Sampson, Sara
Die tugendhafte Tochter Sir William Sampsons ist mit ihrem Geliebten Mellefont durchgebrannt, weil ihr Vater der Verbindung seine Zustimmung verweigert hatte. Seit neun Wochen lebt sie mit Mellefont in einem »elenden Wirthshause« (I, 1; LM II, 267) und wartet sehnlich darauf, dass er sie heiratet. Ihr Heiratswunsch hat weniger gesellschaftliche als vielmehr religiöse Gründe. Von dem göttlichen Segen erhofft sie sich eine Beruhigung ihres Gewissens (I, 7; LM II, 276): »ein einziger Segen, der von einem Friedensbothen im Namen der ewigen Güte auf uns gelegt wird, kann meine zerrüttete Phantasie wieder heilen« (I, 7; LM II, 274).
Ob das zur Heilung genügen würde, möchte man bezweifeln, denn der fehlende Segen des geliebten Vaters plagt Sara nicht minder. Tag und Nacht wird sie von Schuldgefühlen überwältigt, die sie offen bis zur Redseligkeit artikuliert und mit denen sie sogar ihren Geliebten ansteckt, so dass der seinerseits kaum noch Schlaf findet (I, 3; LM II, 270).
Nachts verfolgen sie Alpträume, darunter einer, der sich am Ende als ›Wahrtraum‹ enthüllt: Darin wird sie von einer ›ihr ähnlichen Person‹ vor dem Sturz in einen Abgrund bewahrt, gleich darauf aber von dieser selben Person erdolcht, die sie anherrscht, sie habe sie nur gerettet, um sie zu verderben (I, 7; LM II, 274 f.). Später wird Sara diese Person in Mellefonts früherer Geliebten Marwood wiedererkennen, allerdings nur die Mörderin, nicht auch die Retterin (die wider Willen die Versöhnung mit dem Vater möglich machte). Und gegen ihre traumhafte Einsicht in ihre ›Ähnlichkeit‹ mit der Rivalin wird sie sich so hochmütig verwahren, dass sie damit deren maßlose Rache auf sich zieht (IV, 8).
Was es mit ihren exzentrischen, selbstzerstörerischen Schuldgefühlen auf sich hat, wird deutlich, als Waitwell ihr einen Brief ihres Vaters bringt, in dem dieser ihr seine Verzeihung und seine Bereitschaft ankündigt, Mellefont als Sohn anzuerkennen (III, 3). Sie ziert sich lange, den »grausamen Brief« anzunehmen, maßt sich an, die moralische Legitimität der väterlichen Vergebung zu beurteilen, kommt zu dem Schluss, dass sie sie ablehnen muss, um den Vater vor einem Verstoß gegen die Forderungen der Tugend zu bewahren, legt mithin einen rigiden Tugendstolz an den Tag, der ihre Unfähigkeit erklärt, mit ihrer eigenen Fehlbarkeit umzugehen.
Es ist der alte Waitwell, der sie mit einfachen Worten aus ihren exzentrischen Raisonnements auf den Boden der Wirklichkeit zurückholt. Er macht sie auf die fruchtlose Egozentrik ihrer Selbstanklagen aufmerksam, die keinen Gedanken auf eine Wiedergutmachung der unentwegt thematisierten Schuld verschwenden (III, 3; LM II, 306), er spricht wie von ungefähr von »Leuten, die nichts ungerner, als Vergebung annehmen, und zwar, weil sie keine zu erzeigen gelernt haben«, und er macht ihr schließlich klar, dass man es auch im Guten übertreiben könne (III, 3; LM II, 307). Erst danach ist Sara bereit, den Brief zu Ende zu lesen und dem Vater zu antworten.
Hat sie von Waitwell gelernt, Vergebung anzunehmen, so doch nicht, Vergebung zu üben: Gegen ihre Rivalin, der sie wenig später begegnet, kennt sie keine Nachsicht. Auch nachdem sie ihre Geschichte kennengelernt hat (IV, 8; LM II, 330-333), verweigert sie ihr jedes Mitgefühl, verkennt auch die ›Ähnlichkeit‹, die sie in ihrem Traum gesehen hatte (s.o.), verbittet sich vielmehr, mit einer »verhärteten Buhlerin« (IV, 8; LM II, 335) auf eine Stufe gestellt zu werden (IV, 8; LM II, 336), und zieht mit dieser hochmütigen Geste die tödliche Rache der Marwood auf sich: Marwood vergiftet sie (IV, 9).
Erst als sie im Sterben liegt, wird sie der Vergebung fähig, zerreißt Marwoods Mordgeständnis und sagt, zu Mellefont gewandt: »Marwood wird ihrem Schicksale nicht entgehen; aber weder Sie, noch mein Vater sollen ihre Ankläger werden. Ich sterbe und vergeb‘ es der Hand, durch die mich Gott heimsucht« (V, 10; LM II, 349). Sterbend bittet sie ihren Vater, Mellefont als Sohn und Arabella als Tochter anzunehmen, und gedenkt zuletzt auch noch ihres armen Mädchens Betty, das ihr nichtsahnend das Gift der Marwood eingeflößt hat (V, 10; LM II, 349 f.).
Dass sie ihren Tod nicht als Bestrafung ihrer Fehler, sondern als Gnade deutet, lässt schließlich erkennen, dass sie sich auch mit ihrer eigenen Fehlbarkeit versöhnt hat: »Die bewährte Tugend muß Gott der Welt lange zum Beyspiele lassen, und nur die schwache Tugend, die allzu vielen Prüfungen vielleicht unterliegen würde, hebt er plötzlich aus den gefährlichen Schranken« (V, 10; LM II, 350).
Den Namen »Sara«, in der englischen Literatur des 18. Jahrhunderts häufiger gebraucht, könnte Lessing aus Richardsons Roman »Pamela« (1740) oder William Congreves Komödie »The Mourning Bride« (1697) entlehnt haben. Vgl. G. E. Lessing: Werke und Briefe in 12 Bänden, Bd. 3: »Werke 1754-1757«, hg. von Conrad Wiedemann unter Mitwirkung von Wilfried Barner und Jürgen Stenzel, Frankfurt a. M. 2003, S. 1262. – Zu den Namen in »Miss Sara Sampson« vgl. den Hinweis bei Sir William Sampson.