Galotti, Odoardo
Der Vater Emilias vertritt Prinzipien der Tugend, Redlichkeit und Ehre mit äußerster Rigorosität. Den Grafen Appiani ausgenommen, den er vorbehaltlos schätzt (II, 4; LM II, 396), hegt er ein tiefes Misstrauen in die Moralfähigkeit seiner Umgebung, seiner Frau und seiner Tochter zumal, die er argwöhnisch überwacht (vgl. II, 2; LM II, 393 f.). Insbesondere gegen seine Frau Claudia hegt er einen »alten Argwohn«, seit sie sich mit ihrem Wunsch gegen ihn durchgesetzt hat, mit Emilia in der Residenzstadt zu leben, um ihr eine standesgemäße Erziehung zu ermöglichen (II, 4; LM II, 396 f.).
Er selbst lebt überwiegend auf seinem Landgut bei Sabionetta und meidet die höfische Gesellschaft, die er generalisierend, ohne Ansehen der Person, als Sündenpfuhl und Sammelpunkt von Schmeichlern und Kriechern betrachtet (ebd.). Den Prinzen von Guastalla hält er für einen »Wollüstling« und gerät sofort aus der Fassung, als er hört, dass der Prinz bei einer Abendgesellschaft mit Emilia gesprochen hat (II, 4; LM II, 398 f.).
Überhaupt gerät Odoardo schnell aus der Fassung: Seiner Einsicht zum Trotz, dass nichts »verächtlicher« sei »als ein brausender Jünglingskopf mit grauen Haaren« (V, 2; LM II, 439), läuft ihm doch des öfteren, zumal am Ende des Stücks, »der Zorn mit dem Verstande davon« (V, 4; LM II, 441).
Claudia erkennt in Odoardos Tugendrigorismus und stets wachem Misstrauen ein bedenkliches Maß an Menschenfeindlichkeit, wenn sie, ihrem ungestüm forteilenden Gatten nachblickend, seufzt: »Welch ein Mann! – o, der rauhen Tugend! – wenn anders sie diesen Namen verdienet. – Alles scheint ihr verdächtig, alles strafbar! – Oder, wenn das die Menschen kennen heißt: – wer sollte sich wünschen, sie zu kennen?« (II, 5; LM II, 398).
Auch wenn Odoardos Befürchtungen am Ende eintreffen, so erweisen sich doch die Annahmen, auf die er seine Befürchtungen stützt, sämtlich als falsch. Er ist überzeugt, dass der Prinz ihn hasst (II, 4; LM II, 397) und ein Auge auf seine Tochter zu dem einzigen Zweck geworfen hat, »um ihn zu beschimpfen« (II, 5; LM II, 398), ihn nämlich an dem Punkt zu treffen, »wo ich am tödlichsten zu verwunden bin«, in seiner Vaterehre: »Ein Wollüstling, der bewundert, begehrt. – Claudia! Claudia! Der bloße Gedanke setzt mich in Wut« (II, 4; LM II, 398). Tatsächlich aber schätzt ihn der Prinz: »Ein alter Degen; stolz und rau; sonst bieder und gut!« (I, 4; LM II, 383). Und tatsächlich hat die Zuneigung des Prinzen zu Emilia weniger mit Wollust als mit einer Bezauberung durch eben jene Tugendwerte zu tun, die Odoardo vertritt (vgl. Gonzaga).
Odoardos egozentrische Fehleinschätzung hat Folgen für sein Verhalten nach der Entführung: Er glaubt sich im Kampf mit einem persönlichen Feind, in dem es nicht vorrangig um Emilia, sondern um seine Ehre geht. Deshalb kann er weder die Zeichen der Wertschätzung, die der Prinz ihm gibt, wahrnehmen (V, 5) noch überhaupt dessen Perspektive und Absichten adäquat einschätzen. Dies und sein aufbrausendes Temperament, das einer nüchternen Beurteilung der Lage immer wieder im Wege steht (V, 2; V, 4), nehmen ihm jede Möglichkeit zu klugem Taktieren, ja, sie versperren ihm schon den Blick für die nächstliegende und einfachste Lösung.
Denn sein »Feind« will von ihm zunächst nur, dass er Emilia nach Guastalla zurückbringt: Er wird sich, so Marinellis Erwartung und Plan, »mit samt seiner Tochter, zu fernerer Gnade empfehlen, wird sie ruhig nach der Stadt bringen, und es in tiefster Unterwerfung erwarten, welchen weitern Antheil Euer Durchlaucht an seinem unglücklichen, lieben Mädchen zu nehmen geruhen wollen« (V, 5; LM II, 439). Odoardo aber will auf der Stelle mit dem Kopf durch die Wand und besteht darauf, sie in ein Kloster zu bringen (V, 5; LM II, 442). Damit provoziert er den letzten Schachzug der Gegenseite, dessen Marinelli eigentlich gar nicht zu bedürfen meinte, den er aber auf Drängen des Prinzen für genau diesen (vom Prinzen vorausgesehenen) Fall in Reserve hält (V, 1; LM II, 439): Die mit fadenscheinigen juristischen Argumenten begründete Trennung Emilias von den Eltern und ihre Verwahrung im Haus Grimaldi (V, 5; LM II, 443-445).
Dieser Schachzug setzt Odoardo vollends matt. Den letzten Ausweg, der sich nicht sagen, »nur denken läßt«, den Tochtermord, hat er schon im Kopf, als er sich ein Wiedersehen mit Emilia ausbittet. Was ihn dazu bringt, die Tochter tatsächlich zu töten, ist nicht eigentlich deren Eingeständnis, verführbar zu sein, auch nicht ihr eigener Todeswunsch. Es ist vielmehr abermals der Punkt, an dem er »am tödlichsten zu verwunden« ist, seine Vaterehre: Erst als Emilia ihn an diesem Punkt packt, indem sie das Beispiel eines Vaters (des Römers Virginius) beschwört, »der seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten den besten Stahl in das Herz senkte – ihr zum zweyten das Leben gab«, und beklagt, dass es solche Väter nicht mehr gebe, ersticht er sie, um sogleich entsetzt zurückzufahren: »Gott, was hab‘ ich gethan!« (V, 7; LM II, 449).
Mit diesem Satz (an dessen Ende kaum zufällig ein Ausrufezeichen, kein Fragezeichen steht) hat sein Verstand den auch hier wieder davongerannten Zorn eingeholt: Odoardo bekennt sich vor Gott, dessen bloßes Werkzeug zu sein er sich kurz zuvor eingeredet hatte (V, 6; LM II, 447), zu seiner Selbstverantwortung.