Gonzaga, Hettore
Der Prinz von Guastalla hat sich in Emilia verliebt und findet sich durch diese Liebe eigentümlich verändert: Statt »leicht«, »fröhlich« und »ausgelassen« wie sonst sei er nun »von allem das Gegentheil« und fühle sich moralisch gehoben: »Behäglicher oder nicht behäglicher: ich bin so besser« (I, 3; LM II, 381). Es ist sichtlich nicht nur die Schönheit, sondern auch die Tugend Emilias, nicht nur ihr »Liebreiz«, sondern auch ihre »Bescheidenheit« (I, 5; LM II, 385), die ihm Eindruck machen. Dieser Eindruck scheint ihn sogar seiner höfischen Lebenswelt ein Stück weit zu entfremden und der Denkwelt der Galottis anzunähern, denn er spricht von den Normen der höfischen Gesellschaft mit Worten, die aus Odoardos Mund kommen könnten (I, 6; LM II, 387 f.).
Die Veränderungen, die die neue Liebe in ihm bewirkt, hindern ihn freilich nicht an mancherlei Rücksichtslosigkeiten, die er um eben dieser neuen Liebe willen begeht: Seine Geliebte Orsina, deren er seit der Begegnung mit Emilia überdrüssig geworden ist, behandelt er nicht eben mit Zartgefühl. Seine Staatsgeschäfte versieht er zerstreut und mit einiger Willkür, gibt etwa einer anspruchsvollen Bittschrift statt, nur weil die Bittstellerin Emilia heißt (I, 1), oder will »recht gern« zwischen Tür und Angel ein Todesurteil unterzeichnen, nur weil er es eilig hat, dem Ziel seiner Wünsche näherzukommen (I, 8).
Als er erfährt, dass Emilia am Nachmittag mit dem Grafen Appiani verheiratet werden soll, gerät er in Verzweiflung und gibt seinem Kammerherrn Marinelli völlig freie Hand, um die Hochzeit zu verhindern. Mit diesem Schritt, zu dem ihn die heftige Erschütterung über die unliebsame Neuigkeit verleitet (I, 6; LM II, 390), macht er sich zum Gefangenen und, wenn auch wider Willen, zum Komplizen seines skrupellosen Kammerherrn.
Zwar hat er nur von Marinellis erstem, noch vergleichsweise harmlosem Schachzug Kenntnis, dem Gesandtschaftsauftrag für Appiani (I, 6; LM II, 391), und erfährt weder von dessen Misslingen noch von Marinellis neuem Plan, Appiani und Emilia auf dem Weg nach Sabionetta, in der Nähe des fürstlichen Lustschlosses Dosalo, überfallen zu lassen, geschweige denn von dem Mordplan gegen Appiani. Aber als Marinelli ihm post factum von dem inszenierten Überfall berichtet, ist sein Widerstand nur schwach und verwirrt (III, 1; LM II, 412), und nach der Nachricht von Appianis Tod (den Marinelli ihm zunächst verschweigt und dann als Folge unglücklicher Zufälle darstellt, vgl. IV, 1; LM II, 422), sieht er sich vollends in den Händen seines Kammerherrn.
Denn der macht ihm nun kühl klar, dass er vor Emilia, ihrer Mutter und vor der ganzen »Welt« im Verdacht steht, mit Appianis Tod zu tun zu haben (IV, 1; LM II, 423), und dass er dies nicht Marinelli, sondern allein sich selbst zu verdanken hat, weil er nämlich Emilia am Morgen in der Messe seine Liebe gestanden hat: »Da ich die Sache übernahm«, so Marinelli, »nicht wahr, da wußte Emilia von der Liebe des Prinzen noch nichts? Emiliens Mutter noch weniger. Wenn ich nun auf diesen Umstand baute? und der Prinz indeß den Grund meines Gebäudes untergrub?« (IV, 1; LM II, 424). Dass der Prinz seinerseits nichts von Marinellis skrupellosen Plänen ahnte, hilft ihm dabei nichts: Durch sein Liebesgeständnis ist Marinellis Kalkül, wonach der Überfall auf die Rechnung unbekannter Straßenräuber gehen sollte, in der Tat ruiniert.
Um so mehr Anlass hätte der Prinz, seine Absichten auf Emilia aufzugeben. Das aber ist nicht der Fall. Schon bei seinem nächsten Auftritt lässt er erkennen, dass sein anfängliches Entsetzen über Appianis Tod (IV, 1; LM II, 422) und die Sorge um seinen Ruf schon längst wieder seinem Liebesbegehren gewichen sind: Man sieht ihn hier ganz mit der Befürchtung beschäftigt, Odoardo könnte seine Tochter in ein Kloster stecken, statt sie, wie Marinelli erwartet, nach Guastalla zurückzubringen (V, 1; LM II, 439). Um das zu verhindern, bedient er sich erneut des intriganten Talents seines Kammerherrn und spielt dessen Spiel nun mit vollem Wissen mit (V, 5; LM II, 442-446), auch wenn Odoardos aufrechter Sinn ihn beeindruckt. Sein vielzitierter Wunsch – »O Galotti, wenn Sie mein Freund, mein Führer, mein Vater seyn wollten« (V, 5; LM II, 446) – durchbricht die Logik des intriganten Spiels.
Das tödliche Ende dieses Spiels bereitet dem Prinzen »Entsetzen!« (V, 8; LM II, 449). Ob es ihm den vollen Umfang seiner Schuld bewusst macht, steht dahin: Wenn er seinen Anteil an dem »Unglücke« der Galottis darin erblickt, dass auch »Fürsten Menschen sind«, d. h. fehlbar sind, deren (und damit sein eigenes) Unglück aber darin, dass »sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen« (ebd.), so spricht das dafür, dass er mit sich selbst eher Nachsicht übt. Die Frage, ob die Zuschauer ihm darin folgen (sollen), ist Gegenstand wiederkehrender Debatten.