Strauch, Maler

Der Maler Strauch hat sich in das Gebirgsdorf Weng zurückgezogen und logiert dort im Gasthaus der Wirtin. Sein um ein Jahr älterer Bruder, der Chirurg Strauch, der ihn seit zwanzig Jahren nicht gesehen hat (2. Tag, 12), schickt seinen Famulanten nach Weng mit dem Auftrag, ihn zu beobachten. Der Auftrag lautet wörtlich: »Beschreibung seiner Verhaltensweisen, seines Tagesablaufs; Auskunft über seine Ansichten, Absichten, Äußerungen, Urteile. Ein Bericht über seinen Gang. Über seine Art, zu gestikulieren, aufzubrausen, ›Menschen abzuwehren‹. Über die Handhabung seines Stockes. ›Beobachten Sie die Funktion des Stockes in der Hand meines Bruders, beobachten Sie sie genauestens.‹« (2. Tag, 12) Die Aufzeichnungen des Famulanten über seine täglichen Begegnungen mit dem Maler konstituieren den Roman. Abgesehen von (fremdcharakterisierenden) Aussagen anderer Figuren über den Maler sowie von dessen eigenen (selbstcharakterisierenden) Reden wird die Figur also ganz aus der Perspektive des Famulanten präsentiert. Umgekehrt beruhen die Charakterisierungen einer ganzen Reihe von anderen Figuren, die der Famulant nur oberflächlich oder gar nicht kennenlernt, auf Aussagen des Malers.

Der Maler ist, wie der Famulant feststellt, kleiner als sein Bruder (14. Tag, 152), hat dünne Beine (6. Tag, 48), trägt einen großen schwarzen Hut und einen Spazierstock, mit dem er oft herumfuchtelt (2. Tag, 13; ebd. 14). An Fuß, Gesicht und Nacken bemerkt der Famulant »weibliche Hautpartien«, die ihm »kränklich« erscheinen: »Stellen der Auflösung. […] An die Oberflächenstruktur überreifer, auf vergessenen Feldern liegende Kürbisse erinnerte mich seine Haut. Das ist schon Verwesung.« (7. Tag, 53) Tatsächlich klagt er oft über Schmerzen, insbesondere Kopfschmerzen, und entwickelt wunderliche Theorien über deren Herkunft und Bedeutung (7. Tag, 51-53; 9. Tag, 93). So bestünde bekannterweise zwischen seinen Fuß- und Kopfschmerzen eine Verbindung, »[w]enn auch noch so geheim« (7. Tag, 51). Für den Maler liegt das »Zentrum des Schmerzes […] im Zentrum der Natur«, die selbst zwar mehrere Zentren habe, deren Mittelpunkt aber der Schmerz sei (6. Tag, 44).

Er wandert viel in der Umgebung und liest außer Zeitungen ausschließlich in den »Pensées« von Pascal, die er immer bei sich trägt. Die Bezeichnung ›Maler‹ weist er zurück, er sei »höchstens ein Anstreicher gewesen« (3. Tag, 16). Die Malerei hat er aufgegeben, sie hatte in seinen Augen keinen Wert, seine Bilder, die er »nur in völlig abgedunkelten Räumen« malen konnte (13. Tag, 139), hat er ausnahmslos verbrannt (5. Tag, 35). Einziges Überbleibsel seiner Zeit als Maler ist ein »Künstlerrock« aus rotem Samt, den er gelegentlich noch trägt, obwohl er »ein Ruin für sich« sei, weshalb er beschließt, ihn »heute« (6. Tag) zum letzten Mal getragen zu haben (44). Am 13. Tag zieht er ihn jedoch erneut an. Damit will er sich und »die Welt erschrecken«, denn in seinem »roten Rock« fühlt er sich stets »wie der größte Narr aller Zeiten«. Dies würden ihm seine Mitmenschen auch glauben (13. Tag, 143).

Der Assistent Strauch beschreibt seinen Bruder als »Gedankenmensch[en]. Aber heillos verwirrt. Verfolgt von Lastern, Scham, Ehrfurcht, Vorwürfen, Instanzen.« Er sei ein »Spaziergängertypus, also ein Mensch, der Angst hat. Rabiat. Und ein Menschenhasser« (2. Tag, 12 f.). Die Misanthropie des Malers resultiert nach eigenen Angaben daher, dass sein Vertrauen enttäuscht wurde (3. Tag, 21). In seinen Gesprächen mit dem Famulanten kreist er um die Themen Kindheit und Jugend (z. B. 5. Tag, 32; 16. Tag, 190 f.), Politik (3. Tag, 20; 24. Tag, 282 f.), Kunst/Künstler (z.B. 13. Tag, 139; 13. Tag, 140 f.) und Schmerz (z. B. 7. Tag, 51 f.). Der Staat Österreich sei ein »Hotel der Zweideutigkeit, das Bordell Europas«, zwar mit sehr guter Reputation in Übersee, aber mit einer Demokratie, die der Maler als »größte[n] Schwindel« bezeichnet (24. Tag, 282 f.). Sein idealer Staat ist der platonische (ebd.).

