Schilo (Shiloh)

Nicht erst bei der Segnung Judas, so will es der Erzähler, sondern schon bei der Unterweisung Thamars spricht Jaakob von einer »Verheißungsfigur, die er Shiloh nannte« (V, 1556) und die unverkennbar Züge der jüdisch-christlichen Gestalt des Messias trägt. Der Erzähler präsentiert sie als Ergebnis von Jaakobs Gedankenarbeit: Jaakob habe »sich’s ausgesonnen« und bei der Namensgebung habe er seinen Ausgangspunkt von der gleichnamigen Stadt genommen, »einer ummauerten Ortschaft weiter nördlich im Lande«, in der man nach Kriegen und Beutezügen gerastet habe, »kein sonderlich heiliger Platz« also, aber ein »Ruhe- und Rastplatz«. Eben dies bedeute »Shiloh«: »Frieden meint es und frohes Eratmen nach blutiger Fehde und ist ein Segenslaut, tauglich als Eigenname so gut wie als Name des Platzes«. Deshalb »mochte auch Shiloh als Name dienen für einen Mann und Menschensohn, Friedreich geheißen, den Träger und Bringer des Friedens« (V, 1556).

In Jaakobs Vorstellung ist er der »Mann der Gewärtigung, den Menschen verheißen in frühesten und immer erneuerten Angelobungen und Fingerzeigen«: der »Friedensfürst« und »Gesalbte«, der »herrschen würde von Meer zu Meer und vom Fluß bis zum Ende der Welt, dem alle Könige sich beugen und alle Völker anhangen würden, der Held, der einst erweckt werden sollte aus erwähltem Samen, und dem der Stuhl seines Königreiches sollte bestätigt sein ewiglich« (V, 1557). Beim Erscheinen Shilohs, so kündet Jaakob der gebannt lauschenden Thamar, würden dereinst »in kosmischer Heilskatastrophe« zwei bis dahin feindliche Sterne mit »Donnergetös« ineinanderstürzen, der »Stern der Macht« und der »Stern des Rechts«, und sich zu einem einzigen Stern, dem »Stern des Friedens« vereinen. Das sei Shilohs Stern, der Stern »des Menschensohnes, des Sohnes der Erberwählung, der dem Samen des Weibes verheißen war, daß er solle der Schlange den Kopf zertreten« (V, 1557).

Es ist diese Weissagung, die Thamars Entschluss begründet, sich »in die Geschichte der Welt einzuschalten« (V, 1558), indem sie sich »mit ihrem Schoß in die Geschlechterreihe, die in die Zeiten führte zum Heil«, einschaltet: »Eine Vor-Mutter Shilohs wollte sie sein.« (V, 1559)

Bis zur Versammlung um den sterbenden Jaakob bleibt Thamar die einzige, die die Verheißung und den Namen des Verheißenen kennt. Bei der Segnung Judas (V, 1798-1800) hören die Kinder Israels den Namen zum ersten Mal: Jaakob spricht von einem großen König, von dem der Herrscherstab »nicht weichen, noch von ihm genommen sein [sollte], bis daß ›der Held‹ käme, bis daß Schilo erschiene«. Dieser König ist niemand anderes als Juda selbst und der Verheißene, Schilo, ein Sproß seines Stammes: »Von Juda sollte nicht die Gnade weichen, er sollte nicht sterben, sein Auge nicht auslaufen, ehe denn seine Größe übergroß würde, dadurch, daß er aus ihm käme, dem alle Völker anhangen würden, der Friedebringer, der Mann des Sternes.« (V, 1799)

Jaakob steigert seine Weissagung »zu hochgehender Poesie«, in der sich die Namen vermischen, »so daß niemand wußte, ob von Juda die Rede war oder von dem Verheißenen bei den Gesichten der Segensfülle und der Begnadung, in denen sich Jaakob erging«. Von Wein ist die Rede und Weinstöcken, an die »einer« sein Tier bindet, und das Bild vom Einzug dieses ›Einen‹ gerät zum Bild eines dionysischen Festes: »In seine Stadt ritt ›er‹ ein auf einem Esel und auf einem Füllen der lastbaren Eselin – da war nichts als trunkene Lust wie von rotem Weine bei seinem Anblick, und er selber war einem trunkenen Weingott gleich, der die Kelter tritt, hoch geschürzt und begeistert: das Weinblut netzte seinen Schurz und der rote Rebensaft sein Gewand. Schön war er, wie er watend trat und den Tanz der Kelter vollführte, – schön über alle Menschen: so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz ...« Das »Aufsehen in der Sterbeversammlung über die vollkommen neuen Enthüllungen und Anzeigen, die dieser Segen gebracht, über die Verkündigung Schilo's war außerordentlich und kaum zu bändigen« (V, 1800).

Die Schreibung des Namens wechselt von »Shiloh« (in »Thamar erlernt die Welt« und »Die Entschlossene«; V, 1550-1563) zu »Schilo« (in »Die Sterbeversammlung«; V, 1787-1806). – Über die Bedeutung des Wortes »schilo« (hebr. שילה) in Jakobs Segensspruch (Genesis 49,10) herrscht nach wie vor Unklarheit. Die Lutherbibel kennt »Silo« nur als den Namen des Ortes, an dem das erste Heiligtum der Israeliten errichtet wurde (vgl. Josua 18,1); in Jaakobs Segensspruch übersetzt sie »schilo« mit »der Held«. Zahlreiche – alte wie neuere – Übersetzungen haben »Herrscher« oder »der, dem er [der Herrscherstab] gehört«; viele lassen das Wort unübersetzt.

