird vermerkt (V, 1009 f.).

Mut-em-enets Liebe zu dem schönen »Fremdsklaven« Joseph (V, 950) erwacht am Ende des siebenten Jahres von Josephs (zehnjährigem) Aufenthalt in Potiphars Haus. Der missgünstige Dûdu lenkt ihre Aufmerksamkeit auf den »Chabirengauch« (V, 949), um sich ihrer Hilfe bei der Degradierung des beneideten Günstlings zu versichern. Als er ihre Schwäche für den Jüngling – früher als sie selbst (vgl. V, 1064) – bemerkt, ändert er seine Strategie und befeuert ihre Leidenschaft nach Kräften (vgl. V, 981). Die Geschichte dieser Leidenschaft wird als eine drei Jahre währende Leidensgeschichte erzählt, in deren Verlauf die Heldin sukzessive ihren Stolz und ihre Würde verliert. »Drei Jahre: Im ersten suchte sie, ihm ihre Liebe zu verhehlen, im zweiten gab sie sie ihm zu erkennen, im dritten trug sie sie ihm an.« (V, 1091)

Am Anfang steht ein beziehungsreicher Traum, der ihr über ihren Zustand die Augen öffnet (vgl. V, 1023-1025) und zunächst ihre Vernunft mobilisiert: Sie bittet Peteprê, Joseph fortzuschicken (vgl. V, 1025-1063). Freilich weiß sie »insgeheim«, dass er ablehnen wird, weshalb ihr »ehrliches Ringen mit dem Gemahl« als eine »Veranstaltung« kenntlich wird, mit der sie »ihrer Leidenschaft und allem ihr eingeborenen Verhängnis« eine durch seine Ablehnung legitimierte Freiheit verschafft (V, 1093). Unter dem Vorwand, wirtschaftliche Angelegenheiten des Hauses besprechen zu wollen, bestellt sie Joseph wiederholt zu sich, so dass er schon bald regelmäßig bei ihr ein und aus geht. Das so immer neu entfachte Liebesverlangen beherrscht ihre Tage und Nächte, aber noch vertraut sie es niemandem an, sondern macht ihrer Not in nächtlichen Stoßgebeten und stammelnden Versen Luft (vgl. V, 1113-1115). Im zweiten Jahr aber »lockerte sich etwas in der Seele Mut-em-enets und gab nach«, so dass sie nicht nur Joseph ihre Liebe zu erkennen gibt, sondern auch beginnt, zwei Frauen ihrer Umgebung, Meh-en-Wesecht und Tabubu, »in ihre Ergriffenheit geständnisweise einzuweihen« (V, 1116).

Im dritten Jahr schließlich spricht sie ihr Liebesverlangen offen aus, nachdem sie sich in der Nacht zuvor in die Zunge gebissen hat und dem Schönen lispelnd zuflüstert: »Slafe bei mir!« (V, 1164). Auch beginnt sie nun, »alle Welt in ihre Leidenschaft einzuweihen« (V, 1208). Die legendäre »Damengesellschaft«, bei der sich ihre Freundinnen vom Hathoren-Orden bei Josephs Anblick samt und sonders selbstvergessen mit den (eigens für diesen Zweck extra scharf geschliffenen) Obstmesserchen schneiden, so dass es ihnen ergeht wie Mut selbst in ihrem »augenöffnende[n] Traum« drei Jahre zuvor (V, 1210), mündet in das unverhohlene Geständnis ihres Liebesleids (vgl. V, 1208-1227). Die Weigerung des schönen Sklaven, seiner Herrin ›das Blut zu stillen‹ wie in jenem Traum, ruft sogar Beknechons auf den Plan. Er erklärt ihr, dass sie aller moralischen Fragwürdigkeit ihres Begehrens zum Trotz, allein um Amuns Ehre willen, »alles, auch das Äußerste« aufzubieten habe, um »den Störrigen zur Unterwerfung zu bringen«, ja, er fasst gar Zwangsmaßnahmen seitens des Tempels ins Auge (V, 1226). Mut-em-enet ist tief genug gesunken, um sich durch diese »höhere Ermächtigung zum Fehltritt« gestärkt zu fühlen und um selbst »an dem Gedanken tempelpolizeilicher Vorführung des heiß Begehrten ein gewisses verzweifeltes und verzerrtes Gefallen« zu finden: »Ja, sie war reif, mit Tabubu zu zaubern.« (ebd.) Mit ihrer Einwilligung in den unterweltlichen Liebeszauber der Kuschitin, den sie im Jahr zuvor noch stolz zurückgewiesen hatte, gibt die Geplagte schließlich vollends ihre Gesittung und Würde preis (vgl. V, 1227-1238).