Er sieht sich selbst als jemanden, der zeit seines Lebens mit sich und der Welt gehadert hat: »Ich wußte nie, was anfangen. Mit dem, was auf einen zukommt, Einflüsse, Umwelt, Ich, mit dem wurde ich nicht fertig.« (5. Tag, 31) Er habe schon immer viel über das »Alleinsein« nachgedacht (5. Tag, 36), irritiert gerne seine Mitmenschen (7. Tag, 57; 9. Tag, 94) und ist enttäuscht, wenn er damit nicht die erhoffte Wirkung, wie z. B. Ekel, hervorruft (3. Tag, 25).

Für den Famulanten gehört der Maler zu den Menschen, die »alles flüssig machen. Was sie anrühren, schmilzt« (11. Tag, 117). In seinem Reden und Handeln sei der Maler widersprüchlich, da er »immer auch das Gegenteil« miteinbeziehe (8. Tag, 85). So auch bei seinem Anti-Vaterunser: »Vater unser, der du bist in der Hölle, geheiligt werde kein Name. Zukomme uns kein Reich. Kein Wille geschehe. Wie in der Hölle, als auch auf Erden. Unser tägliches Brot verwehre uns. Und vergib uns keine Schuld. Wie auch wir vergeben keinen Schuldigern. Führe uns in Versuchung und erlöse uns von keinem Übel. Amen. So geht es ja auch.« (19. Tag, 221)

Der Maler ist von einer großen Unruhe getrieben, er ist »ständig aufgeregt und irritiert« (7. Tag, 77). Seine Sprache bezeichnet der Famulant als »Herzmuskelsprache« (14. Tag, 145 f.), es fällt ihm zuerst schwer, den Maler zu verstehen und seine Worte adäquat wiederzugeben (ebd).

Obwohl er nicht gut von seinen recht früh verstorbenen Eltern spricht, glaubt der Famulant zu erkennen, dass er sie geliebt hat (3. Tag, 17). Als Kind fühlte er sich ungeliebt und stand immer im Schatten seines erfolgreicheren älteren Bruders (5. Tag, 33). Mit seiner Schwester fühlte er sich wohl etwas enger verbunden, beide halten angeblich losen Briefkontakt (ebd.). Aufgewachsen ist er jedoch nicht bei den Eltern, sondern bei seinen Großeltern, und das »ziemlich wild« (5. Tag, 32). Mit ihnen lebte er wechselnd auf dem Land und in der Großstadt, weil der Großvater ähnlich unruhig gewesen sei wie sein Enkel, den er »in Landschaften, in Gespräche, in Finsternisse hinein« mitgenommen habe (5. Tag, 33.). Auch legte der Großvater viel Wert auf Bildung, so dass der Enkel schon bei der Einschulung mehr wusste als der Lehrer (5. Tag, 32). »Herrenmenschen« seien die Großeltern gewesen, und ihr Verlust »war sein größter Verlust« (5. Tag, 33.).

Nach der Schule begann er in einem Büro zu arbeiten und besuchte dann die Kunstschule mit einem Stipendium (5. Tag, 35). Da die Malerei ihn nicht ernähren konnte, arbeitete er zeitweise als Hilfsarbeiter in einem »Schneeschauflertrupp« (8. Tag, 83) in Wien und als Hilfslehrer. Während er sehr gerne Hilfsarbeiter war, hasste er die Arbeit als Hilfslehrer, von der er dem Famulanten ausgiebig berichtet (18. Tag, 210 f.).

Der Ort Weng hat für ihn besondere Bedeutung: Im Krieg fanden er und seine Schwester dort wiederholt Zuflucht (18. Tag, 209). Nach Auskunft des Wasenmeisters war der Maler damals ein lebenslustiger junger Mann, der »immer gelacht« und »alles mitgemacht« habe, ein »großer Blutwurstesser« sei er gewesen und habe beim Trinken »mehr vertragen als viele Einheimische«. Dass er jetzt »anders sei als früher«, habe er schon bei dessen Besuch im letzten Spätherbst bemerkt (7. Tag, 50).

Der Maler »interessiert sich nur für sich« (3. Tag, 17), stellt der Famulant gleich zu Beginn fest. Auch bemerkt er früh, »daß ihn nur der Selbstmord beschäftigt« (ebd., 20). In den langen, oft eher Selbstgesprächen gleichenden Reden des Malers bei den täglichen Begegnungen erkennt er eine tiefe Verstörung, deren Ursachen und innere Zusammenhänge er (und mit ihm der Leser seiner Aufzeichnungen) letztlich nicht zu durchschauen vermag. »Der Maler ist, glaube ich, so für sich allein, daß keiner ihn jemals versteht.« (21. Tag, S. 245)

Am Ende des Romans, nach seiner Rückkehr nach Schwarzach, liest der Famulant im »Demokratischen Volksblatts«, dass der Maler verschollen ist: »Der Berufslose G. Strauch aus W. ist seit Donnerstag vergangener Woche abgängig. Wegen der herrschenden Schneefälle mußte die Suchaktion nach dem Vermißten, an welcher sich die Angehörigen der Gendarmerie beteiligten, eingestellt werden.« (27. Tag, 336)