New York Times
Gesine Cresspahls tägliche Informationsquelle, deren wichtigste Meldungen in der Regel am Beginn jedes Tageseintrags notiert sind.
13-14 Gesine kauft die Zeitung wochentags auf dem Weg zur U-Bahn an einem Zeitungsstand auf dem Broadway, an der Südwestecke der 96. Straße. Der »alte Mann mit der speckigen Schirmmütze, der die Morgenschicht arbeitet«, kennt sie: »sie kommt an allen Arbeitstagen um zehn Minuten nach acht aus der sechsundneunzigsten Straße, sie bringt immer die passende Münze, sie versucht die Titelzeilen der New York Times zu lesen, wenn sie die Zeitung unter dem Gewicht hervorzupft. [...] Die Kundin kauft keine Zeitung als die New York Times.«
14 »Am Bahnsteig faltet sie das Blatt einmal und noch einmal längs, damit sie es im Gedränge durch die Ubahntür behält und in der Enge zwischen Ellbogen und Schultern die erste Seite des achtspaltigen Stabs von oben bis unten lesen kann. Wenn sie nach Europa fliegt, läßt sie den Nachbarn seine Exemplare aufheben, zurückgekehrt holt sie die versäumte new yorker Zeit Wochenenden lang nach aus fußhohen Stapeln. In der Mittagspause räumt sie ihren Arbeitstisch frei und liest in den Seiten hinter dem Titelblatt, die Ellenbogen gegen die Tischkante gestemmt, nach der europäischen Manier.«
15 »Sie behält das geknickte, flappige Blatt unter dem Arm bis hinter ihre Wohnungstür und liest beim Essen noch einmal die Berichte aus der Finanz; allerdings aus dienstlichen Gründen. Wenn sie an einem Tag am Strand die Zeitung verpaßt hat, hält sie abends ein Auge auf den Fußboden der Ubahn und auf alle Abfallkörbe unterwegs, auf der Suche nach einer weggeworfenen, angerissenen, bekleckerten New York Times vom Tage, als sei nur mit ihr der Tag zu beweisen. Sie ist mit der New York Times zu Gange und zu Hause wie mit einer Person, und das Gefühl beim Studium des großen grauen Konvoluts ist die Anwesenheit von Jemand, ein Gespräch mit Jemand, dem sie zuhört und antwortet mit der Höflichkeit, dem verhohlenen Zweifel, der verborgenen Grimasse, dem verzeihenden Lächeln und solchen Gesten, die sie heutzutage einer Tante erweisen würde, einer allgemeinen, nicht verwandten, ausgedachten: ihrem Begriff von einer Tante.«
38-39 »Was für eine Person stellt Gesine sich vor, wenn sie an die New York Times denkt wie an eine Tante? Eine ältere Person. Auf der Oberschule in Gneez wurden so Lehrerinnen bezeichnet, vorgeschrittenen Alters, humanistisch gebildet, die in gutem Willen den Lauf der Dinge mißbilligten, in Gesprächen unter vier Augen, wehrlos. [...] Jedoch die New York Times kommt Gesine vor wie eine Tante aus vornehmer Familie. [...] Sie erwartet Respekt so deutlich, fast lädt sie seine Verweigerung ein. Sie ist ein bißchen hartnäckig, fast aufdringlich, wenn sie sich von Jüngeren ausgeschlossen fühlt. Sie gönnt den jungen Leuten ihren Spaß, solange sie es ist, die den Spaß zumißt. [...] Die Tante raucht (Zigarillos), sie trinkt auch von den harten Sachen; sie versteht einen Witz, solange sie im festen Interesse der Allgemeinheit ihn unzulässig zu nennen nicht umhinkann. Sie geht mit der Zeit. Sie kann kochen, sie kann backen. Die Tante ist ledig geblieben, es deutet ihre Ansprüche an. Sie gibt Ratschläge in Ehefragen. [...] Sie ist modern. (In ihrer Familie hat Gesine eine solche Tante nicht.) Wir haben es hier mit einer Person zu tun, mit der man die Pferde stehlen gehen kann an allen Tagen, da die Gesetzgebung den Diebstahl der Pferde vorschreibt. Jedoch ist diese Person nicht nur angenehm.«
73-75 »Wir«, d. h. (mutmaßlich) Gesine und der ›Genosse Schriftsteller‹ empören sich über die Berichterstattung der New York Times über die Stalin-Tochter Swetlana Allilujewa und rekapitulieren bei dieser Gelegenheit die Gründe für ihr Vertrauen in diese Zeitung, blicken zunächst zurück auf ihre früheren Zeitungslektüren vom »Neuen Deutschland«, dem »Kettenhund der ostdeutschen Militärbasis«, über die »großbürgerliche Presse im Bereich des westdeutschen militärischen Stützpunkts« bis zur New York Times, »und wir waren gewiß: nie könnten wir eine ehrliche alte Tante wie die New York Times ganz und gar verachten«. Anfangs, 1961, hatte sie nur 5 Cent gekostet. »Für 5 Cent nicht nur abwechselnd bedrucktes Papier, sondern die begründete Erwartung, daß Nachrichten bei dieser Hausfrau nicht unter den Teppich gekehrt werden, daß schmutzige Wäsche ihr ein Anlaß zum Waschen ist [...]! Diese Person des Vertrauens, sie hat uns ausgerüstet mit Gründen für ein Leben in New York! [...] Wir haben uns an sie gewöhnt wie an eine Person, die im Haushalt einen Sitz hat, und nicht am Tisch des Gnadenbrots, und nicht auf einem Altenteil. [...] Wir sind des Umgangs mit der Tante Times bedürftig, wir geben die Ehrung des Alters drein. [...] Wir achten ihre Objektivität und lassen sie sich selbst bezeichnen als ›eine Zeitung von New York‹. Eine Umstandskrämerin, ja, eine Konfusionsrätin, nein.« – Die Gräfin Seydlitz hält Gesines Erwartungen an die Zeitung für naiv.
1191 Die New York Times: »das Tagebuch der Welt«.
Vgl. auch 176-177. 513-519. 608-612. 647-649. 1507-1509.
Vollständige Stellennachweise im Register des Jahrestage-Kommentars.