Thamar
Schwiegertochter Judas, Ehefrau seines ältesten Sohnes ’Er und, nach dessen Tod, seines zweiten Sohnes Onan, der ebenfalls stirbt. Da Juda sich weigert, ihr auch noch seinen dritten Sohn, Shelah, zum Mann zu geben, verführt sie ihren Schwiegervater, als Kedescha verkleidet, und wird Mutter von Zwillingen, deren erster, Perez, ein »überaus weidlicher Mann« und einer der Ahnherrn des Hauses David sein wird, des Hauses, aus dem Jesus hervorgehen wird (V, 1575).
Soweit die Fakten, wie sie auch in der Geschichte Thamars in Genesis 38 erzählt werden. Der bibelkritisch beschlagene Erzähler des Romans weiß mehr und gibt sich verwundert, dass die »Chronik« die »unentbehrliche Voraussetzung« dieser Geschichte nicht überliefert hat, das Motiv nämlich, das Thamars Handeln erklärt und das seinen Ursprung wiederum in dem von der »Chronik« ebenfalls unterschlagenen »Verhältnis Thamars zu Jaakob« hat (V, 1539). Jaakob nämlich unterweist das Mädchen in der rechten Gotteslehre und erzählt ihr die Geschichte seines Stammes. Vor allem aber spricht er ihr – als Einziger (erst auf dem Sterbelager wird er zu allen davon sprechen) – von Schilo, der »Verheißungsfigur«, die dereinst aus dem Stamm Israel hervorgehen und die Welt erretten wird (V, 1556). Hier liegt Thamars Motiv begründet: Sie will sich in die Geschichte des Stammes Israel »einschalten«, will sich »mit ihrem Schoß in die Geschlechterreihe, die in die Zeiten führte zum Heil«, einreihen: »Eine Vor-Mutter Shilohs wollte sie sein.« (V, 1559) Und da Juda, der, wie sie sich an fünf Fingern abzählen kann, den väterlichen Erstgeburtssegen empfangen wird, schon verheiratet ist, will sie seinen ältesten Sohn ’Er zum Mann haben und bewegt Jaakob dazu, sich in dieser Sache für sie bei Juda zu verwenden, was auch gelingt. Der Erzähler will sogar wissen, dass die Einrichtung der Leviratsehe, der »Schwagerehe« (V, 1566), ursprünglich eine Idee Thamars ist, die Jaakob auf ihr Betreiben zur »Satzung« erhebt, um durchzusetzen, dass Thamar nach ’Ers Tod Judas Zweitgeborenen Onan zum Mann bekommt (vgl. 1565 f.).
Die Entschlossenheit, mit der Thamar ihre »Einschaltung« in die Heilsgeschichte betreibt, wird aus ihrem besonderen Charakter erklärt. »Thamar war eine Sucherin.« Die Frage nach »Wahrheit und Heil«, die »Gottessorge« treibt sie um. Der »Wald-und-Wiesen-Naturdienst«, den sie als Tochter kanaanäischer »Klein-Ackerbürger« in einem Flecken nahe Hebron kennengelernt hat, reicht ihr nicht aus, »denn ihre Seele erriet, daß anderes, Überlegenes in der Welt war, und angestrengt spürte sie ihm nach« (V, 1551). Von den Eltern zu Jaakob geschickt, um ihm die von ihm gekauften Waren zu bringen, findet sie »erstmals ihren Weg zu ihm, aus plattem Anlaß, in Wahrheit aber geleitet von höherem Drange« (V, 1550), und sitzt fortan ein ums andere Mal zu seinen Füßen und lauscht seinen Geschichten »so gebannt und reglos, daß die silbernen Ohrringe zu seiten ihrer vertieften Wangen herniederhingen, ohne zu schaukeln« (V, 1551).
Dass Jaakob sich ihren Wünschen gegenüber so nachgiebig zeigt, hat damit zu tun, dass die »Andacht«, mit der sie ihm zuhört, ihr sein Herz »ganz erschloß und er sogar ein wenig verliebt in sie war« (V, 1538). Denn Thamars Wesen ist »aus Strenge und geistlicher Strebsamkeit […] und dem seelisch-körperlichen Geheimnis astartischer Anziehungskraft eigentümlich gemischt« (V, 1538). Sie ist »schön auf eine strenge und verbietende Art, also, daß sie über ihre eigene Schönheit erzürnt zu sein schien, und das mit Recht, denn etwas Behexendes war daran, was den Mannsbildern nicht Ruhe ließ, und gegen solche Unruhe eben hatte sie die Furchen zwischen ihre Brauen gepflanzt. Sie war groß und fast mager, [...] hatte bewundernswert schöne und eindringlich sprechende braune Augen, fast kreisrunde Nasenlöcher und einen stolzen Mund. Was Wunder, daß Jaakob angetan war« (V, 1550).