TM orientiert sich im Wesentlichen an Alfred Jeremias und an den »Sagen der Juden«. Jeremias stellt zunächst keine Beziehung zum Namen des Ortes her (dessen Identität mit Bethel er für wahrscheinlich hält; vgl. Jeremias I, 320, Anm. 1): In Jakobs Segensspruch sei »Šilo« ein »Motiv der Erlösererwartung, das trotz neuerer Hypothesen der Erklärung spottet« (Jeremias I, 345). In einem späteren Beitrag vertritt er dann die These, dass Jakob sich hier doch auf den Ort Silo beziehe (weshalb er den Nebensatz in Genesis 49,10 mit »[…] bis er kommt nach Siloh« übersetzt, vgl. Jeremias IV, 28) und die »ursprünglich geographische Bezeichnung« erst in davidisch-salomonischer Zeit »zu einem persönlichen Symbolwort umgedeutet worden sein [muß], das den kommenden messianischen König bezeichnete« (Jeremias IV, 76). – In den »Sagen der Juden« heißt es mit Bezug auf den Segensspruch lapidar: »Silo, das ist der König Messias; er wird kommen und wird die Zähne der Sternanbeter stumpf machen.« (Gorion III, 42) Auch die Verwechselbarkeit von Schilo und Juda in Jaakobs Rede (V, 1799 f.) mag durch einen Passus an derselben Stelle angeregt sein, der lautet: »Ein junger Löwe war Juda benannt, weil er kein Wesen fürchtete. Wer aber die Furcht nicht kennt, das ist der König Messias.« (Gorion III, 43)

TM arbeitet in Jaakobs Unterweisungen für Thamar wie auch in den Segensspruch für Juda Weissagungen und Wendungen aus anderen Büchern des Alten Testaments ein: das Bild vom Einritt des Königs in »seine Stadt« (V, 1800) nach Sacharja 9,9; seines Herrschaftsbereichs »von Meer zu Meer und vom Fluß bis zum Ende der Welt« (V, 1557) nach Sacharja 9,10 oder Psalm 72,8; seine Bezeichnung als ›Menschensohn‹ (V, 1557) nach Daniel 7,13 und als »Samen des Weibes«, der »der Schlange den Kopf zertreten« wird (V, 1557), nach Genesis 3,15; schließlich das (Genesis 49,11 ausführende) Bild des die Kelter tretenden Erlösers nach Offenbarung 19,15 oder Jesaja 63,2-3.

Die Phrase aus »Schneewittchen«, die in der Rede von Schilos Schönheit auftaucht (V, 1800), verdankt sich vielleicht, wie Berger vermutet, einem Hinweis bei Jeremias, der die Farben Schneewittchens in Zusammenhang mit einem Motiv aus dem ›Jerusalem Targum‹ zu Genesis 2,7 (Erschaffung Adams) bringt, in dem es heißt, Gott habe Adam rot, schwarz und weiß geschaffen (Jeremias I, 46, Anm. 3): »Wie in der jüdischen Sage Adam, so ist das geheimnisvolle Kind im Mondmotiv-Märchen [d.i. Schneewittchen] schwarz, weiß, rot« (Jeremias I, 674, Stichwort ›Geburt‹). Bergers Schlussfolgerung, dass schwarz, weiß, rot mithin die »Symbolfarben des Retters« seien (Berger 176), dürfte auf einem Missverständnis dieses Satzes beruhen (und/oder auf dessen assoziativer Verknüpfung mit dem in demselben Registereintrag genannten Motiv der »geheimnisvolle[n] Herkunft des Retters«): Weder Adam noch Schneewittchen sind ›Retter‹-Figuren. Freilich kann man nicht ausschließen, dass TM den Passus ähnlich missverständlich gelesen hat.

Ob Jaakobs Vision einer »kosmische[n] Heilskatastrophe«, die bei Shilohs Erscheinen eintreten soll (V, 1557), auf spezielle Vorbilder zurückgeht, muss dahingestellt bleiben. Die bekannten apokalyptischen Vorstellungen kennen das Motiv einer Vereinigung zweier Sterne nicht. Die Bezeichnung des daraus hervorgehenden neuen Sterns als »Stern des Friedens« (V, 1557) ist eine der landläufigen Bezeichnungen für den Stern von Bethlehem. Das legt die Vermutung nahe, dass es sich hier um eine Anspielung auf den Stern von Bethlehem nach Matthäus 2,2 in Verbindung mit der Weissagung des Bileam in Numeri 24,17 (»Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen«) handeln könnte. Unter den zahlreichen astronomischen Theorien, die zu dessen Erklärung entwickelt wurden, kommen die Konjunktionstheorien, die u.a. Johannes Kepler vertrat, dem von TM präsentierten Bild einer Vereinigung zweier Sterne am nächsten.

Letzte Änderung: 09.02.2015  |  Seitenanfang / Lexikon   |  pfeil Zurück