Jaakob (Jaakow, Jaakow ben Jizchak, Jisrael, Israel)
Jaakob oder Jaakow ben Jizchak, »wie er schrieb, wenn er seinen Namen zu zeichnen hatte« (IV, 68), ist der Sohn Isaaks und Rebekkas, Zwillingsbruder Esaus, Ehemann von Lea und Rahel, Vater Josephs und seiner elf Brüder sowie der einzigen Tochter Dina.
Seine Geschichten werden im ersten Band des Romans (»Die Geschichten Jaakobs«) erzählt, stückweise und in achronologischer Folge. In chronologischer Folge nehmen sie ihren Anfang mit der Geschichte von der Erschleichung des väterlichen Segens, dem »richtigstellenden Betrug« (IV, 527), der dem zweitgeborenen Zwilling mit Hilfe der Mutter Rebekka den Erstgeburtssegen einbringt und den Bruder leer ausgehen lässt (vgl. IV, 201-214). Es folgen die Flucht vor Esaus Zorn nach Charran zum Onkel Laban (vgl. IV, 214-240) mit der schmählichen Demütigung durch Esaus Sohn Eliphas (vgl. IV, 132-140) und der anschließenden »Haupterhebung« im Traum von der Himmelsleiter an der Stätte Beth-el (vgl. IV, 140-145); die Ankunft bei Laban und erste Begegnung mit Rahel am Brunnen (vgl. IV, 223-235); die ersten sieben Jahre im Dienst Labans, die er um Rahel ableisten muss (vgl. IV, 264) und in denen Labans Wirtschaft dank Jaakobs segensreichem Wirken aufblüht (vgl. IV, 245-285); die Hochzeit, bei der Laban ihn betrügt und ihm zuerst Lea statt Rahel ins Brautgemach schickt (vgl. IV, 286-310); die zweiten sieben Dienstjahre, die er für die zweite Tochter dienen muss (vgl. IV, 314), und die anschließenden sechs vertragslosen Jahre, zusammen 13 Jahre, in denen ihm von Lea und den Mägden Silpa und Bilha zehn Söhne und eine Tochter geboren werden und an deren Ende schließlich nach langer Wartezeit, »im dreizehnten Ehejahr oder im zwanzigsten Charranjahr« (IV, 246), Rahels erstes Kind, Joseph, Jaakobs Liebling, zur Welt kommt (vgl. IV, 316-349); die letzten fünf Jahre bei Laban, in denen Jaakob seinen schon in den Jahren zuvor begründeten Reichtum durch den Vertrag über die gesprenkelten Schafe vergrößert (vgl. IV, 349-358); die Flucht des nun 55-Jährigen mit Frauen, Kindern, Mägden, Knechten und aller Habe vor den Söhnen Labans aus Charran nach Kanaan (vgl. IV, 358-376); der Kampf an einer Furt des Jabbok mit dem »eigentümlichen Mann«, der ihm den Namen »Israel« verleiht (IV, 95 f.); das tags darauf folgende Wiedersehen mit Esau nach 25 Jahren (IV, 145-151); die Niederlassung auf den Weidegründen vor Schekem (vgl. IV, 160-163), die vier Jahre später, nach dem mörderischen Überfall der älteren Lea-Söhne auf die Stadt, ihr unrühmliches Ende findet (vgl. IV, 152-184); die Flucht nach Hebron, auf der Rahel mit Benjamin niederkommt und stirbt (vgl. IV, 376-389), und schließlich Isaaks Tod und Begräbnis (vgl. IV, 185-188). – Der schmerzliche Verlust Josephs (vgl. IV, 630-662) wird im zweiten Band erzählt (»Der junge Joseph«), die Reise nach Ägypten und das Wiedersehen mit dem geliebten Sohn nach mehr als zwanzig Jahren (vgl. V, 1735-1745) im vierten Band (»Der Ernährer«). Mit Jaakobs Tod in Ägypten und seinem Begräbnis in Kanaan endet der Roman (V, 1787-1822).