Juda ist auf den »astartische[n]« Charakter seiner Schwiegertochter weniger gut zu sprechen, lastet ihr nämlich den Tod seiner beiden Söhne an und nennt sie »eine Ischtar, die ihre Liebsten tötet! Eine Jünglingsfresserin ist das, von unersättlicher Gier!« (V, 1568) Dann aber, als sie ihm seine Vaterschaft nachweist, gesteht er ein: »›Sie ist gerechter denn ich!‹ und ging geneigt aus ihrer Mitte davon.« (V, 1575)
Zuletzt, als der sterbende Jaakob Juda den Erstgeburtssegen erteilt und von Schilo spricht, von dem bis dahin niemand gehört hat, steht Thamar vor dem Zelt: »Nur eine von allen war's, die ihn kannte und begierig auf ihn gewartet hatte. Unwillkürlich werfen wir einen Blick hinaus auf ihren Schattenriß – hoch aufgerichtet stand sie, in dunklem Stolz, wie Jaakob den Samen des Weibes verkündigte.« (V, 1799)
Thamar legt ihr Bekenntnis zu Israel und seinem Gott mit denselben Worten ab wie die Moabiterin Rut gegenüber ihrer Schwiegermutter Noomi (vgl. Rut 1,16): »Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.« (V, 1562) Das ist ein versteckter Hinweis auf die engen motivischen Verbindungen zwischen ihrer und Ruts Geschichte: Rut, die sich mit ähnlicher Entschlossenheit wie Thamar in die Geschichte des Stammes Israel »einschaltet«, indem sie Boas, einen Nachfahren des Thamar-Sohnes Perez, heiratet, bringt Obed zur Welt, den Vater Isais und Großvater König Davids (vgl. V, 1575 f. und Rut 4, 18-22).
Ihre Vorschläge zur Einrichtung der Leviratsehe (V, 1565 f.) formuliert Thamar in nahezu wörtlicher Übereinstimmung mit dem 5. Buch Mose (Deuteronomium 25, 5-10). Der Passus sei »antecipando der mosaischen Gesetzgebung entnommen«, lässt TM seine amerikanische Übersetzerin wissen, und verweist sie, die mit der Übersetzung des Ausdrucks »Barfüßer« Probleme hat, an die englische Fassung des Kapitels (Brief an Helen T. Lowe-Porter, 16.10.1942).
Das Gewand, mit dem Thamar sich als »Tempelmetze« (V, 1573) verkleidet, heißt »Ketônet paspasim, das Schleiergewand der Bestrickenden« (V, 1572). Die Übereinstimmung mit der Bezeichnung für Rahels Brautschleier (Ketônet passîm) dürfte auf Jeremias zurückgehen, der Thamars Schleier als »Ištar-Zeichen« deutet und die Ansicht vertritt, dass sowohl der Brautschleier als auch der »zur Ausstattung der kedeša« gehörige Schleier »ihrer Wurzel nach Ištar-Requisit« seien (Jeremias I, 327). An anderer Stelle, bei seinen Reflexionen über Mut-em-enets ›Geistes-‹ und ›Fleischesehre‹, benennt der Erzähler diese Doppelbedeutung des Schleiers expressis verbis: »im Stande der Brautschaft heben gewisse Gegensätze sich auf, der Schleier, dieses Zeichen der Liebesgöttin, ist das Zeichen der Keuschheit zugleich und ihres Opfers, das Zeichen der Nonne und auch der Buhldirne. Die Zeit und ihr Tempelgeist kannten die Geweihte und Makellose, die Kedescha, die eine ›Bestrickende‹ war, will sagen eine Hurerin auf der Straße. Ihrer war der Schleier; und ›makellos‹ waren diese Kadischtu, wie das Tier es ist, das eben seiner Makellosigkeit wegen zum Gottesopfer bestimmt ist im Feste« (V, 1088).
TM nannte das Thamar-Kapitel eine »große Novellen-Einlage« (Brief an Erich von Kahler, 31.12.1941) und »vielleicht das Sonderbarste und Besterzählte, was ich gemacht habe« (Brief an Erika Mann, 24.2.1942). Die Beziehung zwischen Thamar und Jaakob hat kein Vorbild, ist eigene Erfindung (vgl. auch Brief an Henry N. Carlebach, 26.9.1947).