Galotti, Emilia
Die Tochter Odoardos und Claudias lebt mit der Mutter in der Residenzstadt, der geliebte Vater hält sich überwiegend auf seinem Landgut nahe Sabionetta auf. Emilia steht unmittelbar vor der Hochzeit mit dem Grafen Appiani, die Trauung soll am Nachmittag auf Odoardos Landgut stattfinden, wohin sie mit Appiani und ihrer Mutter gegen Mittag aufbrechen wird.
Am Morgen geht das tugendhafte Mädchen noch zur Morgenmesse, wo der in sie verliebte Prinz Hettore Gonzaga, der erst kurz zuvor von ihrer Hochzeit erfahren hat (I, 6), sie mit seinen Liebeswerbungen bedrängt. Von diesem Vorgang ist im Stück dreimal die Rede: Zuerst berichtet die zutiefst verstörte Emilia ihrer Mutter davon, die darin belanglose höfische Galanterien sieht und ihr rät, kein Wort darüber gegenüber Appiani verlauten zu lassen (II, 6). Dann spricht der Prinz zu Marinelli über die Begegnung und beschreibt Emilias Reaktion: »Stumm und niedergeschlagen und zitternd stand sie da; wie eine Verbrecherinn die ihr Todesurtheil höret. Ihre Angst steckte mich an, ich zitterte mit, und schloß mit einer Bitte um Vergebung« (III, 3; LM II, 414 f.). Letztere hat Emilia offenkundig überhört; sie hatte ihren »guten Engel« gebeten, sie »mit Taubheit zu schlagen« (II, 6; LM II, 399); auch die Wiederholung dieser Bitte (in III, 5) scheint sie nicht wahrzunehmen. Zum dritten schließlich gibt die Geliebte des Prinzen, Orsina, deren Kundschafter den Prinzen in der Kirche beobachtet haben (IV, 5; LM II, 432), dem entsetzten Odoardo Kenntnis von dieser Begegnung und stößt ihn auf den Zusammenhang mit der Entführung: »Des Morgens, sprach der Prinz Ihre Tochter in der Messe; des Nachmittags hat er sie auf seinem Lust – Lustschlosse« (IV, 6; LM II, 435).
Die Begegnung in der Kirche ist nicht die erste: Schon einige Wochen zuvor hatte Emilia den Prinzen bei einer Abendgesellschaft im Haus des Kanzlers Grimaldi kennengelernt (II, 4), und die Komplimente des Fürsten wie der reiche Glanz des Hauses hatten in ihr, wie sie am Ende des Stücks bekennt, einen inneren »Tumult« ausgelöst, den die »strengsten Uebungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten« (V, 7; LM II, 449).
Nach der Entführung zeigt sich eine ganz andere Emilia: Zwar ist sie anfänglich erneut ängstlich und unruhig (III, 4-5), dann aber zeigt sie eine erstaunliche Fassung und weiß den Prinzen auf Abstand zu halten. Ihre Mutter, die sie genau kennt, überrascht das nicht: »Sie ist die Furchtsamste und Entschlossenste unsers Geschlechts. Ihrer ersten Eindrücke nie mächtig; aber nach der geringsten Ueberlegung, in alles sich findend, auf alles gefaßt. Sie hält den Prinzen in einer Entfernung, sie spricht mit ihm in einem Tone –« (IV, 8; LM II, 437 f.). Von der »unumschränktesten Gewalt«, die der Prinz ihr über sich einräumt (III, 5; LM II, 417), macht sie freilich keinen Gebrauch.
Als sie schließlich erfährt, dass sie – vorgeblich bis zur Aufklärung des Überfalls – von ihren Eltern getrennt und in das Haus des Kanzlers Grimaldi gebracht werden soll, und dass auch ihr Vater keine Handhabe gegen diesen von Marinelli ausgeheckten Plan weiß, will sie sterben. Sie befürchtet, den Verführungen, die sie in dem glanzvollen »Haus der Freude« erwarten, nicht widerstehen zu können. Zwar weiß sie ihre Unschuld »über alle Gewalt erhaben«, nicht aber »über alle Verführung«, wie sie ihrem Vater mit den vielinterpretierten Worten bekennt: »Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch meine Sinne, sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut« (V, 7; LM II, 448 f.).
In der Überzeugung, nur mehr zwischen einem Tod in Unschuld und einem Leben in Schande wählen zu können, wählt sie den Tod, und da Odoardo ihr den Dolch, den er von Orsina erhalten hatte, wieder entwindet, reizt sie seine leicht entflammbare Vaterehre, die es schließlich über ihn vermag, sein Kind zu erstechen.