Vorwort

Nach Gellerts Tod erschien 1770 ein Gedicht, das seinen Einfluß als literarischer Volkserzieher, besonders auf die Frauen, preist (zitiert nach Wolfgang Martens, Lektüre bei Gellert, in: Festschrift für Richard Alewyn. Hrsg. von Herbert Singer und Benno von Wiese, Köln 1967, S. 133):

»Daß die Schwäbin (lobenswürdige Bemühung)
ihre Seelenkraft versucht und denkt,
sich trotz Vorurteil und sclavischer Erziehung
über Kunkel und Tarokspiel schwingt;
dass sie Klopstock liest, kein Robinson mehr reitzet,
ohne Neid der Freundin Vorzug ehrt;
mehr um Seelen-Schönheit als um Schmincke geitzet,
hast du, groser Gellert, uns gelehrt«

Der sehr junge Goethe studierte seit 1765 Poesie und Philosophie bei Gellert in Leipzig, er bemühte sich zwar zu lernen, konnte aber mit den Korrekturen des Professors wenig anfangen. Im sechsten Buch von »Dichtung und Wahrheit« hat er das beschrieben.

Zugleich mit dem ersten Teil des Romans »Leben der schwedischen Gräfin von G***« erschien 1747 Gellerts Komödie »Die zärtlichen Schwestern«, da geht es, nach französischen Vorbildern, in familiärer Sprache um Liebe, Ehe und Geld. Für seinen einzigen Roman hatte der Leipziger Dozent (bald Professor) der Poesie, Rhetorik und Moral andere Muster. Die oft durchaus praktisch gesinnten ›Moralischen Wochenschriften‹ hatten auch bei Deutschlands Lesepublikum den Boden für moralische Romane bereitet. Gellerts unmittelbarer Vorgänger war Samuel Richardson mit seinem Roman »Pamela or Virtue Rewarded« (1740). Allerdings ist die weibliche Tugend bei dem puritanischen Richardson vor allem Keuschheit – ein Aspekt, der Gellert nicht sonderlich interessiert. Bürgerlichen Werten entsprechend empfiehlt Gellert eine umfassende Bildung von Frauen, die dabei aber keinesfalls gelehrt werden sollen. Gelehrsamkeit gilt jetzt, anders als in der vorangegangenen Epoche, als unerwünschte Einseitigkeit, auch bei Männern (»Pedanten«).

In der Handlung reiht der Autor emotionale Situationen: Liebe, Tod, Trennung, Entdeckung von Geschwisterliebe oder Doppelehe, Wiederfinden Totgeglaubter. In pathetisch-leidenschaftlichen oder empfindsamen Reden und Dialogen kommen die Affekte zum Ausdruck, denen die Tugendhaften dann eine vernünftige Gelassenheit abringen. Schuldlos schuldig zu werden ist das Schicksal sowohl der Gräfin als auch eines Geschwisterpaars, das die Ehe eingeht.

Die namenlose Schwedische Gräfin ist ein Exempel der Vernunft und natürlichen Tugend, kein Individuum, ebenso wenig sind das die anderen Figuren: es kommt nur darauf an, dass sie sich in – oft abenteuerlichen – Situationen bewähren oder aber scheitern, um ein warnendes Exempel zu geben.

Geld ist ein häufiges, aber nicht zentrales Motiv in dem Roman. Man hat es reichlich, es geht auch mal verloren (bei Amalie und Andreas), kommt aber in anderer Form wieder. Geld und Gold wird erheiratet (Gräfin), erworben (Andreas, Vater Steeley), geschenkt (vom Juden an R.s Tochter, von Amalie an Steeley), geerbt (Steeley). Arm bleiben die guten Menschen nie.

Der gesamte erste Teil wird in Ich-Form von der schwedischen Gräfin erzählt, unterbrochen von einigen Liebes- und Abschiedsbriefen. Der zweite Teil (S. 68-94) beginnt mit Briefen, die der Graf in Gefangenschaft schrieb, ergänzt durch einen Bericht der Gräfin nach einem dieser Briefe, mit dem Grafen als Ich-Sprecher. Von S.107 bis 153 hat wieder die Gräfin als Erzählerin das Wort, es gibt aber auch viele Reden und Dialoge der anderen Figuren.

Der Roman erschien 1747 unter dem Titel »Leben der schwedischen Gräfin von G*** Von G.«. Romane wurden in dieser Zeit häufig anonym veröffentlicht. Eine kritische Ausgabe besorgte Bernd Witte (Christian F. Gellert: Gesammelte Schriften. Band IV: Roman. Briefsteller. Berlin/New York: de Gruyter 1989). Zitate folgen hier jedoch der von Jörg-Ulrich Fechner herausgegebenen Reclam-Ausgabe des zweiten Drucks von 1750 (Stuttgart 1986. Reclams UB 8536). Einige weiterführende Literaturhinweise finden sich am Ende dieser Seite.

Saarbrücken, 10. Januar 2011                Eva D. Becker

Literaturhinweise

Fechner, Jörg-Ulrich: Nachwort zur Reclam-Ausgabe Stuttgart 1986 (RUB 8536).

Meyer-Krentler, Eckhardt: Der andere Roman. Göppingen 1974.

Witte, Bernd: Die andere Gesellschaft. Der Ursprung des bürgerlichen Romans in Gellerts »Leben der Schwedischen Gräfin von G***«. In: Bernd Witte (Hrsg.): »Ein Lehrer der ganzen Nation«. Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts. München 1990. S. 66-85.

Witte, Bernd: Christian Fürchtegott Gellert. Schriftsteller und Universitätslehrer in Sachsens goldenem Zeitalter. In: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Heft 4 (2010), S. 30-49. Vgl. auch die Online-Ausgabe