Lockenvitz, Dieter
Mitschüler von Gesine Cresspahl an der Fritz Reuter-Oberschule in Gneez. Sein Vater, städtischer Gartendirektor in Hinterpommern, ist in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gestorben; flieht mit seiner Mutter 1945 nach Gneez; neben der Schule Arbeit in einer Fahrradwerkstatt, später als Eilzusteller der Post. Fertigt Namenslisten von Opfern der Justiz in Mecklenburg seit 1945 an, die er 1951 anonym per Post verbreitet. Im Mai 1952 zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt.
1557-1558 Wie Gabriel Manfras und Pius Pagenkopf verliebt auch er sich unglücklich in Lise Wollenberg: »Lockenvitz, ein schüchterner, spillriger Brillenträger, ein Primus, sackte in vielen Fächern ab auf Drei, nachdem er sich Lise erklärt hatte.« – Trägt ein Foto von ihr in seinem Jackett, dort, »wo das Herz sitzt und arbeitet«.
1559 Lise Wollenberg schlägt ihn als Klassensprecher vor, zunächst sträubt er sich (»er war Flüchtling, er würde es bitter haben mit den Einheimischen«), lässt sich dann aber ihr zuliebe aufstellen und wird im dritten Wahlgang gewählt. Nach dem Verbot der Schülervertretungen wird er von den Mitgliedern der FDJ zum »Vorsitzenden unserer Klassengruppe« gewählt und muss unentwegt »Sitzungen mit der Zentralen Schulgruppenleitung (Z.S.G.L.)« absolvieren, während seine Mitschüler frei haben. – Trägt auch ein Passfoto von Gesine bei sich, das er sich von Lise Wollenberg besorgt haben muss.
1608 Er bemerkt nicht, dass Anita Gantlik in ihn verliebt ist. »Lockenvitz standen die weißen Haare zu Berge vor Zerstreutheit, vor drängender Nachdenkerei übersah er, daß dies Mädchen gern für eine Minute an seinem Tisch hätte sitzen mögen«.
1650-1651 Muss in Bettina Selbichs Gegenwartskundeunterricht »Erfreuliches vortragen [...] zum Niedergang des westdeutschen Wirtschaftssystems an mehr als zwei Millionen Arbeitslosen. Er wand sich, er versetzte die Füße, er versuchte sich am Kartenständer festzuhalten«. Die Lehrerin bemerkt nicht, »daß der Schüler Lockenvitz im Sprechen stolperte über das, was er beim Denken bewegte«.
1682 Wird im Schuljahr 1950/51 zum »neuen Sekretär für Organisation der Schulgruppe« in der Schulgruppenleitung der FDJ gewählt.
1701-1702 Bei der »Schach von Wuthenow«-Lektüre im Deutschunterricht von Mathias Weserich kritisiert Lockenvitz Fontane. Weserich »stiftet« ihm ein »apartes Wort«, das ihn bis übers Abitur auf Flügeln tragen solle: »der auktoriale Erzähler«.
1705-1707 Die »Arbeitsgemeinschaft Pagenkopf/Cresspahl« erlaubt seinem neuen Mitglied Dieter Lockenvitz, Weserich einer Prüfung zu unterziehen: Lockenvitz konfrontiert ihn mit einem Aufsatz aus der Zeitschrift ›Sinn und Form‹, in dem der »amtierende Fachmann für sozialistische Theorie in der Literatur« (d. i. Georg Lukács) Fontanes »Schach von Wuthenow« als »Werk des Zufalls« und die von Weserich so detailliert erarbeitete Sozialkritik als ›absichtslos‹ und ›unbewusst‹ bezeichnet. Weserich »hörte zu, den Mund viereckig geöffnet, als horche er einem Schmerz nach«. Es ist das Ende des guten Einvernehmens mit diesem Lehrer. Weserich bleibt der Schule eine Woche lang fern. »Der zurückkam, dem waren wir widerlich.« – »Lockenvitz war kleinlaut, geknickt.« Er bemüht sich, das Gespräch wieder in Gang zu bringen, aber Weserich wehrt ab. – Lockenwitz schreibt »zwanzig Seiten Aufsatz über ›Schach von Wuthenow‹, unberaten, unbefohlen, und schickte sie dem Deutschlehrer Weserich nach in die Ferien«. Er bekommt keine Antwort.