Bei seinem ersten Auftritt im Roman am Brunnen im Hain Mamre (IV, 67-120) ist Jaakob 67 Jahre alt und erscheint – dank seiner langen Kleider und der »Scheingenauigkeit und phantastischen Klarheit« des Mondlichts« – von »majestätischer und fast übermenschlicher Größe«, die durch seine eindrucksvolle Haltung – er stützt sich auf einen langen Stab – unterstrichen wird. Sein Bart, »dünn, aber lang und breit«, schimmert silbern im Mondlicht. Er hat schmale Lippen, und die kleinen Augen sind »braun, blank, mit schlaffer, drüsenzarter Unterlidgegend, schon altersmüde eigentlich und nur seelisch geschärft« (IV, 68). Von seinem zwölf Jahre zurückliegenden »Reiseabenteuer« her (IV, 71), dem Kampf am Jabbok, hinkt er aus der Hüfte »wie ein Schmied« (V, 1555). Die »Würde, Gehaltenheit, Feierlichkeit« seiner Erscheinung spiegeln sein »Wesen, das sein selber als eines Adels und einer Auszeichnung bewußt« ist (IV, 50).
Zu diesem Zeitpunkt hat er schon längst eine den sesshaften Fürsten des Landes Kanaan vergleichbare Stellung, nicht nur wegen seines Reichtums, »sondern von Geistes wegen« (IV, 51). Als »›nabi‹, das ist ›Verkünder‹, als ein Wissender, Gotterfahrener und Hochgescheiter, als einer der geistigen Führergreise, auf die das Erbe des Chaldäers [d.i. Abrahams] gekommen war«, genießt er trotz seiner nomadischen Lebensweise hohes Ansehen und wird mit ausgesuchter Ehrerbietung behandelt (ebd.).
In Jaakob, dem »duftige[n] Gras«, und seinem Zwillingsbruder Esau, dem »stachlige[en] Gewächs« (IV, 146), kehrt das ›mythische Schema‹ (IV, 127) der konträren Brüder wieder, wie es in den Brüderpaaren Abel und Kain, Sem und Cham, Isaak und Ismael oder Osiris und Set vorgeprägt ist (vgl. IV, 135). Die einen sind die Üblen, die ›Roten‹, die von der Sonne verbrannten Jäger und Krieger, Söhne des Ackers und der unterweltlichen Wüste, die anderen die Sanften, die dem Mond verwandten Hirten, »die in Zelten wohnen und Viehzucht treiben« (IV, 18).
Jaakob war von Kind an »zeltfromm, sinnend und zag« (IV, 146), seine Seele »weich und schreckhaft«, Gewalt verabscheuend und vor ihr zitternd (IV, 133), weshalb der Name Israel, der ihm bei dem nächtlichen Kampf am Jabbok verliehen wurde und der soviel wie »Gott führt Krieg« bedeutet (IV, 95), seine rauflustigen Söhne Schimeon und Levi zu »heimlichem Lächeln« reizt (IV, 132). Tatsächlich bereitet ihm die »sanfte Furchtsamkeit seiner Seele« einige Male »Stunden der Demütigung, der Flucht, der blassen Angst«, die seiner »Neigung zum Erhabenen in Wort und Haltung« übel mitspielen (IV, 70). Dazu zählen insbesondere die schmachvolle Unterwerfung durch Esaus Sohn Eliphas und die Furcht vor dem Wiedersehen mit Esau (vgl. IV, 132-140 und IV, 145-151). Allerdings wird seiner schreckhaften Seele »gerade in solchen Lagen physischer Demütigung« regelmäßig eine »Haupterhebung« zuteil (IV, 140), eine »mächtig tröstende und neu bestätigende Offenbarung der Gnade«, die sie selbst »aus ihren ungedemütigten Tiefen erzeugt« (IV, 133). Gemeint sind der Traum von der Himmelsleiter, der auf die Demütigung durch Eliphas folgt, und der Kampf am Jabbok mit der Verleihung des Namens »Israel« unmittelbar vor dem beängstigenden Wiedersehen mit Esau (vgl. auch IV, 145).