Wenig später, am Neujahrstag, kommt das Liebesdrama zu seinem Höhepunkt: Joseph entzieht sich dem Werben der Herrin mit knapper Not, worauf sie ihn bei Peteprê der versuchten Vergewaltigung anklagt. Joseph tritt seine zweite Fahrt in die Grube an, der böse Zwischenträger Dûdu bekommt seine Strafe und Mut-em-enet kehrt »notgedrungen und für immer zu der Lebensform zurück, die ihr bis zu ihrer Heimsuchung die natürliche und einzig bekannte gewesen war« (V, 1496), wird wieder zur »kühle[n] Mond-Nonne mit keusch zurückgebildeter Brust […], unnahbar elegant und – so muß man hinzufügen – außerordentlich bigott« (V, 1497). »Und doch ruhte auf dem Grunde ihrer Seele ein Schatz, auf den sie heimlich stolzer war als auf alle ihre geistlichen und weltlichen Ehren, und den sie, ob sie sich's eingestand oder nicht, für nichts in der Welt dahingegeben hätte« (ebd.).

Dass Joseph und Mut-em-enet einander nie wiedergesehen haben, hält der Erzähler für ausgemacht (V, 1493). Die Fortsetzung ihrer Geschichte, »ein reichlich verzuckerter Roman mit glücklichem Ausgang« (V, 1494), den das Volk und »ihm zu Gefallen die Dichter« ausgesonnen haben, sei nichts als »Moschus und persisches Rosenwasser« (V, 1495).

Mut-em-enets liebestrunkene Stoßgebete und Verse (V, 1113-1115) entstammen Gedichtentwürfen Thomas Manns aus der Zeit seiner Liebe zu Paul Ehrenberg (vgl. Notizbücher II, 44 und 46). – Das Kapitel »Damengesellschaft« stützt sich, worauf der Erzähler selbst hinweist (V, 1209), auf die Josephsgeschichte des Koran (Sure 12, 31) und deren poetische Bearbeitungen in den »Yusuf und Suleika«-Epen der persischen Dichter Firdusi (Firdausi) vom Anfang  des 11. Jahrhunderts (Zuschreibung unsicher) und Dschami (Jami) von 1483. Auf Dschamis Epos (oder seine zahlreichen persischen und osmanisch-türkischen Nachahmungen) bezieht sich auch die Rede von dem »verzuckerte[n] Roman«, der die Geschichte von »Jussuf« und »Suleicha« als zuletzt glücklich endende Liebesgeschichte erzählt (V, 1494).

Mit der Rückführung der Familie Mut-em-enets auf den Gaufürsten Teti-'an, der sich nach Erman/Ranke (115) gegen Ahmose I., den Befreier Ägyptens von der Fremdherrschaft der Hyksos und Begründer der 18. Dynastie, aufgelehnt hatte, verankert TM die Figur in der ägyptischen Geschichte; dabei stützt er sich neben Erman/Ranke auch auf Breasted (152-155).

Die Abbildungen dürften bei der Beschreibung der »Damengesellschaft« Pate gestanden haben: Abb. 1: Musikantinnen aus dem Grab des Nacht. - Abb. 2: Damengesellschaft aus dem Grab des Nacht.

Letzte Änderung: 18.07.2015  |  Seitenanfang / Lexikon   |  pfeil Zurück