1721-1733 Gesine Cresspahl erzählt Marie auf deren Wunsch Näheres über Dieter Lockenvitz (»Nur was ich weiß.«): Im Frühjahr 1950 lädt ihn die »Arbeitsgemeinschaft der Jugendfreunde Pagenkopf und Cresspahl« ein, ihr Mitglied zu werden. »Aus Eigennutz. Von diesem lang aufgeschossenen, verhungerten Kerl wollten wir lernen wie er lateinisch denken konnte.« – Seine Herkunft: Der Vater, geboren in Dassow am See, war »Direktor der städtischen Gärten, Parks und Friedhofsbepflanzung« in einer größeren Stadt »im heutigen Volkspolen«, hielt sich von den Nazis fern, wurde nach dem Krieg trotzdem von den Sowjets interniert und starb im Lager. Seiner Mutter, die mit dem Elfjährigen 1945 nach Gneez kam, wurde die Rente abgesprochen. Sie verdient ihr Geld als Gartenarbeiterin. Dieter arbeitet in einer Fahrradwerkstatt und seit 1950 als »Eilzusteller der Deutschen Post für den Landkreis Gneez«, wofür Anita Gantlik ihm ihr schwedisches Fahrrad preiswert verkauft. Wohnte mit seiner Mutter zuerst in einem einzigen Zimmer am Friedhof beim Totengräber Budniak, seit 1949 in zwei Zimmern an der Molkerei.
»Ein empfindliches Kind.« – Der Sechzehnjährige hat Streit mit der Mutter, weil er »nach nächtlichem Herrenbesuch« das Bild des Vaters von der Wand nimmt und versteckt. – Der Sohn eines Biologen zerstört die Mär von den durch die Amerikaner abgeworfenen Kartoffelkäfern und hält zur Verwirrung der Lehrerin Bettina Selbich einen Exkurs über die ökologischen Gefahren der Bodenreform, bei der Knicks und Hecken zerstört werden, in denen Vögel nisten, die Kartoffelkäfer fressen. – Wird zu einem Lehrgang der FDJ in Dobbertin bei Goldberg delegiert, bei dem er sich mit den Leitern anlegt.
»Verbissen war er. In sich gekehrt.« – Nach Bekanntwerden eines Todesurteils gegen einen 18-jährigen Oberschüler in Dresden wegen »Boykotthetze« und dessen Rechtfertigung durch Walter Ulbricht im Januar 1951 gerät Lockenvitz zunehmend in einen Dissens mit dem politischen System der DDR.
1789-1805 Verschickt zum »ostdeutschen Staatsfeiertag am 7. Oktober 1951« an »ausgesuchte Haushalte« in Gneez und Jerichow seine ersten Briefe, die nach und nach eine »vorläufige Liste zur Justiz in Mecklenburg seit 1945« ergeben. Er wird schnell identifiziert und zu Beginn der Weihnachtsferien 1951 verhaftet. Auch Gesine Cresspahl, Anita Gantlik und Annette Dühr werden verhaftet und verhört. – Er hatte den Kontakt mit Gesine und Pius Pagenkopf im Frühjahr 1951 ohne Angabe von Gründen abgebrochen: »Er hatte sich ausgerechnet, daß man der Schülerin Cresspahl seit mindestens acht Monaten keinen Umgang mit ihm nachweisen könne; mit einem seiner Fehler.« – Sein Prozess findet am 15. Mai 1952 im Landgericht Gneez statt. Die Brille wurde ihm zerschlagen. »Nun wurde er hineingeführt mit nacktem Gesicht, tat blind, stolperte; hing auf dem Sünderstuhl, als gehe schon das über seine Kraft. Der mochte den Kopf horchend halten: einen Blick auf uns vermied er. Weil ihm die oberen Vorderzähne abhanden gekommen waren, Schwierigkeiten in der Lautbildung«. Er wird zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, seine Mutter wegen »aktiver Mitwisserschaft« zu zwei Jahren. – »Im September begann die Fortsetzung der unterbrochenen Korrespondenz.« – »Die Erinnerung an Lockenvitz bringt ein geringfügiges Flattern ins Denken; im Dunkeln aufgescheuchte Vögel. [...] Wir haben ihn im Stich gelassen, den Schüler Lockenvitz.«
1824 Gesine Cresspahls drei Reifeprüfungen: »Das erste Abitur, das war der letzte Besuch bei dem Schüler Lockenvitz gewesen, am 15. Mai 1952.«
Vgl. auch 1611. 1617. 1619. 1659. 1660. 1676. 1714. 1715. 1752. 1760. 1779. 1780. 1813. 1814. 1818. 1820. 1830. 1855. 1861.
Die Figur hat zahlreiche Merkmale (die äußere Erscheinung, die Herkunft aus Pommern u.a.) mit dem Autor gemeinsam; Einzelheiten im Jahrestage-Kommentar zu S. 1721-1733. – Nicht »Lockenvitz und Gollantz« (1682), sondern Sieboldt und Gollantz übergeben am Beginn des Schulfahres 1950/51 ihre FDJ-Ämter: Lockenvitz gehört zu Gesines Jahrgang und übernimmt bei dieser Gelegenheit überhaupt erst ein Amt.