Lenz
Der Schriftsteller Lenz, der unter wiederkehrenden Angstzuständen und Wahrnehmungsstörungen leidet, begibt sich zur Genesung ins Elsass, nach Waldbach, wo er von Pfarrer Oberlin freundlich aufgenommen wird. Auf dem Weg durch das Gebirge erfassen ihn wechselnde Empfindungen, zuerst das lustvolle Gefühl, mit der Natur eins zu sein, dann eine »namenlose Angst« und das Gefühl, »als jage der Wahnsinn auf Rössern hinter ihm« (31).
Bei seiner Ankunft in Waldbach bessert sich sein Zustand durch die beruhigende Atmosphäre: »Endlich hörte er Stimmen, er sah Lichter, es wurde ihm leichter« (32). Auch sein Äußeres verändert sich vorteilhaft, während ihm bei der Ankunft »die blonden Locken […] um das bleiche Gesicht« hängen und es »ihm in den Augen und um den Mund« (32) zuckt, tut ihm die Gesellschaft gut: »man drängte sich teilnehmend um ihn, er war gleich zu Haus, sein blasses Kindergesicht, das jetzt lächelte, sein lebendiges Erzählen; er wurde ruhig« (32).
Auch insgesamt fühlt sich Lenz mit der Zeit besser: »jemehr er sich in das Leben hineinlebte, ward er ruhiger« (34), am wichtigsten ist für ihn dabei die Person Oberlins: »seine Worte, sein Gesicht taten ihm unendlich wohl« (39). Nur nachts kehren seine Anfälle zurück: »so lange Licht im Tal lag, war es ihm erträglich; gegen Abend befiel ihn eine sonderbare Angst« (31), gegen die er »hinaus in Freie« muss, wo ihm »das wenige, durch die Nacht zerstreute Licht« und die »grelle Wirkung des Wassers« (34) helfen.
Als Kaufmann, ein Freund von Lenz, ins Steintal kommt und ihn auffordert heimzukehren, reagiert er empfindlich: »Hier weg, weg! nach Haus? Toll werden dort? Du weißt, ich kann es nirgends aushalten, als da herum« (39). Bei dem Gespräch mit Kaufmann über Literatur ist Lenz allerdings »wieder in guter Stimmung« (36). Er widerspricht dem Idealismus, den Kaufmann vertritt, und plädiert stattdessen für eine möglichst realitätsnahe Darstellung der Welt in der Literatur: »Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen, unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen. Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins« (37). Das sei »in Shakespeare […], in den Volksliedern […] in Göthe manchmal« (37) verwirklicht, den Rest könne man »ins Feuer werfen« (37). Er selbst habe dies in seinen Stücken, »im ›Hofmeister‹ und den ›Soldaten‹« versucht, darin habe er »die prosaischsten Menschen unter der Sonne« (37) dargestellt.
Nach der Abreise Oberlins beschäftigt ihn die Erinnerung an Friederike, eine alte Liebe, in deren Anwesenheit er »immer ruhig« war (42). Umso mehr leidet er darunter, dass seine Erinnerung an sie verblasst: »Doch kann ich sie mir nicht mehr vorstellen, das Bild läuft mir fort, und dies martert mich« (42). Er steigert sich in den Wahn hinein, dass er sie aus Eifersucht ermordet habe: »ach sie ist todt! Lebt sie noch? […] Verfluchte Eifersucht, ich habe sie aufgeopfert […]. Ich bin ein Mörder« (43).
Lenz versucht auch, Trost und Ruhe in der Religion zu finden, wie es ihm Oberlin rät: »Oberlin sagte ihm, er möge sich zu Gott wenden« (44). Als er jedoch auf die fixe Idee verfällt, ein Mädchen, das in der benachbarten Ortschaft Fouday gestorben ist, wiederzubeleben, und dieser Versuch scheitert, ergreift ihn ein maßloser Zorn gegen Gott: »es war ihm, als könne er eine ungeheure Faust hinauf in den Himmel ballen und Gott herbei reißen und zwischen seinen Wolken schleifen« (42). Mit dem Glauben verliert er auch den Respekt vor der Natur: »der Himmel war ein dummes blaues Aug, und der Mond stand ganz lächerlich drin, einfältig. Lenz mußte laut lachen, und mit dem Lachen griff der Atheismus in ihn und faßte ihn ganz sicher und ruhig und fest« (43).
Dieser Atheismus beraubt ihn jeglicher Hoffnung, es folgt für ihn ein vollständiger Sinnverlust: »die Meisten beten aus Langeweile; die Andern verlieben sich aus Langeweile, die Dritten sind tugendhaft, die Vierten lasterhaft und ich gar nichts, gar nichts, ich mag mich nicht einmal umbringen« (44). Auch nach Oberlins Heimkehr bessert sich sein Zustand nur kurzfristig: »alles was er an Ruhe aus der Nähe Oberlins und aus der Stille des Tals geschöpft hatte, war weg« (46). Er neigt zu akustischen Halluzinationen, bei denen er sich einbildet, es »hätte eine fremde Stimme mit ihm gesprochen« (46), und die Anfälle werden häufiger: »Die Zufälle des Nachts steigerten sich auf’s Schrecklichste. […] Auch bei Tage bekam er diese Zufälle, sie waren dann noch schrecklicher« (47). Hinter seinen Selbstmordversuchen, die sich gegen Ende seines Aufenthaltes in Waldbach häufen, steckt weniger »der Wunsch des Todes, für ihn war ja keine Ruhe und Hoffnung im Tod«, als der »Versuch, sich zu sich selbst zu bringen durch physischen Schmerz« (47).
Schließlich hält Lenz selbst die grundlegendsten Gegebenheiten des Daseins nicht mehr aus: »er glaube gar nicht, daß er gehen könne, jetzt endlich empfände er die ungeheure Schwere der Luft. […] hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich die Stille heißt […] es läßt mich nicht schlafen« (48). Dies bringt ihn dazu, noch einmal einen ernsthaften Suizidversuch zu begehen: Oberlin hört »ihn die Stiege herauf in sein Zimmer gehen […]. Einen Augenblick darauf platzte etwas im Hof mit so starkem Schall, daß es Oberlin unmöglich von dem Falle eines Menschen herkommen zu können schien«.
Am nächsten Tag wird Lenz nach Straßburg gebracht, wo er sich resigniert mit seiner inneren Leere abfindet: »er tat Alles wie es die Andern taten, es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin« (49).
Als Vorbild für die Figur diente Büchner der Sturm und Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz, der sich vom 20. Januar bis zum 8. Februar 1778 wegen seiner psychischen Verfassung bei dem Pfarrer Johann Friedrich Oberlin in Waldersbach im Elsass aufhielt.