Der ›zeltfromme‹ Sinn des »Mondhirten« (IV, 503 u.ö.) verbindet sich mit einem verschmitzten Geschäftssinn, dazu mit großem Züchtergeschick (vgl. IV, 281 f.). Beides begründet den Reichtum, den Jaakob in seinen Dienstjahren bei Laban nach und nach ansammelt. Den »Meisterstreich geistreicher Hirtenanschlägigkeit«, die »Geschichte mit den gesprenkelten Schafen« (IV, 353), bringt sein Lieblingssohn später mit den durchtriebenen Scherzen des kindlichen Hermes in Verbindung: Die Geschichte gehört (neben dem Segensbetrug und Rahels Diebstahl der väterlichen Teraphim) zu den drei »Stückchen«, die Joseph bei seiner ersten Begegnung mit Echnatôn erzählt zum Beweis, dass Hermes zwar bei den Seinen unbekannt ist, dass aber »der Geist des Gott-Schalks unter den Meinen immer zu Hause war und mir vertraut ist« (V, 1429).
Jaakobs »Abneigung gegen ein gegründet seßhaftes Dasein«, sein Leben »in jederzeit aufhebbarem Lager« (IV, 51), hat nicht nur mit seiner dem mythischen Schema der ungleichen Brüder folgenden Bestimmung zum Hirten, sondern auch damit zu tun, dass er »einem Gotte diente, dessen Wesen nicht Ruhe und wohnendes Behagen war, einem Gotte der Zukunftspläne, […] der eigentlich selbst […] erst im Werden und darum ein Gott der Beunruhigung war, ein Sorgengott, der gesucht sein wollte und für den man sich auf alle Fälle frei, beweglich und in Bereitschaft halten mußte« (IV, 52). Dem entspricht das »überlieferte Gepräge« von »Rastlosigkeit und Würde«, das »Siegel des Geistes«, das sich auf Jaakobs »hochgestirnter Greisenmiene« eingezeichnet hat: »Unkenntnis der Ruhe, Fragen, Horchen und Suchen, ein Werben um Gott, ein bitter zweifelvolles Sichmühen um das Wahre und Rechte, das Woher und Wohin, den eigenen Namen, das eigene Wesen, die eigentliche Meinung des Höchsten« (IV, 50).
Die Denkform, in der Jaakobs Nachsinnen über Gott sich vollzieht, ist die der »weitausgreifende[n] Ideenverbindung« (IV, 158 f.), eine Form assoziativen Denkens, das im gegenwärtigen Augenblick »Vergangenes und Verkündetes« erblickt, d.h. gegenwärtiges Geschehen als Wiederkehr vergangenen Geschehens oder als Vorausdeutung auf Künftiges, Verheißenes zu verstehen sucht (IV, 93). Wenn Jaakob etwa seinen ältesten Sohn Ruben nach dessen Fehltritt mit Bilha als Cham beschimpft, so ist das nicht einfach nur eine Anspielung auf den missratenen Sohn Noahs, sondern ein »furchtbares Aufgehen der Gegenwart im Vergangenen, das völlige Wiederinkrafttreten des einst Geschehenen, seine, des Jaakob, persönliche Einerleiheit mit Noah, dem belauschten, verhöhnten, von Sohneshand entehrten Vater« (IV, 94). Zu Jaakobs Zeit ist diese Denkform »sehr weit verbreitet«, betont der Erzähler, der »Reichtum an mythischen Ideenverbindungen« sei geradezu der Gradmesser für »geistige Würde und ›Bedeutung‹« (IV, 93).
