Emilia

Ehefrau des Schriftstellers Philipp. Die einstmals reiche Erbin hat ihr Vermögen im Krieg verloren und nur wertlose, unverkäufliche Immobilien übrig behalten. Sie leidet an der sozialen Deklassierung und an dem Verlust ihres ehemals sorglosen Daseins.

In ihrer Wohnung lebt sie mit zahlreichen Tieren, die »waren ihre Gefährten« und »Genossen der Einsamkeit«. Sie »kannten nur die gute Emilia, eine Emilia, die zu den Tieren wirklich gut war. Die böse wandte sich gegen die Menschen« (II, 31). Auch Philipp kennt diese böse Emilia, die er, wie sie weiß (II, 174), mit Stevensons Mr. Hyde vergleicht und die immer dann zum Vorschein kommt, wenn sie trinkt (II, 167).

Sie trinkt, um ihre Situation zu vergessen, all »die entwerteten Hypotheken, die enteigneten Rechte, die Reichsschatzanweisungen im Girosammeldepot, […] den unrentablen verfallenden Hausbesitz, die Bodenlasten, die unverkäuflichen Mauersteine, die Kettung an die Ämter, die Formulare, die gewährten und widerrufenden Stundungen, die Anwälte« (II, 35). Als sie am Morgen erwacht und Philipp nicht vorfindet, flieht sie, »dunkele süße Onanie« treibend (II, 35), vor dem Tag in »ein Stück innerer Nacht« (II, 33), in der zahllose Bruchstücke ihres vergangenen und gegenwärtigen Lebens durch ihr Bewusstsein ziehen (II, 33-38).

Durch ihre Geldnöte sieht sie sich »in die Schicht der Boheme versetzt«, die sie hasst (II, 88), deren Lokale sie aber »groteskerweise« gerne besucht. Dafür muss sie sich das Geld »auf die gehaßte Bohemetour«, durch das Versetzen ihrer letzten Habseligkeiten, besorgen. In Philipps (und wohl auch des Erzählers) Augen ist die Boheme längst tot (II, 88 f.).

Auch an diesem Tag macht sie sich auf den Weg durch die Stadt, um verschiedenen Händlern Reste ihres Besitzes zum Verkauf anzubieten (II, 42 f.). Dabei trifft sie Messalina, vor der sie sich wegen ihrer Armut schämt und deren Bemerkungen sie verletzen und einschüchtern (II, 53 f.).

Im Leihhaus versetzt sie silberne Fischbestecke für 18 Mark und wird von den Umstehenden um den Erlös beneidet. »Noch gehörte sie zur Elite der Schatten, noch war sie die Prinzessin im Lumpenpelz« (II, 91). Beim Altwarenhändler Unverlacht verkauft sie einen Gebetsteppich, ein Lieblingsstück von Philipp, den sie »strafen wollte, weil er kein Geld hatte« (II, 93).

Im Antiquitätenladen von Frau de Voss beobachtet sie Mr. Edwin, der sich zunächst für eine Rosenholzmadonna, die einmal Philipp gehört hat, und dann für die Tasse interessiert, die sie gerade verkaufen möchte. Als die Händlerin versucht, Emilia von den Preisverhandlungen mit Mr. Edwin auszuschließen, um ihr den Erlös zu verheimlichen, verlässt er peinlich berührt den Laden. Emilia belustigt der Vorgang. Der Versuchung, mit Mr. Edwin ins Gespräch zu kommen, um später Philipp damit zu verblüffen (II, 143), widersteht sie.

Beim Juwelier Schellack, der ihren »Großmutterschmuck« (II, 153) nicht kaufen will, trifft sie zufällig mit der Amerikanerin Kay zusammen, der sie, einer plötzlichen Anwandlung folgend, den von Schellack verschmähten Schmuck schenkt. »Für einen Augenblick wenigstens wollte sie frei sein. Sie wollte […] eine freie Tat tun, die von keinem Zwang und keiner Notwendigkeit bestimmt und mit keiner Absicht verbunden war« (II, 154 f.). Von dieser plötzlichen Freiheit berauscht, küsst sie Kay, die für sie (ganz ähnlich wie für Philipp) Freiheit und Weite verkörpert: »›herrlich, so schmeckt die Prärie‹« (II, 155). Kay schenkt Emilia ihren Hut. Beide »fühlten das wunderbare Glück, gegen Vernunft und Sitte zu rebellieren« (II, 155).

Später beobachtet Messalina die beiden Frauen in der Bar des Hotels, sie »tranken, lachten, sie umarmten und küßten sich« (II, 169). Als Mr. Edwin im Hotel auftaucht und Kay ihn um ein Autogramm bitten will, schlägt Emilias Stimmung um: »Ich verabscheue die Literaten, diese Schießbudenfiguren« (II, 170). Als Kay Mr. Edwin nachläuft, verschwindet Emilia und lässt Kays Hut zurück. »Er lag da wie eine erlittene Enttäuschung« (II, 171).

Hinter dem Hotel liest Emilia den herrenlosen Hund auf, der Heinz entlaufen ist, und kauft ihm am Stehausschank der alten Dirne eine Wurst. Sie trinkt mit der alten Dirne und wünscht sich, sie wäre davongelaufen, nachdem sie Kay den Schmuck umgehängt hatte: »wär’ ich gleich davongelaufen hätte ich mich heute wohl gefühlt« (II, 175). Sie bewundert die alte Dirne: »Wenn ich so alt bin wie sie, werde ich lange nicht so gut aussehen, […] ich werde auch keinen Stehausschank haben, ich werde mein Geld in ihrem Stehausschank gelassen haben, sie hat ihr Geld zusammengehalten, sie hat nie auf eigene Kosten getrunken, sie hat immer nur auf Kosten der Männer getrunken« (II, 175 f.).

Sie nimmt den kleinen Hund mit nach Hause. »Es war genug Essen für die Tiere in diesem Haus, wenn es auch für die Menschen nicht mehr reichte« (II, 211). Enttäuscht über Philipps Ausbleiben entschließt sie sich, zu Messalinas Party zu gehen, wohl wissend, dass sie dann »als Mr. Hyde nach Hause kommen« wird (II, 211).

Auf Messalinas Party trinkt sie »alles durcheinander. Sie baute den Mr. Hyde auf. Sie baute ihn böse und systematisch auf. Sie trank, um Messalina zu schädigen. Sie tanzte mit niemand. Sie ließ sich von niemand berühren. Sie war ein keuscher Süffel. [...] Was kümmerte sie die Gesellschaft. Sie war hergekommen, um zu trinken. Sie lebte für sich. Sie war die Kommerzienratserbin. Das war genug. Man hatte die Erbin bestohlen; die Menschen hatten das Erbe angetastet. Das genügte ihr. Das genügte ihr von den Menschen. Mehr brauchte sie über die Menschen nicht zu wissen.« Dann geht sie nach Hause. »Sie ging heim, um zu toben, heim um anzuklagen« (II, 217).