Vetter

Der Vetter ist »ein alter trefflicher Junggeselle«, der sich bei den »schweigsamen Bewohnern« des Hallighauses auf der »öden baumlosen Insel« eingemietet hat (II, 45-46), die er selbst als »Ländchen der Freiheit« (II, 46) bezeichnet. Der »kleine schmächtige Mann mit den tiefliegenden Augen und dem vollen weißen Haupthaar« ist ein »munterer alter Herr, dem man nicht anmerkte, vor welch’ tiefer Erregung oft diese freundlichen Augen Wache hielten« (II, 46). Die Einrichtung seines Wohnzimmers zeugt von einem großen Interesse an Literatur, Kunst und Musik. Neben Bildern von Claude Lorrain und Ryusdael findet sich auch eine Büste Beethovens. Außerdem hat er eine Bibliothek, die aus »Strandgut« (II, 48) besteht, d.h. aus Büchern, die eher zufällig zu ihm gekommen sind.

Bevor der Vetter sich auf die Insel zurückzog, lebte er in einer Stadt »in seinem eigenen Hause, das dicht neben der Stadt in einem baumreichen Garten gelegen war« (II, 62), und betrieb entomologische und botanische Studien. Vor allem aber war er damals ein großer »Geigenspieler« (II, 46), weigert sich aber seither zu spielen. Allerdings ist sich der Erzähler sicher, dass die nächtliche Musik, die sein Freund Aemil einmal gehört hat, auf den Vetter zurückgeht. Der Erzähler erinnert sich daran, den Vetter früher einmal spielen gehört zu haben: Das Spiel hat ihn derart beindruckt, dass er, selbst wenn er später die größten Virtuosen hörte, in erster Linie »eine traumhafte Sehnsucht nach jenem Spiel des Vetters« verspürte (II, 46). Aus der damaligen Zeit stammt auch der schwarze Geigenkasten des Vetters, den er mit dem Hinweis, man solle die Toten ruhen lassen, als »ein Särglein« (II, 49) beschreibt. Diese Geige hat er aus dem Nachlass eines florentinischen Musikers erstanden. Im Koffer standen Verse, die der Vetter ins Deutsche übertrug und die ihm so bekannt vorkamen,  dass er meinte, sie seien von ihm. In seinen Augen ruht in der Geige eine Kraft, die ihm zu seinem hervorragenden Spiel verhalf. Insgesamt ist er über die Jahre »zu einem für Durchschnittsmenschen ziemlich seltsamen Kauz« (II, 49) geworden, setzt darum auch die Geheimrätin in »Verwunderung« (II, 49). Sie kann nicht verstehen, dass sich ein gebildeter Mann wie er zurückgezogen hat.

Für diesen Rückzug werden in der Novelle zwei getrennte Erklärungen angeboten, die aus der Sicht des Lesers allerdings zusammenhängen. Wie der Vetter dem Erzähler selbst erklärt, hat er sich durch den Staat bedrängt gefühlt und sich darum mitsamt seiner »Bibliothek« und seinen »allerlei Sammlungen in diese Meereseinsamkeit« zurückgezogen, wo er vor der »verhaßten Maschine« des Staates, d.h. dessen Bürokratie, in seinen Augen seine Ruhe hat. Der Vetter will lieber den Naturgewalten als der Willkür der Regierenden ausgesetzt sein, die ihm als »aufgeblasene Hülsen« (II, 51) und »verruchte Figuren« (II, 50) erscheinen. Damit bringt er zum Ausdruck, dass er eine Überheblichkeit, die in einer höheren sozialen Stellung gründet, ablehnt. Er stellt sich damit auch gegen die Geheimrätin, weil deren Mann eine entsprechende Position innehatte.

Nach dem Tod des Vetters erbt der Erzähler allerdings unter anderem die handschriftlichen Aufzeichnungen des Vetters, die dieses Bild ergänzen helfen. Darin schildert der Vetter den Konzertabend im Haus von Evelines Eltern. Er hatte damals seit einigen Jahren die Geige nicht gespielt, offenbar, weil das Spiel in seinen Augen zu mitreißend und zu verführerisch ist. Am Abend, an dem er die Aufzeichnungen macht, nimmt er die Geige aber wieder hervor und will sie auf Bitten von Eveline auf dem Konzertabend spielen. Wie an der Einrichtung des Saals deutlich wird, wo neben den Bildern von den höchsten Beamten, die der Vater Evelines aufgehängt hat, auch Evelines Bilder von Goethe und Mozart hängen, prallen hier Kunst und Standesbewusstsein aufeinander. Es wird deutlich, dass der Vetter und Eveline ineinander verliebt sind, wobei der Vetter sie aber auch zu seiner »Muse« (II, 66) stilisiert. Da ihm eine wirklich Beziehung aussichtlos erscheint und Eveline auch »gescholten« (II, 66) wird, weist er Eveline zurück und bewahrt sich nur die idealisierte Vorstellung von ihr als Muse. Die wirkliche Liebe zu ihr wird damit auch der Kunst geopfert, was sich in der Beschreibung des Geigenkoffers als »Särglein« (II, 49) widerspiegelt.

Führt man beide Erklärungen nun ins Treffen, wird deutlich, dass der Erzähler seine ablehnende Haltung gegenüber dem Staat, der Bürokratie, dem Beamtentum und dem damit verbundenen Standesbewusstsein als Reaktion darauf entwickelt hat, dass ihm die Beziehung zwischen ihm und Eveline aufgrund eben dieses Standesbewusstseins nicht möglich erschien. Hieraus erklärt sich auch, warum das Gesicht des Vetters zunächst »vor Freude« (II, 59) strahlt, als er die Umarmung des Erzählers und Susannes beobachtet, meint er doch hier eine Überwindung der sozialen Zwänge zu sehen, die seine eigene Beziehung verhinderten. Auch seine Enttäuschung, als der Erzähler seine Gefühle verleugnet und der Vetter ihn »traurig« (II, 60) anschaut, hängt hiermit zusammen. Der Erzähler wiederholt das Verhalten des Vetters, kann sich selbst von den sozialen Normen nicht lösen. Wie dem Vetter hier deutlich wird, ist die eine gescheiterte Beziehung das Spiegelbild der anderen.