Entsprechend stark ist der Ausdruck, den Jaakob seiner Erscheinung gibt, wenn er ins »Sinnen« verfällt: Es ist »der höchste Grad pathetisch vertiefter Abwesenheit – darunter tat er es nicht; wenn er sann, so mußte es auch ein rechtes und auf hundert Schritte anschauliches Sinnen sein, großartig und stark, so daß nicht allein jedem deutlich wurde, Jaakob sei in Sinnen versunken, sondern auch jeder überhaupt erst erfuhr, was das eigentlich sei, eine wahre Versonnenheit« (IV, 91 f.). Es ist eine Form »würdigste[r] Schauspielerei«, wie sie »Gefühlsmenschen« eigen ist, zu denen Jaakob zählt, denn »Ausdruck entspringt dem Geltungsbedürfnis des Gefühls, das unverschwiegen und ohne Hemmung hervortritt« und dessen Wirkung bei denen, die es sehen, eine »zu leichter Heiterkeit geneigte Ehrfurcht« ist (IV, 92).
Jaakobs Frömmigkeit geht einher mit einer radikalen, fast ängstlichen Abgrenzung von der Vielgötterei der benachbarten Völker und ihrer Kulte, darunter besonders von den Baalskulten der Kanaaniter und dem Totenkult der Ägypter. Seine geradezu idiosynkratische Abneigung gegen sie fußt ihrerseits im mythischen Schema der ungleichen Brüder, denn Kanaan und Ägypten gelten den Abrahamsleuten als Nachfahren des üblen Bruders Cham und seiner Söhne Kenaan und Mizraim.
Die Gefühlsbestimmtheit Jaakobs, diese »weiche Unbeherrschtheit« in Gefühlsdingen (IV, 84), ist ein wesentliches Movens der Geschichte von Joseph und seinen Brüdern. Denn mit Jaakobs abgöttischer Liebe zu Joseph, die – »in womöglich verstärkter Übertragung« (IV, 320) – die Fortsetzung seiner übermäßigen Liebe zu Rahel ist, »fing es an« (IV, 336). Die unverhohlene Bevorzugung des Lieblings und seiner Mutter und die Zurücksetzung Leas und ihrer Söhne ist der Keim des Bruderhasses. Dass beide, Rahel wie Joseph, ihm so früh genommen werden, ist nach Überzeugung des Erzählers eine göttliche Zurechtweisung der »Unenthaltsamkeit« (IV, 84) seiner Liebe. Es komme in dieser Liebe eine »Neigung zu Auserwählung und zügelloser Vorliebe« (IV, 318) zum Ausdruck, die eine anmaßende Nachahmung göttlicher »Erwählungslust« (V, 1136), ja mehr: eine wahrhafte »Abgötterei« sei (IV, 320). Mit ihr habe Jaakob die »Eifersucht Gottes« provoziert (IV, 319), und zwar, wie ausführlich begründet wird, eine »höchst persönliche Eifersucht auf die Gegenstände des abgöttischen Gefühls, in welchen es rächend getroffen wurde« (IV, 320).
Nach dem Verlust des geliebten Sohnes hadert Jaakob, Hiob vorwegnehmend, lange und hart mit seinem Unglück (vgl. IV, 630-654), bevor er begreift, dass Gott »meine Liebe zurechtgewiesen« hat (V, 1744). Er übt sich in Gehorsam, aber noch in hohem Alter besteht er darauf, dass es ein »Gehorsam des Handelns und der Beschlüsse« sei, das Herz dagegen dem Gehorsam nicht unterliege: »Er kann mir mein Herz nicht nehmen und seine Vorliebe, ohne, Er nähme mein Leben.« (Ebd.) Er gibt zwar seinen ursprünglichen Plan, Joseph gegen alle Regel die Erstgeburt »zuzuspielen« (IV, 415), auf, schlägt aber seinem Gott doch ein Schnippchen, indem er Josephs Söhne Ephraim und Menasse als seine Söhne annimmt und so den Liebling in »Väter-Rang«, d.h. in den Rang eines Erzvaters erhebt (V, 1745; V, 1782; vgl. Genesis 48,5).
Zur Charakterisierung der Figur vgl. auch die Schlagwörter tâm, Urim und Tummim, Weh-Froh-Mensch.