Reisende, Der

Der Reisende hat den Baron am Abend zuvor bei einem Überfall gerettet. Auf Einladung des dankbaren Barons hat er die Nacht auf dessen Landgut verbracht und will gleich am Morgen weiterreisen, weil er überzeugt ist, dass eine gute Tat »den Namen einer Wohlthat (verlieret), sobald wir die geringste Erkenntlichkeit dafür zu erwarten scheinen« (4. Auftritt; LM I, 382). Erst die inständige Bitte des Barons zu bleiben bewegt ihn dazu, die Abreise um einen Tag zu verschieben (8. Auftritt; LM I, 388).

Fast wider Willen überführt er Martin Krumm der Mittäterschaft am Überfall. Aus Dankbarkeit will ihm der Baron die Hand seiner Tochter geben, doch der Reisende, der die judenfeindliche Einstellung des Barons kennt (vgl. 6. Auftritt), lehnt ab und gibt sich als Jude zu erkennen. Auch das Vermögen, das der Baron ihm ersatzweise anbietet, lehnt er ab: Zum Dank für seine Hilfe wünsche er sich »nichts, als daß Sie künftig von meinem Volke etwas gelinder und weniger allgemein urtheilen« (22. Auftritt; LM I, 410). Er habe ihm sein Judentum bis dahin nicht etwa deshalb verborgen, weil er sich seiner Religion schämte, sondern weil er gesehen habe, dass der Baron »Neigung zu mir, und Abneigung gegen meine Nation« habe, ihm selbst aber die Freundschaft eines Menschen, »er sey wer er wolle«, immer »unschätzbar« gewesen sei (ebd.). Der Baron ist beschämt.

Der Reisende ist das wandelnde Dementi der antisemitischen Vorurteile, die im Stück geäußert werden. Er ist vermögend, aber nicht »auf den Gewinnst […] erpicht«, wie der Baron Juden unterstellt (6. Auftritt; LM I, 386) und der Reisende selbst widerlegt, indem er das Vermögen des Barons ausschlägt. Seine »aufrichtige, großmüthige und gefällige Miene« führt die Gewissheit des Barons ad absurdum, Juden an ihrer (Tücke und Eigennutz verratenden) »Gesichtsbildung« erkennen zu können (ebd.). Der Überzeugung des Barons, dass Juden »die allerboshaftesten, niederträchtigsten Leute« seien (ebd.), widerspricht das hochsensible Moralgefühl des Reisenden, dem selbst seine Entscheidung, seinem Gastgeber den falschen Judenbart des Martin Krumm zu zeigen, Gewissensbisse macht, weil er fürchtet, einen Unschuldigen falschen Verdächtigungen auszusetzen (18./ 19. Auftritt).

Das Bemühen um Vorurteilslosigkeit, das er damit an den Tag legt, kontrastiert mit der Vorurteilshaftigkeit des Barons und repräsentiert damit zugleich die kritische Norm des Stücks, die auszusprechen ihm denn auch vorbehalten ist: »ich bin kein Freund allgemeiner Urtheile über ganze Völker […] – Ich sollte glauben, daß es unter allen Nationen gute und böse Seelen geben könne« (6. Auftritt; LM I, 386).

Dass er ein aufgeklärter Geist ist, macht auch seine Reisebibliothek deutlich, die augenscheinlich mit zeitgenössischer (schöner) Literatur bestückt ist (10. Auftritt), ebenso seine Sympathie mit der unverbildeten und eben darum vorurteilsfreien Tochter des Barons (6. Auftritt).